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Anmerkung: Beitritt zum Abkommen bzw. Ratifikation ist nicht gleichbedeutend mit Wegfall der Grenzkontrollen. Oft braucht es drei bis fünf Jahre, bis die Grenzkontrollen faktisch wirklich abgeschafft sind. Im Sonderfall Zypern steht dies aufgrund des Konflikts mit der Türkei noch aus.
Welche Effekte ergaben sich aus der Schengenpolitik für die Innen- und Justizpolitik der EU?
Aus dem Wegfall der GrenzkontrollenGrenzkontrollen zwischen Schengenstaaten ergab sich die Notwendigkeit, über Kontrollen an den Außengrenzen ins politische Gespräch zu kommen und Vereinbarungen für Aufenthalte im europäischen Raum zu kommen. Das gilt für Kurzaufenthalte (Visumtitel) ebenso wie für Asylschutz und langfristige Aufenthaltstitel.
Wer zählt heute zum Schengen-Raum? Wer partizipiert außerdem an der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik?
Die Mehrheit der EU-Staaten sind auch Schengen-Vertragsstaaten. Lediglich Irland nimmt ausdrücklich nicht am SchengenraumSchengenraum teil. Hingegen gibt es einige Nicht-EU-Staaten, die dennoch am Schengenraum partizipieren. Das sind die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz. Eine Ausnahmesituation ergibt sich für Andorra, Monaco, San Marino und Vatikanstadt. Diese Staaten pflegen sehr enge Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten, unterhalten daher auch keine Grenzkontrollen, sind jedoch keine Schengenstaaten. Das bedeutet, dass sie kein Visum für den Schengenraum erteilen können und keinen Zugriff auf das Schengener Informationssystem haben. Einen Sonderstatus haben die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Hier ist der kleine Grenzverkehr mit Marokko grenzfrei, während Marokkaner ansonsten regulär ein Visum beantragen müssen. Auch der Fährverkehr nach Gibraltar wird kontrolliert.
Welche Vorteile sind mit dem Schengen-Raum verbunden?
GrenzkontrollenGrenzkontrollen sorgen sehr oft für Verzögerungen beim Grenzübertritt. Zudem verdeutlichen Kontrollen, dass es Grenzen gibt. Fallen diese weg, wird ein gemeinsamer Raum erst erfahrbar. Ein praktischer Nebeneffekt ist auch für den grenzüberschreitenden Handel, dass dieser effizienter und damit kostengünstiger abgewickelt werden kann. Durch den Wegfall der Grenzkontrollen fallen Hürden im Austausch weg, das gilt auf persönlicher wie wirtschaftlicher Ebene.
Wer profitiert besonders von Schengen?
Exporte wie Importe werden günstiger und effizienter, dies kann zu mehr Handelsaustausch und günstigeren Verbraucherpreisen führen. Für Schengenraumstaaten ohne Außengrenze fungieren die übrigen Schengenstaaten wie eine Pufferzone zu den Außengrenzen. Im aktuell gültigen Schengenrecht bedeutet es auch, dass weniger Asylsuchende die landumschlossenen Schengenstaaten erreichen.
Für UnionsbürgerUnionsbürger bedeutet Schengen in erster Linie, dass sie an der Grenze zu Nachbarstaaten nicht mehr kontrolliert werden. Die politische Diskussion um den SchengenraumSchengenraum dreht sich hingegen hauptsächlich um flankierende Maßnahmen, die den Verlust der Kontrollen an den Binnengrenzen und den faktischen gemeinsamen Außengrenzen kompensieren (Thym 2016: 33, Rn 3). Diese flankierenden Maßnahmen betreffen die Bereiche Visa, Polizeikooperation, Kriminalität und Einwanderung.
Wer verfügt über einen Sonderstatus im Schengenraum?
Wer nun der Europäischen Union beitritt, kann sich dem Schengenraum nicht entziehen. Seit dem Vertrag von AmsterdamVertrag von Amsterdam (1999) ist das Schengenrecht in Unionsrecht integriert, was neue Beitrittsländer zur Teilnahme am Schengenraum verpflichtet. Irland hat für sich einen Ausnahmestatus durchgesetzt. 26 Staaten sind Vollanwender-Staaten, d.h. die Schengenbestimmungen werden vollständig angewendet. Bulgarien, Kroatien und Rumänien erteilen bisher noch keine einheitlichen Schengen-Visa und führen teilweise noch Personenkontrollen an Binnengrenzen durch. Die Anwendung der Schengen-Bestimmungen in Zypern hängen noch von der Beilegung des Zypern-Konfliktes ab.
Was ist der rechtliche Status des Schengen-Besitzstandes?
Mit dem Vertrag von Amsterdam ist der bis dahin entwickelte Schengener Besitzstand mit dem Schengener Abkommen, Durchführungsübereinkommen, Dublin Übereinkommen und Visakodex durch ein Protokoll in Gemeinschaftsrecht überführt worden. Irland und Dänemark erwirkten für sich Sonderregelungen. Während sich Irland dem SchengenraumSchengenraum komplett entzieht, hat Dänemark eine Sonderposition ausgehandelt, wonach Dänemark über jeden einzelnen durch den Rat beschlossenen Schengen-Rechtsakt entscheidet, ob es diesen in nationales Recht umsetzt.
Aufgrund der komplexen Komposition des Schengenraumes handelt es sich um eine Form der verstärkten ZusammenarbeitVerstärkte Zusammenarbeit, die zwar formal alle Mitgliedstaaten umfasst, gleichzeitig jedoch de jure und damit auch de facto Ausnahmeregelungen zulässt, die für einen uneinheitlichen gemeinsamen Raum sorgen (Thym 2016: 32, Rn 2).
Viele zunächst zwischenstaatlich beschlossene Regeln wurden inzwischen durch europäische Rechtsinstrumente ersetzt, was zeigt, dass das Schengenrecht reguläres Unionsrecht geworden ist (Thym 2016: 32, Rn 2). Zu den wichtigsten Rechtsinstrumenten zählen in Folge des Amsterdamer Vertrags der Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/2006 v. 15.3.2006, ABl. Nr. L 105/1, inzwischen Verordnung (EU) 2016/299 v. 9.3.2016, ABl. Nr. L 77/1 v. 23.3.2016, letzte Änderung v. 11.6.2019) und der Visakodex (Verordnung (EG) Nr. 810/2009 v. 13.7.2009, ABl. Nr. L 243/1 v. 15.9.2009, letzte Änderung v. 12.4.2016).
Welche Rolle spielt Sicherheit im Schengenraum?
Die ursprünglich von den Gründerstaaten für eine Handvoll Schengenstaaten eingeführten flankierenden MaßnahmenFlankierende Maßnahmen im Bereich Visa, Einwanderung, Asyl und Grenzschutz sind inzwischen zum Rückgrat der Zusamenarbeit im Bereich europäischer Justiz‑ und Innenpolitik geworden (Thym 2016: 33, Rn 3).
In der Literatur wird dieser Prozess als VersicherheitlichungVersicherheitlichung beschrieben und kritisiert, weil die Innenminister die Politikgestaltung in diesem Bereich stark geprägt haben mit ihrem Fokus auf Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung (dazu ursprünglich Guiraudon 2000; rezipiert von Parkes 2010; Kaunert und Léonard 2012). Daniel Thym wendet ein, dass die Justiz‑ und Innenpolitik im Zuge der schrittweisen Überführung des Politikbereichs in einen Entscheidungsmodus, der die qualifizierte Mehrheit und die Beteiligung des Parlaments erfordert, weniger stark von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist (Thym 2016: 33, Rn 3).
Spätestens im Zuge der Terroranschläge von Paris im Januar und November 2015 ist die Sicherheitsthematik wieder stärker in den Vordergrund der Schengenpolitik gerückt. Frankreich führte mit Verweis auf die Terrorgefahr wieder Grenzkontrollen ein. Im Zuge der MigrationskriseMigrationskrise von 2015/2016 führten zudem Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen wieder Grenzkontrollen mit Verweis auf die nationale SicherheitNationale Sicherheit ein.
Gemäß Schengenrecht ist die Wiedereinführung von GrenzkontrollenGrenzkontrollen rechtmäßig, sofern diese „unter außergewöhnlichen Umständen“ durchgeführt und „für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung“ (VO (EU) 2016/399, Art. 25 Abs. 1) beschränkt sind. Sollte eine Bedrohungslage länger andauern, so können die Grenzkontrollen jeweils um 30 Tage verlängert werden. Der Gesamtzeitraum, in dem Kontrollen an Binnengrenzen durchgeführt werden, sollte jedoch zwei Jahre nicht überschreiten (Art. 25 Abs. 4 VO (EU) 2016/399). In Deutschland, Frankreich, Schweden und Dänemark dauern punktuelle Grenzkontrollen jedoch bereits seit 2015/2016 an.
3.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen ist die Außengrenzsicherung für alle am Schengenraum teilnehmenden Staaten zu einem Thema gemeinsamen Interesses geworden. Notwendigerweise braucht es Übereinkünfte dazu, wie die Grenzsicherung aussehen soll.
Die strategische Planung in diesem Politikbereich obliegt dem Europäischen Rat und damit den Staats- und Regierungschefs, nicht der Europäischen Kommission (Art. 68 AEUV). Diese Strategien wurden in Mehrjahresprogrammen von den Staats‑ und Regierungschefs festgehalten (ausführlich: Dreyer-Plum 2017: 172-184).
Das erste Strategiepapier: Programm von Tampere (1999)
Das erste Programm dieser Art war das Programm von TampereProgramm von Tampere (Europäischer Rat 1999). Dieses Strategieprogramm erarbeiten die Staats‑ und Regierungschefs im Europäischen Rat in Folge des Amsterdamer Vertrags, dem ersten Vertrag der gemeinschaftliche Politikziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorsah (Art. 61 EGV-Amsterdam). Das Programm von Tampere enthielt innen‑ und justizpolitische Ziele für den Zeitraum 2000 bis 2004.
Dem Freiheitsgut der UnionsbürgerUnionsbürger wurde hohe Priorität eingeräumt. Das Freiheitsprinzip sollte nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs Grundlage für die gesamte Innen‑ und Justizpolitik sein. Freiheit ist nicht selbstverständlich und gilt in der Gemeinschaft als hohes politisches Gut:
„Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen. Dies erfordert wiederum, daß die Union gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitiken entwickelt und dabei der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der Außengrenzen zur Beendung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung derjenigen, die diese organisieren und damit zusammenhängende Delikte im Bereich der internationalen Kriminalität begehen, Rechnung trägt.“ (Programm von Tampere, Einleitung)
Hier wird die enge Verwebung von Einreise und Asyl, Kriminalität und Migration vor dem Hintergrund der Grenzsicherung deutlich. Mit konkretem Bezug zur Grenzpolitik wurden drei Prioritäten formuliert:
1 Partnerschaft mit Herkunftsländern von Asylsuchenden und Migranten; bessere Bedingungen in Heimatstaaten schaffen, um Einwanderung zu reduzieren (§§ 11-12).
2 Gemeinsames Europäisches AsylsystemGemeinsames Europäisches Asylsystem schaffen: Anwendung Genfer Flüchtlingskonvention durch Anerkennung Nichtzurückweisungsprinzip, außerdem gemeinsame Standards bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen; gleiche Kriterien bei der Entscheidung über Asylanträge (§§ 13-17).
3 Migrationsströme effizient steuern: Informationskampagnen in Transit‑ und HerkunftsstaatenHerkunftsstaaten durchführen, Kriminalität in der Migration bekämpfen (Schlepper, die aus der Not der Asylsuchenden Profit schlagen); Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten (§§ 22-27).
Es folgte das Haager ProgrammHaager Programm aus dem Jahr 2004, das für den Zeitraum 2005 bis 2009 ausgearbeitet wurde.
Programm von Den Haag (2004): Sicherheit und Grundrechtschutz
Einige politische Ziele des Programms von Tampere waren bereits erreicht: die Dublin-Verordnung, die Aufnahme‑ und Anerkennungsrichtlinie waren verabschiedet worden, drei wesentliche Elemente des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit wurden erste Ziele des Amsterdamer Vertrags und des Programms von Tampere verwirklicht. Auch bei der Harmonisierung der Grenzkontrollen stellte der Europäische Rat Fortschritte fest.
Entworfen wurde das Haager Programm unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge auf Madrid im März 2004, ebenso wie der Terroranschläge auf die USA im Jahr 2001. Es überrascht daher wenig, dass das Haager Programm stärker noch als das Programm von Tampere von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist. Dennoch war den Staats‑ und Regierungschefs wichtig, dass Freiheit das wichtigste und dominante Prinzip im Raum ohne Binnengrenzen bleibt und entsprechend weiter ausgebaut würde. Das Haager Programm war mit seiner Verabschiedung Ende 2004 auf das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ausgerichtet (der jedoch in Frankreich und in den Niederlanden in nationalen Referenden scheiterte und nicht in Kraft trat). Die Organe und die Gemeinschaft sollten auf die Grundrechtecharta vorbereitet werden, die mit dem Verfassungsvertrag bindend werden sollte.
Der Europäische Rat erwog eine stärkere und wirkungsvolle Verzahnung von Visaantragsverfahren, Einreise‑ und Ausreiseverfahren beim Überschreiten der Außengrenzen (Europäischer Rat 2004).
In Bezug auf GrenzkontrollenGrenzkontrollen forderte der Europäische Rat, dass Informationen und Daten über Wanderungsbewegungen erhoben, weitergegeben und ausgetauscht sowie verwendet würden, um Migrationsbewegungen zu steuern (Europäischer Rat 2004: 17). Dazu sollten auch die bisherigen Informationssysteme weiter ausgebaut werden. Menschen‑ und Freiheitsrechte gerieten mit sicherheitspolitischen Erwägungen in Konflikt:
„Die Sicherheit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist dringlicher denn je, insbesondere in Anbetracht der Terroranschläge […]. Die Bürger Europas erwarten zu Recht von der Europäischen Union, dass sie im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Probleme wie illegale Einwanderung, Menschenhandel und -schmuggel, TerrorismusTerrorismus sowie organisierte Kriminalität und deren Verhütung gemeinsam und noch wirksamer vorgeht, dabei jedoch die Achtung der Grundfreiheiten und -rechte sicherstellt.“ (Europäischer Rat 2004: 12)
Die Einreisepolitik und die Beziehung zu Transit‑ und HerkunftsstaatenHerkunftsstaaten rückten ins Zentrum europäischer Überlegungen zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Zum verbesserten Umgang mit Asyleinwanderung sah das Haager Programm bis 2010 die Einrichtung einer europäischen Agentur vor. Diese sollte intergouvernemental organisiert sein und die Mitgliedstaten bei Asylfragen, Verfahren und Rückführungen unterstützen (später VO (EU) Nr. 439/2010, weitere Litetratur dazu Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur 2017, Art. 78 AEUV, Rn 6 mwN).
Das Programm von Stockholm (2010)
Das Stockholmer ProgrammStockholmer Programm war für den Zeitraum 2010 bis 2014 ausgelegt und setzte die allgemeinen Ziele von Tampere und Den Haag fort. Ziel des gemeinsamen Raums war ein „offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ (Europäischer Rat 2010: Titel).
Die GrenzpolitikGrenzpolitik berührte drei Themenfelder: (1) illegale Einwanderung und Kriminalität, (2) gemeinsame Asylpolitik sowie (3) die Einreise von Drittstaatsangehörigen zu Studien‑ und Arbeitszwecken.
Der illegalen Einwanderung und grenzüberschreitenden Kriminalität sollte durch ein integriertes Grenzmanagement sowie die Zusammenarbeit mit Herkunfts‑ und Transitländern begegnet werden (§ 6.1.6). Die europäische Grenzschutzagentur FrontexFrontex sollte vermehrt Risikoanalysen über Migrationsrouten erstellen und diese Routen überwachen. Zudem sollte Frontex gestärkt werden, indem das Mandat für Frontex präzisiert und ausgeweitet wurde und „einheitliche Grenzüberwachungsstandards“ angewandt würden (§ 5.1, weiterhin: 8-9).
Die gemeinsame Asylpolitik sollte vor allem durch den Ausbau des eingerichteten Unterstützungsbüros für Asylfragen vorangetrieben werden. Ziel war es, einen Schutz‑ und Solidaritätsraum zu schaffen, in dem ein europäisches Asylverfahren angewandt und ein einheitlicher Asylstatus erteilt würde (§§ 3, 5-7). Darüber hinaus ermahnten sich die Staats‑ und Regierungschefs gegenseitig, die bestehenden Rechtsakte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einheitlich umzusetzen (§§ 3, 7).
Schlussfolgerungen von Ypres (2014): Kaum noch eine Vision
Im Jahr 2014 tagte der Europäische Rat in Ypres und verabschiedete mit den Schlussfolgerungen vom 26./27. Juni 2014 ein Papier (EUCO 79/14), das in der Reihe der Strategieprogramme steht, jedoch substanziell kaum mit den Programmen von Tampere (1999), Den Haag (2004) und Stockholm (2010) vergleichbar ist. Der Ypres Plan ist auf 13 Paragraphen begrenzt und enthielt wenig substanzielle Orientierung für die weitere Ausgestaltung der europäischen Justiz‑ und Innenpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 5, Rn 8).
Während das Programm von TampereProgramm von Tampere noch von Enthusiasmus für das neue europäische Politikfeld geprägt war, so konzentrierte sich das Haager Programm auf den Kampf gegen den Terrorismus und das Stockholmer Programm versuchte die Balance zwischen Sicherheit und Grundrechten vor dem Hintergrund des Vertrags von Lissabon auszuloten; das Programm von Ypres lässt hingegen keine klare inhaltliche Ausrichtung erkennen (Hailbronner und Thym 2016a: 5, Rn 8).
Welche Funktion erfüllen die Strategieprogramme?
Im Wesentlichen geben sie eine allgemeine politische Orientierung für die Fortentwicklung europäischer Politik im Bereich Justiz und Inneres. Kay Hailbronner und Daniel Thym weisen darauf hin, dass sie doktrinal weniger wichtig sind als Vertragsziele, weil sie politisch und nicht rechtlich bindend sind (Hailbronner und Thym 2016a: 6, Rn 9). Trotz ihres rechtlich begrenzten Gewichtes hatten sie jedoch politische Bedeutung, die zuletzt aber nachlässt. Das wurde auch durch eine Zwischenevaluation im Jahr 2017 bestätigt, bei der in einem Workshop zwar drängende Arbeitsfelder definiert, aber kein Strategieplan ausgearbeitet wurde (Rat der EU 2017). Die nachlassende Bedeutung der Strategieprogramme kann allerdings auch so gedeutet werden, dass der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Reife erlangt hat, in dem die politische Programmierung weniger relavant ist, weil die rechtlichen Instrumente in den Bereichen Grenzkontrollen, Einreise, Asyl bereits ausgearbeitet sind (Hailbronner und Thym 2016a: 6, Rn 9).
Aus der Chronologie der Mehrjahresprogramme lassen sich die übergreifenden Prioritäten für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gut ablesen: Grundrechte werden zwar seit dem Haager Programm von 2004 voran gestellt, die größte Sorge bereitet den Politikern jedoch die irreguläre (Asyl-)Zuwanderung in die Europäische Union. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Strategieprogramme und steht in Verbindung mit der Bekämpfung illegaler Einwanderung und Kriminalität. Nach und nach rücken die Themen Asyl, Grenze und Migration in den Strategieprogrammen zusammen.
Das letzte Arbeitstreffen 2017 fand unter der Präsidentschaft Estlands und unter Einbeziehung von externen Experten statt. Festgehalten wurden Probleme, die im Raum ohne Binnengrenzen in den vorherigen Jahren deutlich geworden sind und anstehende Themen. Das Papier unterschied sich damit deutlich von den bisherigen Agenda-Strategien. Es handelte sich eher um eine Rückschau aus der ein Ausblick generiert wurde auf notwendige Handlungsfelder (Rat der EU 2017). Unter dem Eindruck der MigrationskriseMigrationskrise von 2015 trugen die Mitgliedstaaten wichtige Themenfelder für die zukünftige Gestaltung der europäischen Justiz‑ und Innenpolitik zusammen: Migration, Asyl, Schengen, Sicherheit, Antiterrorismus, digitale Fragen, Cybercrime, e-evidence, Datensicherung, Informationsaustausch, justizielle Kooperation und Grundrechte (Rat der EU 2017: 2). Als Hauptaufgaben wurden die effektive Anwendung, konsistente Umsetzung und Konsolidierung der bestehenden europäischen Rechtsakte erachtet (Rat der EU 2017: 3). Ein Lösungsvorschlag wurde gleich mitgeliefert: Die jeweilige Präsidentschaft und die Kommission sollen gemäß Art. 70 AEUV1 stärker kontrollieren, ob und wie Unionsrecht im Bereich Jusitz und Inneres umgesetzt wird.
Mit Blick auf die Migrationskrise von 2015 reifte die Einschätzung, dass die Europäische Union nicht über die notwendigen Instrumente verfüge, um ad-hoc auf derartige Krisen zu reagieren. Die EU verließe sich in ihrer politischen Herangehensweise stets auf rechtliche Instrumente, doch politische Krisen erforderten ad-hoc politische Handlungen und operative Einsätze, hieß es in der Rückschau:
„As regards operational activities, the EU still lacks credible crisis management tools, which would ensure the rapid and sustainable deployment of adequate resources, both human and technical, the organisation of hotspots with clear functional objectives and the appropriate interaction with international partners.“ (Rat der EU 2017: 4)
Einen tatsächlichen Ansatz dazu, wie Situationen wie die Migrationskrise effektiver gehandhabt werden könnten, sucht man in dem Papier jedoch vergeblich. Der einzig konkrete Vorschlag in diesem Zusammenhang ist der Ausbau von Agenturen der Gemeinschaft: dem Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO)Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und der Grundrechtsagentur (FRA)Grundrechtsagentur (FRA). Die Bedeutung der europäischen Agenturen kann kaum unterschätzt werden. An ungeahnter Stelle finden sich hier auch strategische Aussagen über die Politikentwicklung, wie im Fall der Neugründung der Agentur FrontexFrontex.
In der 2016 verabschiedeten Verordnung zur Neugründung von Frontex als Europäische Grenzschutz‑ und Küstenwache wird als allgemeines Ziel die „Entwicklung und Einführung einer integrierten Grenzverwaltung“ für die nationale und unionale Ebene genannt. Diese seit notwendig, um den freien PersonenverkehrFreier Personenverkehr innerhalb der Union zu gewährleisten und Sicherheit im gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu gewährleisten (VO (EU) 2016/1624, Erwägungsgrund 3).
Zugespitzt auf die Politik an den Außengrenzen formulierten die gemeinsamen Gesetzgeber Europäische Kommission, Rat der EU und Europäisches Parlament die strategischen Ziele der Grenzpolitik wie folgt:
„Ziel ist, das Überschreiten der Außengrenzen effizient zu steuern und Migrationsdruck sowie potenzielle künftige Bedrohungen an diesen Grenzen zu bewältigen, und somit einen Beitrag zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension zu leisten und ein hohes Maß an innerer Sicherheit in der Union sicherzustellen.“ (VO (EU) 2016/1624, Erwägungsgrund 3).
Die Kompetenz dazu lag erst seit wenigen Jahren in den Händen der Gemeinschaft.