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Ein lautes, intensives Hupen ließ Caterina aufschrecken.
„Ja, ja, entspann dich, ich fahre ja“, fauchte sie.
Es war bereits später Nachmittag, als Cinzia ins Büro kam. Ihr Gesicht war mit roten Flecken übersät, als hätte sie einen allergischen Ausschlag.
„Commissario, Dottore Rossi würde Sie gerne sprechen“, sagte sie mit bebender Stimme.
“Bitte, er soll hereinkommen!”
Leitender Ermittler der Finanzpolizei Tenente Colonello Marco Rossi, genannt „der Schöne“, war eine lokale Berühmtheit. Die abenteuerlichsten Gerüchte kursierten über ihn, er habe Frauen in den Wahnsinn getrieben, mehr als nur eine Ehe zerstört, im Bett sei er ein Gott und von selbigen mit generösen Attributen gesegnet. Keine könne ihm widerstehen und er würde keine von der Bettkante stoßen, insofern sie seinen Ansprüchen genüge.
Caterina ließ dieser Klatsch – ob er nun stimmte oder nicht - völlig kalt. Es bedurfte mehr als einen testosterongeladenen Stier, um sie in Erregung zu versetzen.
Sich ihrer Immunität gegenüber Rossis Reizen sicher, erlaubte sie sich ihm gegenüber eine distanzierte Freundlichkeit.
„Guten Abend, Tenente Colonello, bitte nehmen Sie Platz.“
Cinzia stand wie versteinert an der Tür, in der Hoffnung, die Trennung von ihrem Schwarm noch hinauszögern zu können, fügte sich aber dann widerwillig den Anweisungen Caterinas, die Tür hinter sich zu schließen.
„Auf Wiedersehen, Tenente“, säuselte Cinzia, und er antwortete mit einem Augenzwinkern. Marco Rossi kannte seine Wirkung auf Frauen nur zu gut, und scheute sich nicht, sie einzusetzen. Sanft strich er über das kurze samtige Haar, begrüßte die Kommissarin mit einem festen Händedruck, ein breites Lächeln entfaltete seine ganze Attraktivität, verfing sich in den braunen Augen, den ebenmäßigen Gesichtszügen, den vollen, sinnlichen Lippen, hinter denen weiße Zähnen aufblitzten. Ein dezenter Duft von Nelken entwich seiner bernsteinfarbenen Haut. Der stattliche, in einer khakibraunen Uniform gekleidete Mann stand in voller Pracht vor der völlig unbeeindruckten Caterina.
„Guten Abend, Commissario. Wie schön, Sie wiederzusehen“, heuchelte er, denn die beiden waren sich von Beginn an unsympathisch.
„Was kann ich für Sie tun, mein lieber Tenente Colonello?“
„Werte Commissario, es geht um den Fall, an dem Sie gerade arbeiten.“
„Den Selbstmord?“
„Ja.“
„Fall ist übertrieben, die Sache ist abgeschlossen.“
„Und wenn ich Sie bitten würde, Ihre, wie soll ich sie nennen, Ermahnung an Dottore Bernardi zurückzunehmen und den Abschlussbericht vielleicht noch einen Weile hinauszuzögern? Anstiftung zum Selbstmord ist strafbar laut Artikel 580 des codice penale.“
„Ich kenne das Strafgesetzbuch.“
Caterina wurde skeptisch.
„Was hat die Finanzpolizei mit einem Selbstmord zu tun?“
„Nun, mit Ihrem Besuch bei La Piazza haben Sie sich in meinen Fall eingemischt, was Sie natürlich nicht wissen konnten.“
Mit den Fingerkuppen strich er sich zaghaft über das glattrasierte Kinn.
„Tatsache ist, dass wir jemanden überwachen, der, sagen wir mal so, indirekt mit der Sache in Verbindung steht. Dieser Artikel sollte eine Falle sein. Wissen Sie, die La Piazza ist einer der wenigen furchtlosen Zeitungen, mit denen wir ab und zu zusammenarbeiten.“
„War die Bellacqua an einer Story dran?“ Zweiter Versuch.
„Ich kann leider nicht über laufende Ermittlungen sprechen, Commissario.“ Er lächelte wieder charmant. Gerissen, „der Schöne“. Zweite Abfuhr.
Caterina lehnte sich zurück, betrachtete ihn kurz, um seiner Offensive mit einem ebenfalls zuckersüßen Lächeln zu entgegnen.
„Sie benutzen eine Selbstmörderin zu Ihren Zwecken, wollen ihren Namen in den Dreck ziehen, um an Ihr Ziel zu kommen, und ich soll Ihnen bei dieser machiavellistischen Art, Ermittlungen zu führen, auch noch helfen, ohne eingeweiht zu werden?“
„Nun, Commissario, eine Hand wäscht die andere. Wenn Sie eines Tages etwas von mir benötigen sollten, dann –“
Sie räusperte sich. „Es gibt keine Beweise, noch nichtmal Indizien im Sinne von Art. 580. Dem Abschlussbericht steht also nichts mehr im Wege.“
Der freundliche Ton, der die bisherige Konversation dominierte, zerschellte augenblicklich an Caterinas Kompromisslosigkeit. Die Kommissarin, die Einmischungen in ihre Fälle partout nicht duldete, empfand es außerdem als Beleidigung, wenn jemand versuchte, sie mit Charme zu manipulieren.
„Manchmal muss man ein kleines Unrecht tun, um viel Gutes zu bewirken, Commissario.“
Rossi´s Blick, der seine Überlegenheit verloren hatte, wanderte konzentriert die Wand des Büros entlang, dort wo die eingerahmten Errungenschaften der Kommissarin hingen. Abschluss mit Auszeichnung an der Rechtsfakultät der Universität Bologna, Polizeiakademie, Ernennung zur Kommissarin, das alles in weniger als zehn Jahren. Dann musterte er sie genau und nickte.
„Ich habe einen Fehler gemacht“, murmelte er.
„Allerdings.“
„Heute Morgen sprachen Sie mit einem gewissen La Menta und fuhren dann zur Redaktion richtig?“ Er fasste sich an die Stirn und zog dabei die dichten Augenbrauen zusammen.
„Ich dachte immer, Ihre Arroganz käme daher, dass ihr aus dem Norden auf uns herabschaut als seien wir ignorante, rückständige, abergläubische Bauern. Aber jetzt erst verstehe ich.“ Er seufzte, als bereue er bereits das gleich Gesagte. „Im Zuge einer Neuorientierung hat man den alten Russo in Pension geschickt und mit diesem bildhübschen enfant prodige ersetzt. Ich hätte es wissen müssen, eine Gesegnete!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Eine Gesegnete?“
„Ja eine Gesegnete. Das sind Personen mit geringer Erfahrung die auf wundersame Weise in eine Position gehievt werden, weil Sie einen Heiligen haben – einen einflussreichen Gönner – der sie dorthin bringt und beschützt im Gegenzug für Gefälligkeiten“
Caterina Calanca spürte den Caffé aufsteigen, bereits das dritte Mal an diesem Tag, und griff zum Höher.
Sie bat die freudig erregte Cinzia, den Colonello hinauszubegleiten.
„Übrigens, Commissario“, sagte Rossi, beim Verlassen des Büros.
„Was?“
„Entzückendes Kleid, was Sie da anhaben. Neu?“
„Sagt das auch Ihr scharfer Beobachtungssinn?“
Er kam einige Schritte näher, beugte sich vor und flüsterte: „Das verrät allein das Preisschild, das noch am Verschluss baumelt. Cinzia unterdrückte ein Kichern. Caterinas transparente Haut errötete schlagartig. Sobald die beiden in der Tür verschwanden, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
Nach wenigen Augenblicken der Schmach klärten sich die Gedanken: Es war an der Zeit, das Notizbuch der Bellacqua genauer unter die Lupe zu nehmen. Darin könnte der Schlüssel zu dem Rätsel liegen.
3. Wilder Wind
Durch die offene Balkontür in Caterinas Wohnzimmer strömte milde Luft, die nach zartem Jasmin roch. Eine Eule rief heulend in die Nacht. Auf ihrem Sofa vor dem kalten Kamin lang ausgestreckt, das schwarze Notizbuch in der einen, ein Glas Zitronenlimonade in der anderen Hand, machte sich Caterina an die abendliche Lektüre.
Sonntag, 3 Uhr am Morgen
Wieder eine schlaflose Nacht. Seit Wochen schlafe ich nicht. Im Schatten der stummen Nacht kann ich am besten zu dir sprechen. Wahrhaftig, ich habe gar keine Lust diese Notizen zu machen , glitte der Stift nicht wie von alleine über seine Seiten.
Zwei Monate waren seit dem Abendessen bei Stella vergangen. Nichts wirklich Erwähnenswertes war seitdem passiert. Die Tage verstriechen hier langsam, ohne eine Ordnung, ohne ein Ergebnis.
Ich versuchte mich einzuleben, dem trägen Rhythmus des lokalen Lebens anzupassen, traf Menschen, trank Caffé, knüpfte Kontakte. Und noch mehr Aperitivi, Dinner, Feste, etc.
Ich gewöhnte mich schnell an diese Lebensart, auch wenn es mir wie Zeitverschwendung vorkam. Das süße Nichtstun maskiert als frenetisches Dasein. Ich verschickte Lebensläufe, sprach in allen Redaktionen vor, vergeblich.
Nur in der Nacht, da strömen die tiefsten Gedanken in meinem Kopf und ich habe einen meiner wenigen klaren Momente. Die ersten Zweifel kommen auf: War es richtig, alles in Dänemark aufzugeben und nach Italien zurückzukehren? Meinen sicheren Job als Assistentin bei einem großen Verlag kündigen und mich dafür als freiberufliche Journalistin in einem von Instabilität gezeichneten Land zu behaupten? Ich fühle mich konfus und verloren. War dies wirklich der geeignete Ort, um wieder von vorne anzufangen? Ich wünschte jemand würde mir helfen. Ein Schutzengel, der mir den Weg weist.
Um diese Gedanken zu verdrängen, gehe ich abends oft aus, feiere ausgelassen auf Partys in der wunderschönen Villa von Stellas Vater, dem Thunfischfabrikanten. Die Feste sind berühmt in der Stadt, die ausschweifendsten, gigantischsten und schillerndsten Feste Italiens, nein, der ganzen Welt! Alle strömen sie dorthin, Künstler, Adlige und solche die sich zur High Society zählen, die goldene Jugend der Region versammelt sich hier, angezogen von der erregenden Atmosphäre einer großzügigen Exklusivität.
Oft komme ich nach Hause, wenn mein Vater bereits zur Arbeit aufbricht, einer unwürdigen Arbeit, zu der er nach dem Konkurs unserer Firma gezwungen ist.
Verhält sich so ein braves Mädchen?
Ein unermüdlicher Südostwind rüttelt an meinen Jalousien in dieser milden Novembernacht. Wenn ich mich so in meinem Zimmer umsehe, wird mir klar, wie dumpf und traurig es ist. Die Möbel erinnern an eine Klosterzelle, minimalistisch, essenziell, traurig. Ich gestehe, auf einen besseren Anfang gehofft zu haben, hier in der Stadt der Brunnen, aber hier sitze ich mit leeren Händen. Keine Bewerbungsgespräche, keine Perspektive. Hier gelten andere Regeln, oder besser gar keine.
Leise schleiche ich zum Kühlschrank, um Papá nicht zu wecken, und gieße eisiges Wasser in ein Glas, um meine innere Unruhe zu lindern. Ich lehne mich an das geöffnete Küchenfenster und spüre die Ruhe der Nacht, allein gestört vom wilden, staubigen Wind der friedlos durch die kargen Bäume bläst.
Auch der Wind folgt seinem Weg, den nur er selbst bestimmt und mit einer Kraft, die einem keine andere Wahl lässt, als sich ihm zu beugen. Die Natur folgt ihren eigenen Gesetzen. Aber vielleicht kündigt gerade diese stürmische Nacht den Tag an, an dem sich alles ändert. So schlafe ich ein, als mein Vater bereits zur Arbeit geht.
Etwas Unerwartetes passierte. Aus dem Mondschein griffen Morpheus Arme nach der wehrlosen Caterina, und als sie sich aus der Umarmung des drakonischen Gottes befreien konnte, war es bereits Morgen. Und wieder fielen zahlreiche Heilige vom Himmel.
4. Das Debüt
Es versprach ein ruhiger Nachmittag im Kommissariat zu werden. Die Sonne strahlte in den stahlblauen Himmel hinein. Caterina saß am Schreibtisch in einem schwarzen Hosenanzug und glamouröser Föhnfrisur, die ihr den schmeichelnden Vergleich mit Rita Hayworth eingebracht hatte. Sie war gerade vom Frisör gekommen und arbeitete am Abschlussbericht des Falls Bellacqua. Plötzlich brach Hektik aus. An ihrer geöffneten Tür rannten alarmierte Polizisten vorbei, ein aufgebrachter Tommaso stürzte zu ihr ins Zimmer.
Angelehnt am Türrahmen mit den Autoschlüsseln in der Hand keuchte er: „Commissario, ein Mord in der Nähe des Rathauses.“
Caterina sprang vom Schreibtisch auf, nahm Marke und Dienstwaffe aus der Schublade und lief gemeinsam mit Tommy zum Fuhrpark, wo die Dienstwagen standen. Das Adrenalin war ihr in alle Gliedmaßen geschossen, angesichts des ersten Mordfalls hier in ihrem Revier. Endlich würde sie sich beweisen können.
„Wo ist Ispettore Grillo?“, fragte sie Tommaso am Steuer eines Alpha Romeo.
„Am Tatort, Commissario.“
„Tommaso, hör schon auf mit dem Commissario, wir können uns duzen“, sagte sie in der Aufregung, und Tommaso schien sich über die unerwartete Anerkennung zu freuen. Sie rasten mit Sirenen und Aufgebot von fünf Streifenwagen zum Tatort.
Die Via del Pistacchio lag im Herzen der Stadt und verband die bevölkerte Einkaufsstraße Viale Mandorla mit der Piazza Europa, wo sich das Rathaus befand und vor dem man ein Denkmal von Alcide de Gasperi errichtet hatte. Neben einem offenen Tabakladen und einer Werkstatt gab es zu dieser frühen Nachmittagszeit nur heruntergelassene Rollläden. Eine gespenstische Stille lag in der Luft, obwohl es helllichter Tag war.
Der Notarztwagen war bereits eingetroffen und die Forensik hatte mit der Sicherung des Tatorts begonnen.
Der leicht übergewichtige Mann lag bäuchlings mit gespreizten Beinen neben der Kreuzung. Die anthrazitfarbene Bundfaltenhose und das weiße Hemd waren in eine Blutlache getaucht. Augen und Mund waren weit geöffnet in einem erstarrten Ausdruck des Schreckens, dessen einheitliche Linie nur an den Lippen von einem daran klebenden Zigarillo unterbrochen wurde. An seinem Hinterkopf klaffte eine enorme Wunde, die grauen Haare verklebt mit Blut, das vom Hals herunter in den Rinnstein floss.
Solange die Spurensicherung noch ihre Fotos machten, konnte die Kommissarin nur am Rande zusammen mit dem Gerichtsmediziner Professore Mariano Monte warten, während Tommy die undankbare Aufgabe der Zeugenbefragung übernahm.
Keine Spur von der Tatwaffe. Zumindest war es das, was Caterina schon aus der Ferne erkennen konnte. Und natürlich wieder Schaulustige, Kameras, Äußerungen der Bestürzung hinter den Absperrungen.
„Diesmal kannst du dich nicht vor der Presse drücken, Commissario“, sagte Tommy als er wieder zu ihr zurückkam.
„Gib mir Details, Tommy. Wo zum Henker ist Ugo?“
„Ich vermute er ist hier irgendwo und befragt ebenso Zeugen“, sagte Tommy.
„Ich rufe ihn an!“ Caterina nahm ihr Handy und das Telefon läutete ein, zwei, drei, vier Mal.
„Pronto, Commissario!“
„Ugo, wo steckst du?“
“Beim Buchhalter, Commissario.”
“Beim Buchhalter! Wir haben einen Mord und du bist beim Buchhalter?“
„Entschuldigung, Commissario, ich komme sofort.“
Caterina warf Tommy einen wütenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern.
„Nimm es mit Philosophie, mit Lebensart, Commissario.“
„Darüber reden wir noch“, zischte sie. Sie wusste von Ugos Wettsucht und dass Tommy ihn deckte. Aber das ging zu weit.
„Also Tommy, was weißt du bisher. Wer war der Mann?“
Als Caterina vor die Kameras trat, dankte sie Gott, dass sie zuvor beim Friseur gewesen war. Mit einigen Handgriffen zupfte sie ihre Haare zurecht, setzte eine souveräne Miene auf und wartete, bis die unzähligen Mikrofone und Diktiergeräte unangenehm nah an ihren Mund fuhren. Tommy stand stramm neben ihr wie ein General und machte ein bedeutungsvolles Gesicht, was ihm später im Kommissariat den Spott der Kollegen einbringen sollte. Es wurde still, nur das leise Knipsen der Fotoapparate war noch zu hören. Hoffentlich machte sie keinen Fehler bei ihrem Debüt. Ruf und Glaubwürdigkeit standen auf dem Spiel. Sie kannte diesen Politiker nicht, unmöglich nach so kurzer Zeit. Sie hatte keine andere Wahl, als auf Tommys Informationen zu vertrauen.
Die Kameras liefen, sie war angespannt, als ob gleich etwas Aufregendes passieren würde. Drei, zwei, eins -
„Wir können loslegen“, sagte einer der Kameramänner und das Wort ging an Caterina, die versuchte, trotz der Anspannung ihre Stimme zu kontrollieren.
„Ein Mann wurde heute Nachmittag auf offener Straße ermordet. Nach den ersten Ermittlungen – und ich betone, es handelt sich nur um erste Vermutungen - verlief der Tathergang wie folgt:
Um circa 15.45 verließ das Opfer den Tabakladen auf der Via del Pistacchio und lief in Richtung Piazza Europa, als sich der Täter, vermutlich auf einem motorisierten Fahrzeug, dem Opfer von hinten näherte und ihn mit einem noch undefinierten Gegenstand auf den Hinterkopf schlug. Das Opfer fiel bewusstlos nieder. Als der Krankenwagen eintraf, erlag er bereits seinen Verletzungen. Dank seines Ausweises konnten wir das Opfer identifizieren: Es handelt sich um Kommunalpolitiker Amerigo Della Porta. Das ist alles, vielen Dank!“
Ein großes Raunen ging durch die Menge. Einige, vermutlich die
Agenturjournalisten, zückten ihre Handys und riefen in den Redaktionen an. Nur wenige Minuten später war die Schlagzeile im Netz, sodass die Polizisten Mühe hatten, die ankommenden Gaffer vom Tatort fernzuhalten.
Der Bezirksstaatsanwalt hatte derweil alle Autoritäten informiert, und so füllte sich die kleine Nebenstraße rasch mit unzähligen kondolierenden Persönlichkeiten: erst kam der Polizeipräsident, dann der Oberstaatsanwalt dicht gefolgt vom Bürgermeister. Obwohl „nur“ ein Kommunalpolitiker, musste das Opfer, angesichts des Aufmarsches, eine einflussreiche Persönlichkeit gewesen sein, dachte sich Caterina und wurde sich der öffentlichen Bedeutung ihres ersten Falls in dieser Stadt erst richtig bewusst.
Das wusste auch Polizeipräsident Visconte, der – überzeugt davon, dass Frauen im Chanel-Kostüm an die Seite von uniformierten Männern und nicht in die Uniform selbst gehörten – als Erster vor Ort war. Er kam, begleitet von einem Oberstleutnant, dem Kabinettschef und dem Pressesprecher, direkt auf Catarina zu.
„Commissario, das ist eine entsetzliche Tragödie, der Abgeordnete war ein wichtiger Mann. Ein großer Verlust für die Politik. Dieser Fall hat oberste Priorität, und ich will über jeden Schritt der Ermittlungen informiert werden. Soll ich Ihnen einen Ermittler an die Seite stellen, Commissario, einen Mann mit viel Erfahrung?“
Caterina kniff die Augen zusammen, ihr Magen wurde hart wie Stein. Dass sie ihre Wut hinter einem ausdruckslosen Gesicht verbergen konnte, verdankte sie den unzähligen Poker-Turnieren, an denen sie regelmäßig teilnahm.
„Danke, Questore, sehr großzügig, aber ich denke, mein Ermittlerteam ist bestens gerüstet.“ Sie setzte ein souveränes Lächeln auf.
„Mein Angebot gilt Commissario, überlegen Sie es sich. Ich dulde kein Versagen. Und gehen Sie diskret vor, sehr diskret.“
„Aber natürlich Questore, Sie haben mein Wort.“
„Und keinen Ton zur Presse, ohne es mit mir abgesprochen zu haben!“
Dann wandte sich der Polizeipräsident ab, um mit ernstem Gesicht tröstende Worte an die dazugekommenen Familienangehörigen zu richten, er versicherte den Presseleuten den vollen Einsatz der Ermittler, sagte dem Oberstaatsanwalt seine Kooperationsbereitschaft zu und während der Questore sich mit dem noch ungläubigen Bürgermeister unterhielt, kam eine weitere Menschentraube angetrabt, die größte und wichtigste von allen. In ihr erkannte Caterina ihren Helfer vom Markt und wusste nun zu wem er gehörte: Regionalpräsident Santo Rey, der mächtigste Mann der Region.
5. Sackgasse
Alcide de Gasperis Statue warf ihren Schatten in der Abendsonne über die Piazza Europa bis zum Eingang des Rathauses. Der Blick des Staatsmannes fixierte herrisch das antike Kommunalgebäude, wo Ugo wenige Meter vor den Treppen stand, die von Wachen gesäumt zum großen Tor führten. Etwas beschämt wegen seiner Zockerei war Ugo eifrig bestrebt alles auszubügeln. Er ging mit geschwollener Brust und bedächtigen Schritten auf die Wachen zu, denen er seine Dienstmarke zeigte. Die Wachen salutierten vor dem Ispettore und ließen ihn ein.
Seine Befragungen ergaben, dass das Opfer sich, bevor es ermordet wurde, auf dem Weg zu einer Debatte über die Neugestaltung der Piazza Europa befunden hatte. Die Mittel dafür waren bereits bewilligt worden, es ging darum, das Projekt einer der konkurrierenden Genossenschaften zuzuteilen.
De Gasperi sollte durch eine Bronzestatue von einem hiesigen, ruhmreichen General oder Schriftsteller ersetzt werden, sogar von einem preisgekrönten Fußballspieler war die Rede. Der Platz sollte umbenannt werden in Piazza Autonomia und der umstrittene Borbonenbrunnen verlegt werden. Viele waren dagegen, da dieser Brunnen mehr Autonomiebewusstsein wachrief, als der Name der Piazza selbst. Andere waren wiederum dagegen, Ausgaben zu verschleudern, nur um Europa den Mittelfinger zu zeigen, das würde man mit der hiesigen Verschwendung der Strukturfonds und dem Sträuben gegen jegliche Reformen schon genügend tun.
Während Ugo sich Notizen machte, entging seinen Blicken das eifrige Räumen der Mitarbeiter nicht, die mit gestressten Gesichtern die allgemeine Auffuhr dazu nutzten, Unterlagen aus Della Portas Büro verschwinden zu lassen.
Ugo verständigte Tommy, der schnellstmöglich den Bezirksstaatsanwalt kontaktierte, um einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken.
Donna Leandra saß aufrecht mit versteinerter Miene im Büro der Kommissarin. Ab und an trocknete sie mit einem weißen Leinentuch eine Träne, die in ihren schwarzen Augen aufquoll und die zart gepuderte Wange herunterfloss. Ansonsten bewahrte sie Ruhe. Nicht einmal als die Polizei vor ihrer Haustür stand und die Nachricht von Amerigos Ermordung überbrachte, verlor sie die Fassung. Die Fassung zu verlieren wäre für sie schlimmer als der Tod. Sie bat die Herrschaften einen Augenblick zu warten, erschien einige Minuten später dem Anlass gemäß in einem schlichtes schwarzen Kleid und folgte den Gesetzeshütern ins Präsidium. Donna Leandra wusste einfach, was sich gehörte.
Ihr Blick schweifte zu ihrer Tochter, die ebenfalls aufrecht auf dem Stuhl neben ihr saß, mit blonden langen Haaren und geröteten Augen.
Ihr jüngerer Bruder lief nervös im Zimmer auf und ab, das verschwommene Gesicht noch trunken vom Schock oder dem Whisky, den er sich bereits am Mittag genehmigt hatte. Sie betrachtete die beiden und stellte sich wohl vor, wie ihre Kinder die Anwaltskanzlei des Vaters übernehmen, geschweige denn weiterführen sollten.
Die Tochter hatte zwar Amerigos Ehrgeiz geerbt, dafür weder seine Intelligenz noch sein Charisma. Die wurden wiederum dem Sohn großzügig geschenkt, der zudem die Stattlichkeit Donna Leandras
aristokratischer Ahnen besaß, zusammen mit dem Talent, diese Gaben in hochprozentigem Alkohol zu ertränken. Diese ganzen Sorgen benebelten ihr Gehirn.
Aus der Ferne hörte man das Klappern hoher Absätze und die Tür öffnete sich. Caterina kam mit Tommy herein. Der Polizist, der die Familie bis dahin „betreut“ hatte, stand steif wie ein Stock in seiner blauen Uniform, als die Kommissarin an ihm vorbeiging.
Caterina stellte sich vor und sprach wohlerzogene Beileidsworte aus, bevor sie sich auf den ledernen Bürostuhl setzte.
Donna Leandra musterte Caterina, die in ihrem Gesicht lesen konnte, was sie dachte. Diese hübsche Kommissarin, mit der typischen Ahnungslosigkeit und Arroganz einer Nordischen, die dachte, hier würde man noch mit Eselskarren durch die Straßen fahren und die überall nur Korruption roch. Diese hübsche, nette Frau war was fürs Fernsehen, für die Titelbilder der Zeitungen, konnte jedoch keinesfalls den Mord ihres Mannes aufklären. Niemals! Ihre ganze Hoffnung ruhte auf dem Vize, Tommaso, der aus die ungeschriebenen Gesetze der Gegend kannte.
Das wusste Caterina und sie wusste auch, dass ihr der Rang und nicht ihre erwiesene Kompetenz den respektvollen Ton einbrachten.
„Was können Sie mir zum Tod meines Mannes sagen, Commissario?“, fragte Donna Leandra formell.
„Nun, Signora Della Porta, bis jetzt kann ich Ihnen sagen, dass es sich um einen Hinterhalt gehandelt haben muss. Nach den Aussagen der Augenzeugen können wir den Tathergang soweit rekonstruieren, dass sich der Täter auf einem motorisierten Zweirad von hinten dem Opfer näherte. Womit das Opfer nun…getroffen wurde ist noch unklar, denn es konnte bisher keine Tatwaffe sichergestellt werden. Wir versuchen anhand der Verletzungen diese zu rekonstruieren, bewegen uns jedoch im Bereich der Mutmaßungen“
Caterina reihte die Fakten aneinander, ihre zarten Lippen zählten messerscharfe Argumente auf. Als sie ein kurzes Schluchzen bei dem Wort „Verletzung“ hörte, versuchte sie, sich emphatischer auszudrücken.
„Es gab Augenzeugen?“, fragte Donna Leandra.