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Für die Grenz‑ und Asylpolitik bleibt vorrangig wichtig, dass durch den Vertrag von Amsterdam der supranationale Politikmodus für die Bereiche Einwanderung, Asyl und Grenzkontrollen eingeführt wurde. Zwar blieb der Vergemeinschaftungsprozess unter Wahrung von Ausnahmeregeln zunächst unvollständig, was in Folgeverträgen jedoch korrigiert wurde (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 3).
Der Vertrag von Nizza (2001 unterzeichnet, 2003 in Kraft getreten) erweiterte das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf weitere Politikbereiche, sodass nach einer Übergangsphase von fünf Jahren erste Mehrheitsbeschlüsse in diesem sensiblen Politikfeld möglich wurden (Art. 67 Abs. 5 EGV-Nizza, Vertrag von Nizza v. 26.2.2001, ABl. Nr. C 321E/37 v. 29.12.2006 und Protokoll Nr 35 (zu Art 67), ABl. Nr. C321E/317 v. 29.12.2006). Daraufhin führte der Rat eine Brückenklausel ein, die mehr Politikfelder dem qualifizierten Mehrheitsabstimmungen unterwarf und das Europäische Parlament im Mitentscheidungsverfahren stärker in den Rechtsetzungsprozess einbezog.2
Der neu geschaffene europäische Raum brachte zudem neue sicherheitspolitische Herausforderungen mit sich: Beim Wegfall der Binnengrenzen braucht es mehr Kooperation in Polizei‑ und Justizangelegenheiten. Eine solche engere Kooperation wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehen (1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten), im Vertrag von Maastricht wurden erste Bereiche der Justiz- und Innenpolitik in die europäische Zusammenarbeit aufgenommen (1993) doch teilweise erst im Vertrag von Lissabon (2007 unterzeichnet, 2009 in Kraft getreten) in die Gemeinschaftspolitik verlegt.
Ein weiteres Folgeabkommen in diesem Sinne beschlossen die damals elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen wiederum als zwischenstaatliches Abkommen im Jahr 2005 über die grenzüberschreitende polizeiliche, strafrechtliche und justizielle Zusammenarbeit (Prümer Vertrag).3 Darunter fällt zuvorderst Informationsaustausch sowie die Zusammenarbeit zur Verhinderung von Straftaten im Bereich Terrorismus, Kriminalität und Migration im Schengenraum.
Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz‑ und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der später ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde.4
Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissabon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supranationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines integrierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV).
2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist
Im vorherigen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die Kooperation der ursprünglichen Schengenstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg den Beginn und die Notwendigkeit für die europäische Grenz‑ und Asylpolitik geschaffen hat.
Es ist bemerkenswert, dass die Verwirklichung eines zentralen Vertragsziels der Römischen Verträge – nämlich die Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit zu realisieren und durch die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen den Handel und Austausch zu erleichtern – zunächst im völkerrechtlichen Rahmen statt im Rechtsrahmen der Wirtschaftsgemeinschaft geschehen ist.
Im Folgenden wird genauer beleuchtet, wie das Schengener Abkommen entstanden ist, welche Implikationen es für die heutige Grenz‑ und Asylpolitik hat und weshalb Schengen aus integrationstheoretischer Perspektive als spill-over-Beispiel europäischer Integration gelten kann.
Besonders interessiert die Entstehung der sogenannten Dublin-Kriterien, die im Rahmen der Schengener Kooperation ausgearbeitet wurden und bis heute sowohl Anker als auch größter Streitpunkt der europäischen Asylpolitik sind.
2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten
Den Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Projekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzichteten.
Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevölkerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirtschaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schengenkooperation verfügte – mit der Ausnahme Luxemburgs – jeder Schengenstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den gesamten Schengenraum bedeutete.
Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeichnet. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Touristen, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengenraum zu bewegen.
Das Schengener AbkommenSchengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der außerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z.B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärterstaaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind.
Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/435/EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, während es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt.
Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum ergeben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließlich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zudem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informationssystem, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt.
Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständigkeitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wurden. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung vorausgehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitgliedstaat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war.
Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge anerkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitgliedstaat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständigkeit für ein Antragsverfahren.
Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schengenraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarktprojektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umgekehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen.
Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwischenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außengrenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen heterogenen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende.
Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese territoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine irreguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völkerrechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt.1
Aufgrund strenger Luftfahrtkontrollen im Gegensatz zu weniger stark kontrollierten (und kontrollierbaren) Land‑ und Seeaußengrenzen der Gemeinschaft, ergibt sich ein Schwerpunkt der irregulären Einreise in den ländlichen und maritimen Außenbereichen der Gemeinschaft. Das verpflichtet die Mitgliedstaaten mit Außengrenze zu strengen Kontrollen, weil sie mit der Sicherung ihrer Außengrenzen Verantwortung für das Funktionieren der Freizügigkeit und für die Sicherheit im Schengenraum tragen. Das Prinzip befördert also Strategien, die Asylzuwanderung zu verhindern oder zumindest zu minimieren, was in Konflikt steht mit den humanitären Prinzipien des Flüchtlinsgrechts (dazu mehr in Kapitel 4.1).
Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylgerichtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Verschiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151).
Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, weshalb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaften gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz verankert war.2 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort entsprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394).
Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf politisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verantwortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetzgebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten – und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861).
Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwenderstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn.3 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Vergleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flüchtlingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015).
Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu erreichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016).
Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Afghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportionalität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsystemen ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schweden) (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Europäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015).
Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nordeuropäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten.
Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden.
2.2.2 Schengen und Theorien europäischer Integration
Die Europäische Union ist als politisches System in ständiger Entwicklung begriffen. Darauf deuten unter anderem die regelmäßigen Vertragsrevisionen, die zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Kompetenzen in verschiedenen Politikfeldern und zur Feinkalibrierung institutioneller Beteiligung geführt haben.
Die ständige Entwicklung macht es schwierig, die europäische Gemeinschaft theoretisch eindeutig zu greifen. Es erklärt auch, warum es mittlerweile unzählige theoretische Ansätze zur europäischen Integration gibt (zur Einführung in die Theorien europäischer Integration: Rosamond 2000; Grimmel und Jakobeit 2009; Bieling und Lerch 2012).
Theorien europäischer Integration versuchen retrospektiv bestimmte Integrationsprozesse mithilfe ausgewählter Variablen zu erklären. Zugleich wollen sie eine Prognose über den zu erwartenden Verlauf der Integration liefern. Im Mittelpunkt der europäischen Integrationstheorien steht die Beantwortung der Frage, warum die Mitgliedstaaten bereit waren, nationale Souveränitätsrechte an die Gemeinschaft abzutreten – zu Beginn der Integration ebenso wie im Verlauf der Integration durch eine zunehmende Kompetenzverlagerung.
Die Grenzpolitik ist eines dieser sensiblen Politikfelder, weil sie mit der nationalen Souveränität in Verbindung steht, zu entscheiden, wer unter welchen Bedingungen den Boden eines Staates betreten darf. Verknüpft mit der Einwanderungspolitik betrifft sie die Komposition einer Gesellschaft und damit einen eindeutigen Kern nationaler Politik (Bürgerschaft). Asylpolitik ist ein weiteres Beispiel für ein stark in der Innenpolitik verankertes Politikfeld. Mit der Ausgestaltung des Asylsystems handelt eine Gesellschaft ihre Bereitschaft zu humanitärer Hilfe und Offenheit gegenüber Nichtbürgern aus.
In beiden Bereichen ist beobachtbar, wie der gemeinsame Markt – als ursprüngliches singuläres Integrationsziel – mit den damit verbundenen vier Grundfreiheiten sukzessive politischen Raum greift: Will man den Markt zu einem Markt zusammenwachsen lassen, so müssen die Grenzen innerhalb des Marktes durchlässiger werden, insbesondere um die Verwirklichung der Grundfreiheiten zu erreichen (Waren, Dienstleistungen, Kapital, Personen).
Es gibt nur eine Handvoll Integrationstheorien, die einen ganzheitlichen Ansatz bei der Erfassung europäischer Integrationsprozesse verfolgen und über Jahrzehnte hinweg rezipiert werden. Hier haben sich die als überholt geltende, aber immer noch einflussreiche Theorie des Neofunktionalismus aus den 1950er und 1960er Jahren durchgesetzt und als Kontrapunkt gewissermaßen die Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus, der seine Wurzeln in den 1980er Jahren hat. Die Entwicklung der Vergemeinschaftung von Grenz‑ und Asylpolitik soll aus beiden theoretischen Perspektiven kurz beleuchtet und erklärt werden.1
Die Theorie des Neofunktionalismus stammt aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die sich damit befasste, welche Art der Kooperation (wirtschaftlich, politisch) zur Friedenssicherung bzw. zunächst einmal zur Vertrauensbildung nach den Weltkriegen beitragen könnte (Deutsch 1954; Haas 1958; Mitrany 1944, 1965).
Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges formulierte David Mitrany Möglichkeiten zwischenstaatlicher Kooperation, was als Funktionalismus bezeichnet wurde (Mitrany 1944). Internationalisierungsprozesse förderten demnach die Herausbildung thematisch spezialisierter und suprastaatlicher Organisationen, wie am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deutlich wurde (Mitrany 1965: 119-149).
Ernst B. Haas entwickelte diese Theorie in Bezug auf die europäische Gemeinschaft unter dem Begriff des Neofunktionalismus weiter. Demnach machen Kompetenzverlagerungen von der nationalen auf die suprastaatliche Ebene Sinn, solange das supranationale Zentrum politische Aufgaben besser bewältigen kann als die einzelnen Nationalstaaten (Haas 1958: 238-317). Wirtschaftliche Kooperation wurde als unpolitisch erachtet und daher als besonders geeignet für pragmatische und unideologische Zusammenarbeit eingestuft. Aus der Notwendigkeit, die Ziele der Gemeinschaft in einem begrenzten Bereich zu erreichen, ergab sich in diesem Verständnis gewissermaßen automatisch die Kooperation in sensiblen politischen Bereichen (Haas 1958: 238-317). Dieses Konzept des funktionalen spill-over wurde von Leon Lindberg definiert als eine Situation, in der ein vorgesehenes (Vertrags-)Ziel nur erreicht werden kann, wenn bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, die wiederum die Notwendigkeit für weitere Maßnahmen schaffen (Lindberg 1963: 10). Anders formuliert: Aufgrund von Kooperation in einem Bereich A wird es notwendig in einem Bereich B zusammenzuarbeiten, um die Ziele in Bereich A zu erreichen.
Das Ausstrahlen der Kooperation in einem Politikfeld auf ein anderes, bzw. die Tatsache, dass Kooperation in einem Politikfeld zur notwendigen Zusammenarbeit in einem anderen Politikfeld führt, wird bis heute als spill-over-Prozess bezeichnet und ist ein zentraler Begriff in der Terminologie der Europaforschung.
In dieser Lesart zog die Zusammenarbeit an den Binnengrenzen bald die Kooperation an den Außengrenzen nach sich – jedenfalls die Klärung der Frage, wie damit umzugehen ist, dass das Überschreiten der Außengrenze eines Schengenstaates die Bewegungsfreiheit im gesamten Schengenraum impliziert, woraus unter anderem politische Fragen zur Koordinierung von Asylanträgen entstehen. Daraus wird ersichtlich: Sollen die Ziele eines gemeinsamen Marktes vollumfänglich erreicht werden, so berührt dies mittelfristig auch Politikbereiche wie die Innen‑ und Justizpolitik.
Was den Integrationsprozess im Schengenraum kennzeichnet ist der zunächst bilateral (deutsch-französisch) begonnene, von einer Handvoll Staaten (Benelux) unterstützte Vorstoß für ein Integrationsprojekt, der schließlich als Gemeinschaftsprojekt im Gemeinschaftsrecht verankert wurde.
Das Einwanderungs‑ und Asylrecht ist jedoch spätestens seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht mehr nur ein spill-over-Produkt des Gemeinsamen Marktes, sondern ein eigenständiges Politikfeld innerhalb des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Kay Hailbronner und Daniel Thym belegen diese Einschätzung damit, dass das Recht in diesem Bereich nicht mehr als „flankierende Maßnahmen“ bezeichnet wird (Hailbronner und Thym 2016a: 3-4, Rn 5). Dem kann hinzugefügt werden, dass die Gewährung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 3 Abs. 2 EUV-Lissabon als politisches Ziel verankert wurde, noch vor der Erwähnung des Binnenmarktes in Art. 3 Abs. 3 EUV-Lissabon. So emanzipierte sich der Politikkomplex Justiz und Inneres zunehmend als europäisches Politikfeld.
Einen alternativen Erklärungsansatz und einen Perspektivwechsel ermöglicht der Liberale Intergouvernementalismus. Die Theorie hat Andrew Moravcsik in den 1990er Jahren formuliert (1993: 473-524) und gilt als Fortentwicklung der Theorie des Intergouvernementalismus (Hoffmann 1968). Dieser Theorieansatz hat seine Wurzeln in den Wirtschaftswissenschaften und versucht mit Hilfe von rational-choice-Annahmen, Entscheidungen sowie Strukturen und Entwicklungen im europäischen Integrationsprozess zu erläutern (Craig 2011: 17). Übergreifende Theorieschulen in den Internationalen Beziehungen sind der Realismus der Nachkriegszeit und der Neorealismus der 1980er Jahre; gelegentlich wird der Intergouvernementalismus auch als Konföderalismus oder Pluralismus bezeichnet (Peters 2001: 199 mwN).
Im Intergouvernementalismus wird streng zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen System unterschieden, eine Verflechtung der Ebenen oder die Charakterisierung der Europäischen Union als politisches System mit staatsähnlichen Strukturen wird nicht anerkannt (Peters 2001: 199). In diesem Verständnis wird die Vertragsgemeinschaft als Staatenverbund gesehen; eine internationale Organisation die von ihren Mitgliedstaaten und deren politischer Legitimation abhängig bleibt (Kirchhof 2012: 876ff., Rn 43ff.). Diese Charakterisierung der Europäischen Union ist durch die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt worden: