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Möge die Wissenschaft so gut sie kann die durch den Glauben so vollständig erklärte Erscheinung erklären; als Madelaine von ihrem Kinde entbunden wurde und sie dasselbe ansah, sagte sie:
»Herr, mein Gott, hast Du mich gesegnet oder gestraft? Mein Kind ist das Ebenbild des armen Kinder auf dem Bilde, das Du zu Dir winkst.«
Und mit dem heiligen Glauben der Mütter setzte sie hinzu:
»Das meinige wird zu Dir kommen, Herr es wird kommen, ich selbst führe es Dir zu.«
Der kleine Johann oder Hans und Hänschen, wie man ihn nannte, war wirklich der kleine Einfältige aus dem Bilde, Das blonde Köpfchen und die großen blauen Augen, die nichts von dem zu sehen schienen, was um ihn her vorging, als ob ein Schleier zwischen der Welt und seinem Geiste ausgespannt sei.
Die Sache war so wahr, die Ähnlichkeit so auffallend, dass Jedermann den kleinen Hans auf den Armen der Mutter wieder erkannte und die Weiber im Dorfe in jener falschen Frömmigkeit, die oft noch schmerzlicher ist als die Gleichgültigkeit, so oft sie ihn sahen, ausriefen:
»Herr Jesus, das arme Kleine ist doch ganz das Ebenbild des Einfältigen auf dem Bilde in der Kirche.«
Madelaine lächelte; in ihren Augen war Johann das schönste von allen Kindern und nur die kleine Marie allenfalls ließ sie gleich schön sein.
Ihre Besorgnis aber war groß. Hänschen war ein Jahr alt geworden und hatte noch nicht ein Wort gesprochen. Sie fürchtete, dass das Kind stumm sei. Eines Tages endlich wurde sie sehr und angenehm überrascht. Da sie sehr oft sagte: »lieber Gott, lass mein Kind sprechen! Lieber Gott, lass mein Kind nicht stumm sein!« so merkte sich das Kind das Wort, das es so oft hörte, lächelte seine Mutter an und sprach ihr nach:
»Gott!«
Madelaine sank auf ihre Knie und rief:
»Herr, ich danke Dir nicht bloß, dass Du mich erhört hast, sondern auch, dass dein heiliger Name der erste ist, der über die Lippen des Kindes ging.«
Von dieser Stunde an begann der kleine Hans zu sprechen, aber er sprach nicht wie die andern Kinder. Die andern Kinder haben gleichsam zwei Sprachen, die Kindersprache und die wirkliche, ernste Sprache. Hänschen ging sogleich in die ernste Sprache über; aber er sprach nur wenig, er sagte ein, zwei Worte, höchstens drei und vervollständigte seinen Gedanken durch ein Lächeln, durch eine Gebärde, durch einen Blick.
Die kleine Marie war seine einzige Gespielin, nie sah man ihn mit andern Kindern spielen. Auch spielte er eigentlich nicht, er — träumte. Marie und seine Mutter liebte er ungefähr mit gleicher Liebe; er liebte auch den Vater Kleine von ganzem Herzen und den kleinen Peter, als dieser zur Welt kam, die Übrigen aber schienen ihm, ich will nicht sagen fremd, aber unbekannt zu sein. Er liebte die Tiere und die Tiere liebten ihn. Was lag in dem Kinde, dass die Tiere es liebten, und ihm folgten? Der störische Graue, der sich bisweilen gegen Vater Kleine hartnäckig weigerte über einen Graben oder einen Bach zu gehen, wurde folgsam wie ein Lamm, gehorsam wie ein Hund, sobald der kleine Hans ihn am Zügel führte oder auf ihm ritt.
Der Faule; wie der Ochs hieß, der seinen Namen bisweilen auch verdiente, merkte das Kind von weitem und brüllte ihm entgegen. Allerdings kam Hans nie in den Stall, ohne einen ganzen Arm voll frisches Gras und Blumen mitzubringen, und der Faule kaute dies Futter mit so großem Behagen, als ob Hänschen das Geheimnis verstehe, gerade die Kräuter und Blumen auszuwählen, welche der Ochse am liebsten hatte.
Die schwarze Kuh brachte der Frau Marie doppelten Ertrag, denn alle Jahre verkaufte sie ein Kalb und alle Tage Milch. Weil nun der kleine Hans dem Mariechen die besten Kräuter gezeigt hatte, war die Milch der schwarzen Kuh weit und breit berühmt. Oftmals aber, wenn man das Kalb verkauft hatte, verweigerte die trauernde Kuhmutter ihre Milch denen, welche ihr das Kalb genommen hatten, um die Milch ganz für sich zu bekommen; dann ging der kleine Hans in den Stall, nahm das Maul der Kuh in seine Hände, richtete ihr den Kopf empor, heftete die Augen auf die traurigen Augen des Tieres und sprach mit ihm — welche Sprache; das weiß Gott. Die Kuh brüllte darauf ein paarmal betrübt, Hans rief die Frau Marie, ließ seine Hand am Halse der Kuh ruhen und gehorsam, wenn nicht getröstet, gab sie die weiße schaumige Milch her, die sie manchmal drei Tage lang verhielt.
Noch anders war es mit den wilden Tieren. Da Hänschen niemals einen lebenden Wesen etwas zu Leide getan Hatte, so liebten ihn alle Geschöpfe, mit Ausnahme derer, welche die Bestimmung haben zu schaden. Sie hielten das Kind gleichsam für einen kleinen Engel, der über die Erbe schreite mit einer lieblichen Stimme und im Namen des Herrn alle Sprachen rede. Nach der träumerisch-sinnenden Weise, wie der kleine Hans im Moose lag oder sich an einen Baum lehnte und auf die singenden Vögel hörte, hätte man allerdings glauben können, er verstehe den Gesang und könne ihn überlegen und erklären.
Die kleine Marie, welche von dieser Sprache nichts verstand, fragte denn auch manchmal Hänschen:
»Welcher Vogel singt jetzt?«
Johann antwortete dann: »Es ist eine Nachtigall, ein Finke, ein Rotkehlchen, denn er brauchte den Vogel, der sang, nicht zu sehen, um zu wissen, welcher es sei.
Wenn er noch immer zuhörte, fragte Mariechen wohl auch:
»Hänschen, was singt der Vogel?«
Johann antwortete:
»Er dankt dem lieben Gott, der einen Tautropfen in ein zusammengerolltes Blatt fallen ließ, um ihm den weiten Weg nach dem Fluss zu ersparen.«
Oder auch:
»Er dankt dem lieben Gott, der zugab, dass ein Dorn am Wege den vorübergehenden Schafen ein wenig Wolle abriss, denn die Zeit ist gekommen, dass das Weibchen ihre Eier legen soll und aus jener Wolle will er sein Nest bauen.«
Oder auch:
»Er klagt, dass ein Kind aus dem Dorfe ihm seine Jungen genommen hat und doch nicht weiß, wie es dieselben füttern müsse, so dass die Kleinen verhungern werden.«
Ebenso war es mit den Pflanzen, dem Grase und den Blumen. Niemals hätte Johann unnötiger Weise auf eine Pflanze getreten, Gras abgeschnitten oder eine Blume gepflückt. Hatte er ja einmal unversehens auf einen Stängel getreten, oder sah er einen, den Andere niedergetreten hatten, so richtete er das arme Pflänzchen empor, und sagte, wenn er es gewesen war: »Ich hatte Dich nicht gesehen, nimm es nicht übel,« und wenn es ein Anderer gewesen: »Zürne dem nicht, der Dich so geknickt hat, denn er wusste nicht, dass Du lebst, leidest und weinst wie wir; er hat zwar deinen Stengel geknickt, aber deine Wurzel ist Dir geblieben; aus deiner Wurzel wird ein neuer Stengel herauswachsen, er wird groß werden, blühen und seinen Samen umherstreuen, so dass Du im nächsten Jahre nicht mehr allein und einsam bist wie jetzt, sondern eine ganze Familie um Dich her hast.«
Ebenso war es, wenn er Gras für den Faulen oder die schwarze Kuh ab sichelte oder wenn er eine Blume pflügte, um sie in den Gürtel oder in das Haar der kleinen Marie zu stecken. Ehe er die Sichel an das Gras ansetzte, sagte er zu demselben:
»Es ist bekannt, warum ich Dich abschneide, armes Gras; es geschieht nicht, um Dir nutzlos Schmerz zu machen oder Dich gar zu vernichten, sondern weil der Faule, der Ochse des Vaters Kleine, und die schwarze Kuh der Frau Marie Hunger haben; weil der liebe Gott Dich wachsen ließ, um sie zu sättigen und ihnen die Kraft zu geben, dass der Ochse das Feld des Vaters Kleine pflügen kann, das uns nährt, und dass die schwarze Ruh Milch bekommt.«
Pflückte er eine Blume, so sagte er zu ihr:
»Du weißt es, dass ich Dich für deine Schwester Marie von dem Stängel breche; Du weißt, dass der liebe Gott Dich nicht darum schön und wohlriechend erschaffen hat, das mir Du einsam auf der Wiese ober im Walde sterbest, sondern damit Du von seiner Größe unter den Menschen zeugst, deren Augen und Herz Du erfreust.«
In Folge dieser ihm von Gott verliehenen Fähigkeit, die ganze Schöpfung zu verstehen und zu begreifen, war der kleine Hans glücklicher im Umgange mit den Bäumen, den Pflanzen, den Vögeln, der freien Himmelsluft, dem Regen und Sonnenscheine, als in dem Verkehre mit den Menschen. Während die Bäume, die Blumen, die Vögel, die Himmelsluft, her Regen, der Sonnenschein in ihrer Sprache sagten: »er ist ein kleiner Engel, und zwar die Bäume, indem sie ihn mit ihrem Schatten bedeckten, die Blumen, indem sie seinen Weg schmückten, die Vögel, indem sie ihn durch ihren Gesang erheiterten, die Himmelsluft, indem sie seine Wangen liebkoste, der Regen, indem er ihn verschonte, und der Sonnenschein, indem er ihn wärmte, zuckten die Leute aus dem Dorfe, wenn sie ihn ernst und schweigsam in dem Alter hingehen sahen, in welchem die Kinder lärmen und spielen, mit den Achseln und sagten im Tone des Bedauerns oder des Spottes: »er ist einfältig.«
Da er indes auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, verständig antwortete, da er niemals gelogen hatte und allen die Wahrheit sagte, sie mochte denselben angenehm sein oder nicht, so nannten sie ihn nicht Hans oder Johann oder den kleinen Kleine, sondern Ehrlich.
Nach einer gewissen Zeit nahmen selbst die kleine Marie, Frau Marie, der Vater Kleine, sogar Madelaine den Namen auf, unter welchem Johann im Dorfe allgemein bekannt war, und nannten ihn Ehrlich wie die Andern. Johann sah wohl ein, dass dies ein schöner Name sei, ein Name nach dem Herzen Gottes; er entwöhnte sich seines Namens Johann und gewöhnte sich daran, Ehrlich genannt zu werden.
V. Bernhard und Peter vervollständigen die Familien, der erstere die des Vaters Kleine, der andere die der Frau Marie und wie diese Witwe wird
Im Jahre 1805 war Ehrlich zehn ich aber kaum drei Jahre alt, da verließ mein Vater das Schloss des Fossés, das etwa ein Viertelstündchen von dem Hause des Vaters Kleine stand, um ein drei Stunden entferntes anderes Schloss, Antilley, zu beziehen.
Mein Vater hatte aus dem Feldzuge in den Alpen von dem St. Bernhardskloster ein Paar jener prächtigen Kunde mitgebracht, deren wertvolle Race die Mönche so sorgsam erhalten. Sie sehen aus wie zweijährige Löwen. Eben als wir nach Antillen ziehen wollten, warf die Hündin fünf Junge; zwei davon wurden verschenkt, zwei behielt die Alte und das fünfte hatte ein roher Mensch grausam vor die Tür geworfen.
Der immer im Freien umher wandernde Ehrlich ging zufällig vorüber, Hörte Das Winseln des armen kleiner Hundes, hob ihn auf und trug ihn nicht in das Häuschen seines Großvaters — an dessen Edelmut er zweifelte, da er bereite den Esel und den Ochsen zu füttern hatte — sondern in den Stall der Frau Marie.
So lange Bernhard — Ehrlich hatte den Hund kurze weg so genannt — Milch bedurfte, brauchte er sich nicht eben sehr zu sorgen. Die schwarze Kuh war ja da und den vereinten Bitten der beiden Kinder wurde es nicht schwer, von der mitleidigen und gefühlvollen Frau Marie die ihm nötige Portion Milch zu erhalten. Da der Hund aber heranwuchs, musste er mit seinem gewaltigen Appetit eine schwere Last für das Haus werden.
Trotzdem entschloss sich Ehrlich, den Bernhard in das väterliche Haus einzuführen. Er benutzte einen Augenblick, in welchem dasselbe leer war, ließ Bernhard eintreten und stellte sich vor denselben, um ihn gegen den ersten Zorn des Großvaters zu schützen. Aber nicht dieser kam zuerst, sondern Mutter Madelaine, die laut aufschrie, als sie ihren Ehrlich so neben dem Kunden stehen sah.
Es war ja treffend das Bild des Einfältigen auf dem Gemälde in der Kirche, es fehlte nun zur Ähnlichkeit gar nichts mehr, nicht einmal der Hund. Madelaine war eine gläubige Seele, die in allem die Band der Vorsehung erblickte. So glaubte sie denn auch jetzt, dass der Hund sich nicht nutzlos auf dem Wege des Knaben gefunden habe und dass es fast eine Sünde sei, Beide zu trennen, da sie ja und auf dem Bilde in der Kirche beisammen wären.
So blieb denn nur Vater Kleine zu fürchten, und diesem den Bernhard annehmlich zu machen war keine leichte Aufgabe. Vater Kleine hasste alles Nutzlose, und so fürchtete man denn sehr, er werde den Bernhard abweisen.
Glücklicher Weise indes wurde seit einiger Zeit sehr viel von Diebstählen in der Gegend gesprochen, glücklicher Weise war es sogar dem Vater Kleine vor etwa zwei Nächten gewesen, als höre er in dem Hofe gehen. So stellte man ihm denn Bernhard als Wächter und Schutz vor, und nach dem er sich eine Zeitlang hatte bitten lassen, willigte er wirklich ein, den Hund zu behalten zur großen Freude Ehrlichs und der kleinen Marie.
Es wäre auch wirklich schade gewesen, den Hund von dem Knaben zu trennen, denn sie hingen mit wunderbarer Freundschaft an einander. Bernhard namentlich hatte eine Anhänglichkeit an Ehrlich, dass man fast hätte glauben sollen, er besitze, wie die Tiere überhaupt, eine Seele. Die Seele Bernhards war seine Dankbarkeit gegen den, welcher ihm das Leben gerettet hatte, und diese Dankbarkeit sprach sich in einem fast fabelhaften Gehorsam aus. Auf den leisesten Wink Ehrlichs sprang Bernhard in das Wasser oder durch das Feuer; wo er sich auch befand, seine Augen wendeten sich von denen des Knaben nicht ab; schlossen sie sich eine kurze Zeit zum Schlafe, so öffneten sie sich immer nach der Richtung hin, in welcher sich Ehrlich eben befand. Immer sah man sie beisammen, neben einander, und Ehrlich ließ die Hand an der Seite herabhängen, an welcher sich der Hund befand, der sie im Laufen leckte.
Und ein Glück war es, dass Bernhard so sanft war und dem Knaben so sehr gehorchte, denn er besaß Riesenkraft, und er wäre recht gefährlich gewesen, wenn ihn nicht ein Wink, ein Wort harmloser und unschädlicher gemacht hätte, als es der festeste Beißkorb nur immer vermocht haben würde.
Nach Ehrlich liebte Bernhard am meisten die kleine Marie, dann Madelaine, dann Frau Marie; gegen die beiden Familienhäupter, Vater Kleine und den Schulmeister, empfand der Hund die allervollständigste Gleichgültigkeit.
Der Schulmeister hatte, wie bereits erwähnt, einen Augenblick gehofft, er werde durch den Convent etwas zu den dreihundert Francs hinzu bekommen, die er als Kinderlehrer und Vorsänger in der Kirche von der Gemeinde erhielt, diese Hoffnung aber aufgeben müssen, was für ihn eine umso schmerzlichere Enttäuschung war, da sich seine Familie durch einen Sohn vermehrt hatte. Diesen Sohn empfahl er ganz besonders dem Apostel Petrus und nannte ihn nach demselben Peter, wie auch er selbst, der Schulmeister, hieß. Um den Einen von dem Andern zu unterscheiden, nannte man das Kind den kleinen Peter.
Um das Unglück voll zu machen, erkrankte bald nach der Geburt des kleinen Peters der Vater und starb, so dass die Witwe mit ihren beiden Kindern auf die Pension von hundert Francs, welche ihr die Gemeinde gab, und auf ihre Händearbeit angewiesen war.
Dies geschah etwa um das Jahr 1810. Die kleine Marie stand im fünfzehnten Jahre und konnte also den unersetzlichen Verlust ermessen, den sie erlitten hatte. Wie bei allen wichtigen Begebenheiten verschmolzen sich auch bei diesem Trauerfalle die beiden Familie in eine einzige, und Madelaine wie Ehrlich übernahmen ihren Teil von dem Schmerze der Nachbarin, damit er dieser minder schwer werde.
Obgleich nun Ehrlich mit der kleinen Marie weinte, fand er doch so wunderbar tröstende Worte für das Mädchen und für die Frau, dass sie beide, die neben einander weinten, die in Tränen schwimmenden Augen aufschlugen und hinsahen, ob denn wirklich Ehrlich, der Geistesarme, also gesprochen habe.
In Folge dieser Stimme, die von oben herab zu kommen schien, verlor ihr Schmerz, wenn er auch nicht ganz schwand, viel von seiner Bitterkeit und nach einem halben Jahre hatten bereits die Herzen wie die Anzüge, ohne gerade die Trauerfarbe ganz verloren zu haben, doch nicht mehr das schauerlich Düstere.
Es gibt eine himmlische Barmherzigkeit für die Armen. In dem Augenblicke, da das Unglück uns trifft, glaubt man nicht nur dasselbe nicht ertragen zu können, man hält es auch überhaupt für unerträglich. Man überschaut die Hilfsmittel, die geblieben sind, zählt sie zusammen, schaudert und fragt sich, wie weit sie reichen werden. Das Leben scheint zu uns möglichen Bedingungen gebracht zu sein; man tritt schaudernd in das neue Dasein ein, das sich immer enger und enger zusammenziehen und uns endlich ersticken zu müssen scheint. Aber ein Tag nach dem andern vergeht, ein Monat folgt dem andern; aus der Armut selbst scheinen wohltätige Gedanken aufzusteigen und man blickt so oft nach dem Himmel hinauf, dass man endlich Gott selbst zu sehen glaubt. Dann gleicht der Arme, so verzweiflungsvoll er auch sein mag, dem Verurteilten, den man zum Blutgerüste führt und der einem König auf seinem Wege begegnet. Er erkennt, dass er nun nicht mehr sterben wird.
Nachdem Ehrlich so gut er es vermocht und ohne zu ahnen, wie sehr es ihm gelungen, Mutter und Tochter getröstet hatte, sah er ein, dass er ihnen beistehen müsse. Da ihn selbst Vater Kleine für ein Wesen ganz besonderer Art hielt, durfte Ehrlich frei und ungehindert über seine Zeit verfügen. Er konnte sie also auch im Dienste der Witwe verwenden. Zuerst brachte er die kleine Marie auf den Gedanken, nicht bloß die Milch der schwarzen Kuh, sondern auch die der Kühe des Gutes Longpré in die Stadt zu schaffen und da zu verkaufen. Die Besitzerin, eine junge Witwe mit einem Kinde von fünf oder sechs Monaten, die sich um alle solche Einzelheiten ihrer Wirtschaft nicht bekümmern konnte, wollte der kleinen Marie von jeder Maß Milch, die sie verkaufe, ein Viertel als Lohn überlassen. Da aber Marie, selbst mit Ehrliche Hilfe, die Milch nicht in die Stadt auf einmal tragen konnte, Vater Kleine den Esel auf dem Felde brauchte und auch der Ameise glich, die nicht borgte, so fing Ehrlich an einen kleinen Wagen zu bauen, zu dem er die alten Räder zweier Karren nahm und spannte den großen Bernhard daran, der sich gern fügte und in Begleitung der beiden Kinder seine flüssige Ladung nach der Stadt zog. Dort ging Marie in die Häuser der angesehensten Leute, bot ihre Dienste an und sagte, sie werde alle Tage so viel Milch bringen als sie bedürften, wenn sie dies selbe gut fänden. Marie war nun zum Entzücken schön und sprach ganz besonders lieblich; die Trauerkleidung machte sie interessant und so regte sie gleich bei dem ersten Versuche die Milch vollständig ab.
Da sie von der Gutsbesitzerin acht Maß erhalten hatte, die Maß acht Sous kostete und ihr ein Viertel für ihre Mühe zufiel, so erhielt sie sechzehn Sous. Außerdem lieferte die schwarze Kuh zwei Maß, deren Ertrag Marien und deren Mutter ganz angehörte; sie brachte also zweimal sechzehn Sous mit nach Hause, monatlich etwa acht und vierzig Francs.
Das gab mit den hundert Francs, welche die Gemeinde der Frau Marie zahlte, sicher eine Summe von mehr als sechs hundert Francs des Jahres, das Doppelte also wenigstens von dem, was der Schulmeister bei Lebzeiten verdient hatte.
Alle Morgen um sechs Uhr brachen Marie, Ehrlich, Bernhard mit dem kleinen Wagen von Haramont auf und gelangten nach etwa dreiviertel Stunde in die Stadt. Marie ging da zu allen ihren Abnehmern, während Ehrlich und Bernhard vor jedem Hause warteten, der Hund den Knaben ansah, gleich als wollte er fragen, ob er mit ihm zufrieden sei und Ehrlich dem Hunde freundlich zulächelte.
Mariechen maß die Milch so zierlich ab, empfing das Geld dafür mit so freundlich dankbarem Lächeln; der große Hund und der arme blödsinnige Knabe, die an der Tür auf sie warteten — denn für blödsinnig galt er auch in der Stadt — hatten etwas so Originelles, dass der kleine Wagen viermal so groß hätte sein und viermal soviel Milch enthalten können, Marie würde keinen Tropfen wieder mit nach Hause gebracht haben.
Auf dem Rückwege stellte Marie die Krüge so zusammen, dass ein Plätzchen für sie selbst frei wurde; dahin setzte sie sich auf dem Wägelchen und Bernhard zog sie ohne Anstrengung, während der blöde Ehrlich nebenher ging.
Um neun Uhr waren die Kinder gewöhnlich wieder zu Hause und Marie hatte also fast den ganzen Tag noch frei, um mit ihrer Mutter nähen oder ihren kleinen Bruder warten zu können.
Wenn die Ernte der Buchnüsse kam, jener Hilfe, welche Gott selbst den Armen im Walde gibt, wie er sonst den Israelisten in der Wüste Manna gab, war Ehrlich wiederum Marien behilflich bei der Einsammlung; aber er ließ sie keineswegs die Buchnüsse kniend einzeln auslesen, wie es die Andern thaten, er las sie auch selbst nicht so auf, sondern spannte Bernhard an den Wagen, nahm auf diesem einen Besen und einen Wedel mit und fuhr in den tiefsten Wald hinein.
Hier suchte er sich einen schönen fruchtbeladenen Baum aus, stieg gewandt, fast so rasch wie ein Eichhörnchen hinauf, schüttelte die Äste, damit die Nüsse herunterfielen, stieg dann wieder hinunter, kehrte sie mit seinem Besen zusammen und binnen einer halben Stunde hatte er die Hülsen, Blätter und Holzstückchen mit dem Wedel entfernt und die gereinigten Nüsse auf den Wagen geladen.
In dem ersten Jahre, in welchem Ehrlich in solcher Weise die Buchnüsse einsammelte, verkaufte Frau Marie für hundert und fünfzig Francs Nussöl, so dass in diesem Jahre die Einnahmen der Familie auf siebenhundert und fünfzig Francs stiegen, höher als selbst die des Vaters Kleine, obwohl dieser damals zehn Morgen Feld besaß, die er durch den Dünger von dem Grauen, dem Faulen und der Schwarzen, welcher letztere ihm für die Arbeit Ehrliche für die Frau Marie überlassen wurde, sehr ergiebig gemacht hatte.
Ehrlich hatte aber auch an noch etwas anderes gedacht. Er wollte dem Häuschen, in welchem mit ihm der Segen des Herrn eingezogen zu sein schien, einen Bienenstock verschaffen und zwar seit er in einem hohlen Baume eine arbeitsame Familie dieser Tierchen entdeckt hatte. Er flocht einen Bienenkorb und wartete bis die Bienen im Walde schwärmten.
Er folgte ihnen dann zu dem Baume, an welchem sie sich anhingen und da er sie schon längst kannte und mit ihnen sprach wie mit den andern Tieren, so scheute er sich nicht, als die rechte Zeit gekommen war, seine Brust zu entblößen, weil er gar nicht daran dachte, dass ihm eine Biene etwas zu Leide tun könnte, nahm einige mit der Königin in sein offenes Hemd, ging so, während die andern ihm folgten und um ihn herflogen, durch das ganze Dorf, das sich gar sehr verwunderte, und gelangte zu dem neuen Bienenkorbe, in den sich die Königin sogleich mit allen ihren Untertanen begab wie in einen ihrer würdigen Palast.
Schon im nächsten Jahre hatte Frau Marie den schönsten Honig im ganzen Dorfe.
Am meisten wunderte man sich darüber — denn der Mensch wundert sich eben über Alles, was er nicht begreift, — dass sobald Ehrlich im Garten erschien, der ganze Schwarm Bienen zu ihm flog, sich auf seinen Hals und sein Gesicht setzte und an den Blumen sog, die er in der Hand hielt und der Königin brachte wie ein Verehrer einer Majestät.
Die Königin spazierte sogar gravitätisch auf seinem Finger hin und her, schüttelte ihre durchsichtigen Flügel und rieb die Beinchen an einander.
VI. Was von 1810 bis 1814 in dem Dorfe Haramont geschah
In den ersten Tagen des Jahres 1810 ereignete sich ein gar wichtiger Vorfall: es kam ein Sohn des Dorfes mit dem Ehrenkreuze auf seiner Brust und mit dem Verluste von zwei Fingern an einer rechten Hand zurück.
Er war jung, d. h. er zählte kaum fünf und zwanzig Jahre. Er hatte seinen Abschied, zweihundert und fünfzig Francs für das Ehrenkreuz und drei hundert Francs Pension. Auch ein schöner Mann war er, mit frischem Gesicht, rotem Haar und rotem Schnurrbart, der immer sorgfältig gewichst und an der Seite emporgedreht war.
Er hatte unter den Husaren gedient und als er mit seiner roten Jacke mit den gelben Schnüren, mit dem blauen Dolman auf der Achsel, dem Pelz-Kalbak mit dem blauen herabhängenden Tuch daran und den Reithosen mit den goldenen Knöpfen in dem Dorfe erschien, machte er doppeltes Aufsehen, einmal als Kind des Dorfes, das die Väter und Mütter mit Freuden wieder sahen und dann als schöner Bursch, den die Mädchen gern ansahen.
Er war mit seinem siebzehnten Jahre in die Armee getreten, um 1803, hatte die Schlacht von Austerlitz, die Schlacht von Jena und den letzten glänzenden Feldzug mitgemacht, der mit den Schlachten von Esslingen und Wagram endigte.
In dieser letzten Schlacht, als er mit seiner Eskadron gegen ein Infanterie-Regiment angesprengt, hatte ihm eine Kugel den Daumen und Mittelfinger der rechten Hand zerschmettert, so dass man sie ihn hatte abnehmen müssen. Da er nun den Säbel nicht mehr halten konnte, so hatte sein Oberst, der ihn schon mehrmals im Kampfe beobachtet, dreierlei für ihn erbeten und erhalten, was der tapfere Reiter auch gar wohl verdiente: das Kreuz, eine Pension und den Abschied. Als tapferen Soldaten in der Schlacht sahen ihn die Subaltern-Offiziere sehr ungern scheiden, weit weniger aber als Kameraden. Sebastian ober Bastian, wie er hieß, hatte eine unüberwindliche Zuneigung für das Wirtshaus und kaum hatte er zwei Gläser getrunken, so wurde er streit- und händelsüchtig. Es war gar nichts Seltenes, das er Arm in Arm mit einem Kameraden in das Wirtshaus ging und sehr bald herauskam, um hinter einer Hecke oder einer Mauer sich mit ihm zu schlagen.