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In der Kirche von Notre Dame fand die Königin auf den Stufen des Altars den Bischof von Paris, bekleidet mit Mitra und Stola, dem Helm und Harnisch unters Heilandes; rings um ihn her stand die hohe Geistlichkeit und die Deputierten der Universität, welche ihr Titel als älteste Tochter des Königs berechtigte, der Krönung beizuwohnen. Die Königin stieg aus der Sänfte, und ebenso auch die Damen ihres Gefolges; die Ritter sprangen von den Pferden, übergaben diese ihren Pagen oder Stallmeistern, und begleitet von den Herzögen von Touraine, von Berry, von Burgund, und von Bourbon, trat sie in die Kirche ein, während der Bischof und die Geistlichkeit laut das Lob Gottes und der Heiligen Jungfrau sangen.
Dem großen Altare gegenüber angelangt, kniete Madame Isabelle ehrfurchtsvoll nieder, und nachdem sie ihr Gebet gesprochen, schenkte sie der Kirche von Notre Dame die goldene Krone, welche die Engel am zweiten Tor von Saint Denis ihr aufs Haupt gesetzt hatten. Messire Johann de la Rivière und Messire Johann le Mercier überreichten ihr dafür eine noch schönere, prachtvollere, der ähnlich, welche der König trug, wenn er auf einem Thron Sitzung hielt. Der Bischof fasste sie bei der Lilie, in die ihre Spitze auslief, die vier Bischöfe hielten sie mit der Hand, und setzten sie leise auf die Stirn der Madame Isabelle. In diesem Augenblicke ertönten lauten, allgemeinen Freudengeschrei, denn jetzt erst war Madame Isabelle wirkliche Königin von Frankreich.
Die Königin und die Herren verließen hierauf die Kirche und bestiegen ihre Sänften, Zelter und Rosse wieder. An beiden Seiten des Zuges trugen sechshundert Diener brennende Fackeln, so dass es in den Straßen hell war, als fände die Sonne am Himmel.
Die Königin wurde zu dem Palaste von Paris geführt, wo sie der König erwartete, an seiner Rechten die Königin Johanna, an seiner Linken die Herzogin von Orleans. Vor ihm angelangt, verließ die Königin ihre Sänfte und kniete vor ihm nieder, wie sie in der Kirche getan; dadurch wollte sie andeuten, dass sie Gott als ihren Herrn im Himmel, wie den König als ihren Gebieter auf Erden anerkenne, Der König hob sie auf und umarmte sie. Das Volk schrie: »Weihnacht!« denn es glaubt, indem es seine Herrscher so einig, so jung, so schön erblickte, dass die beiden Schutzengel Frankreichs die Rechte und die Linke Gottes verlassen hätten.
Die Herren beurlaubten sich hierauf von dem König und der Königin, um sich in ihre Hôtels zurück zu ziehen; nur die blieben bei ihnen, welche zu ihrem Hofstaate gehörten. Das Volk harrte noch vor dem Palaste aus und schrie so lange Weihnacht, bis der letzte Page hinter dem letzten Ritter eingezogen war. Dann schloss sich das Tor, die Fackeln zerstreuten sich oder verlöschten allmählich, Und die Menge verlief sich durch die tausend Straßen, welche sich, wie die Adern des Körpers, durch alle Richtungen der Hauptstadt hinziehen. Bald war der Lärmen nur noch ein Gemurmel, doch auch dies verstummte endlich ganz. Eine Stunde später war alles Schweigen und Finsternis.
Wir verbreiteten uns etwas ausführlich über den Einzug der Königin Isabelle in Paris, über die Personen, welche sie begleiteten und über die Feste, welche bei dieser Gelegenheit gegeben wurden; das aber nicht blos, um dem Leser einen Begriff von den Sitten und Gebräuchen jener Zeit zu geben, sondern auch, um zu zeigen, wie, gleich dem ersten schwachen Quell der Flüsse, schwach und schüchtern jene verderbliche Liebe, jener tödliche Hass entstanden, die sich von dort herschreiben. Jetzt werden wir sie erblicken, wie sie bei jedem Winde sich regen, unter Stürmen und Widerwärtigkeiten anwachsen, und wie sie Frankreich so tiefe Wunden schlugen, wie ihr Übermaß jene unglückselige Regierung bezeichnete.
II.
Es gibt wohl keinen Romanschreiber oder Historiker, der nicht seine Betrachtungen über große Wirkungen aus geringen Ursachen angestellt hätte, und in der Tat ist es auch unmöglich, die Falten des Herzens oder die Tiefen der Geschichte zu erforschen, ohne darüber zu erschrecken, wenn man sieht, wie leicht ein unbedeutender Umstand, der unbemerkt vorüberging, als er sich zutrug, nach einer gewissen Zeit eine Katastrophe für ein Menschenleben oder für ein ganzes Reich sogar werden kann. Es ist daher auch für den Dichter, wie für den Philosophen vom höchsten Interesse, nach der vollendeten Katastrophe in deren Tiefe hinabzusteigen, wie in den Krater eines ausgebrannten Vulkanes, und sie dann in allen ihren Windungen und Verzweigungen bis zur Quelle zu verfolgen. Wahr ist es, dass die, welche durch ihren Geist zu dergleichen Forschungen getrieben werden, und sich ihnen mit Ausdauer und Leidenschaft hingeben, dabei Gefahr laufen, allmählich ihre älteren Begriffe gegen neuere umzutauschen, und je nachdem sie von der Flamme der Wissenschaft oder dem Sterne des Glaubens sich leiten lassen, werden sie aus gottesfürchtigen Leuten Atheisten, oder aus Irreligösen Gläubige; denn in der Verkettung der Umstände glaubt der Eine die phantastische Laune des Zufalls, der Andere die leitende Hand Gottes zu sehen. Der Eine sagt mit Hugo Foscolo: »Verhängnis«, der Andere mit Sylvio Pellico: »Vorsehung.« Dadurch sprechen sie die beiden Worte aus, welche man auch durch: »Verzweiflung« und »Ergebung« bezeichnen könnte.
Wahrscheinlich durch die Verachtung dieser kleinen Umstände und sorgsamen Nachforschungen haben unsere neuern Historiker uns das Studium unserer Geschichte so trocken und ermüdend gemacht. In der Organisation der menschlichen Maschine sind nicht die Lebensorgane das Interessanteste, sondern die Muskeln, welche durch sie die Kraft erhalten und durch die zahllose Verzweigung der Adern ihnen das Blut zuführen.
Dem oben ausgesprochenen Tadel wollten wir uns entziehen und laden dadurch vielleicht den entgegengesetzten auf uns; aber es ist unsere Überzeugung, dass keine Stufe der Jakobsleiter übersprungen werden darf, dass jedes Ereignis mit einem früheren zusammenhängt, und so viel es in unserer Gewalt steht, werden wir daher nie den Faden zerreißen lassen, der die kleinen Ereignisse mit den großen Katastrophen verknüpft, und unsere Leser dürfen ihm daher nur folgen, um sich durch die Irrgewinde des Labyrinthes zu finden.
Diese Erklärung schien uns nötig beim Anfange eines Kapitels, das man sonst vielleicht als fremd für das betrachten möchte, was wir beschrieben, und ohne Zusammenhang mit dem, was kommen wird. Freilich würde man den Irrtum bald bemerkt haben, aber die Erfahrung macht uns zittern, dass man uns nach einzelnen Teilen beurteilt, ehe man uns ganz hat kennen lernen. Nach dieser Erklärung nun kehren wir zu unserm Gegenstande zurück.
Fürchtet der Leser nicht, sich mit uns in die öden, finstern Straßen von Paris zu wagen, so führen wir ihn an die Ecke der Rue Coquillière und der Rue du Séjour. Kaum dort angelangt, sehen wir durch eine Seitentür des Hôtel de Touraine, welches später das Hôtel Orleans wurde, einen Mann heraustreten, der in einen weiten Mantel gehüllt war, dessen Kappe ihm über das Gesicht fiel, und deren man sich in jener Zeit bediente, wenn man unbekannt bleiben wollte. Nachdem dieser Mensch stehen geblieben war, um die zehn Glockenschläge zu zählen, welche eben von der großen Uhr des Louvre herüber tönten, erinnerte er sich ohne Zweifel, dass diese Stunde gefährlich sei, denn um nicht unvorbereitet zu fein, zog er das Schwert aus der Scheide, stützte die Spitze auf den Boden und bog die Klinge hin und her, als wolle er sich ihrer Tüchtigkeit versichern. Ohne Zweifel zufrieden mit dieser Prüfung, trat er seinen Weg an, in dem er mit dem Schwerte Funken aus den Steinen schlug und halb laut ein Lied vor sich hin summte.
Wir wollen ihm durch die Rue des Etuves folgen, können es aber nur langsam thun, denn an dem Heiligenbilde der Ecke blieb er stehen, ein Gebet zu sprechen; nach dessen Beendigung fuhr er in seinem Gesange fort, wo er stehen geblieben war, verfolgte die Rue Saint Honoré und sang immer leiser, je mehr er sich der rue la Ferronnerie näherte; in dieser angelangt, verstummte er ganz und ging leise an der Mauer des Kirchhofs der Saints Innocens hin; als er ungefähr Dreiviertel derselben zurückgelegt hatte, wendete er sich plötzlich, ging quer über die Straße, blieb vor einer niedrigen Tür stehen und that drei leise Schläge daran. Er schien erwartet worden zu sein, denn man antwortete ihm so gleich:
»Seid Ihr es, Meister Ludwig?«
Auf seine bejahende Antwort öffnete sich behutsam die Tür und schloss sich sogleich hinter ihm.
In dem Hause blieb die Person, die wir hier Meister Ludwig nennen hören, stehen, steckte das Schwert wieder in die Scheide, warf seinen Mantel über der Führerin Arm und erschien in einem einfachen, aber eleganten Kleide. Sein Anzug war der eines Stallmeisters aus gutem Hause, es bestand aus einem Barett von schwarzem Samt und einem Wams von demselben Stoff und gleicher Farbe; die Ärmel waren vom Handgelenke bis zur Schulter aufgeschlitzt und ließen enganliegende grüne Unterärmel sehen; ein enganliegendes Beinkleid von violettem Zeuge vollendete den Anzug. Auf dem einen Schenkel trug er ein Wappen mit drei goldenen Lilien und darüber eine herzogliche Krone.
Als Meister Ludwig sich von dem Mantel befreit sah, widmete er, obgleich er weder Licht noch Spiegel hatte, einige Augenblicke seiner Toilette, und erst, nachdem er sein Collet glatt gezogen und sich die Haare aus der Stirn gestrichen hatte, dass sie glatt und anmutig auf die Schultern herabfielen, sagte er in leichtem Tone:
»Guten Abend, Amme Jehanna; Ihr seid eine gute Wächterin, ich danke. Was macht Eure junge Gebieterin?«
»Sie wartet Eurer!«
»Es ist gut, hier bin ich. In ihrem Kämmerlein, nicht wahr?«
»Ja, Meister.«
»Ihr Vater?«
»Schläft.«
»Gut!«
Die Spitze seines Schnabelschuhes traf in diesem Augenblicke die erste Stufe der Wendeltreppe, welche in die oberen Stockwerke des Hauses führte, und obgleich es ganz dunkel war, stieg er die Treppe mit einer Leichtigkeit hinauf, welche zeigte, dass er hier bekannt sei. Im zweiten Stockwerk angelangt, sah er durch eine angelehnte Tür einen Lichtstrahl fallen; so gleich näherte er sich, drückte sie vollends auf und befand sich in einem Gemache, dessen Geräte den Mittelstand verrieten.
Der unbekannte war auf den Zehen und unbemerkt eingetreten, und konnte so einen Augenblick das anmutige Gemälde betrachten, das sich ihm darbot.
Neben einem Säulenbett mit Gardinen von grünem Seidenzeuge kniete ein junges Mädchen vor einem Betpulte; sie trug ein langes weites Gewand, dessen bis zur Erde herabhängende Ärmel schön gerundete Arme und zarte weiße Hände erblicken ließen, auf denen in diesem Augenblicke ihr Haupt ruhte; ihre langen, blonden Haare fielen in gefälligen Ringeln über die Schultern bis zu dem Boden. In ihrer ganzen Erscheinung lag etwas so Einfaches, so Himmlisches, so Ätherisches, dass man sie für ein Wesen aus einer andern Welt hätte halten können, wenn nicht unterdrücktes Schluchzen die Erdentochter verraten hätte, das Weib, das geboren und erschaffen ist, um zu leiden.
Als der Unbekannte diese Tränen hörte, machte er eine Bewegung, und das junge Mädchen sah sich um. Regungslos blieb er stehen, als er sie so traurig und blass erblickte.
Sie stand auf und näherte sich langsam dem schönen jungen Manne, den sie schweigend und verwundert kommen sah. Einige Schritte vor ihm blieb sie stehen und beugte ein Knie vor ihm.
»Was macht Ihr, Odette zu fügte er; »was bedeutet diese Stellung zu »Es ist die«, erwiderte sie traurig, »welche einem armen Kinde, wie ich bin, einem großen Prinzen, wie Sie, gegenüber, gebührt.«
»Träumt Ihr, Odette?«
»Wollte der Himmel, dass ich träumte, gnädiger Herr, und dass ich beim Erwachen wieder wäre, wie damals, ehe ich Euch sah, ohne Tränen im Auge, ohne Liebe im Herzen.«
»Meiner Treu, Ihr seid nicht gescheit, oder es hat Euch jemand eine Lüge angeheftet, kommt!« Bei diesen Worten umschlang er das junge Mädchen mit seinen Armen und zog es empor; sie aber beugte den Oberkörper zurück und wehrte ihn mit beiden Händen von sich ab, ohne sich jedoch von ihm frei machen zu können.
»Ich bin nicht verrückt, gnädiger Herr!« fuhr sie fort, »und Niemand hat mir eine Lüge gesagt. Ich sah Euch.«
»Und wo?«
Bei dem Zuge, als Ihr mit der Frau Königin spracht, und ich habe Euch wiedererkannt, obgleich Ihr sehr prachtvoll gekleidet war, Monseigneur.«
»Ei, Ihr täuscht Euch, Odette, irgend eine Ähnlichkeit führt Euch irre.«
»Ja, ich habe es auch glauben wollen und hätte es vielleicht auch geglaubt, aber ein anderer Herr kam und sprach mit Euch, und ich erkannte in ihm den, der vorgestern mit Euch hier war, den Ihr Euern Freund nanntet, und von dem Ihr mir sagte, er stände mit Euch im Dienste des Herzogs von Touraine.«
»Peter von Craon?«
»Ja, ich glaube, das ist der Name, den man mir nannte. Nach einer Pause fuhr sie dann traurig fort:
»Ihr habt mich nicht gesehen, Monseigneur, denn Ihr hattet nur Augen für die Königin, Ihr hörtet den Schrei nicht, den ich ausstieß, als ich ohnmächtig wurde und zu sterben glaubte, denn Ihr hörtet nur die Stimme der Königin, und das ist ganz natürlich, denn sie ist so schön! – Ach mein Gott, mein Gott!«
Bei diesen Worten brach das arme Kind abermals in einen Strom von Tränen aus.
»Nun gut, Odette«, sagte der Herzog, »was tut's, wer ich bin, wenn Du mich nur liebst?«
»Was das tut, Monseigneur?« sagte Odette, indem sie sich aus seinen Armen befreite. Was das tut, fragen Sie? Ich begreife Sie nicht.«
Wie erschöpft durch diese Anstrengung ließ sie den Kopf auf ihre Brust sinken und betrachtete dabei den Herzog.
»Und was wäre aus mir geworden«, sagte sie, »wenn ich, Euch für meines Gleichen haltend und in der Hoffnung, dass Ihr mich heiraten würdet, Euch nachgegeben hätte, als Ihr mich auf den Knien darum batet? Ihr hättet mich heut Abend tot gefunden. Ach, Ihr würdet mich aber bald vergessen haben: die Königin ist so schön!«
»Nun ja, Odette«, sagte der Herzog, »ich habe Dich getäuscht, indem ich Dir sagte, dass ich nur ein Stallmeister sei. Ich bin der Herzog von Touraine, es ist wahr.«
Odette stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Aber sag' mir«, fuhr der Herzog fort, »liebst Du mich nicht mehr, reich und glänzend, wie Du mich gestern sahst, als einfach, wie Du mich jetzt hier siehst?«
»Ich, gnädiger Herr, ich liebe Sie nicht, liebe Sie gar nicht.«
»Wie! Aber Du hast mir doch zwanzig Mal gesagt? –«
»Ich würde den Stallmeister Ludwig lieben«, fiel Odette ein, ich würde den lieben, der von gleichem Stande mit der armen Odette von Champsdivers ist; ich würde ihn lieben, dass ich lächelnd mein Blut und Leben für ihn hingäbe, und aus Pflicht täte ich dies auch für den Herrn Herzog von Touraine. Aber was machte mit meinem Leben, meinem Blute der edle Gemahl der Madame Valentine von Mailand, der galante Ritter der Königin Isabelle von Bayern?«
Der Herzog wollte etwas antworten, als die Amme ganz bestürzt herein trat. »Ach, mein armes Kind«, sagte sie auf Odette zueilend, »was wollen sie mit Dir anfangen?«
»Wer denn?« fragte der Herzog.
»Ach, Meister Ludwig, man will. Odette holen.«
»Und wohin?«
»An den Hof.«
Der Herzog runzelte die Stirn.
»An den Hof?« Er sah Odette an. – »Und wer lässt sie holen, wenns Euch gefällig ist?« fragte er mit misstrauischem Blicke auf Jehanna.
»Madame Valentine von Mailand.«
»Meine Frau?« rief der Herzog verwundert.
»Seine Frau?« wiederholte Johanna voll Staunen,
»Ja, seine Gemahlin«, sagte Odette, indem sie die Hand auf die Schulter ihrer Amme stützte. »Es ist der Bruder des Königs, den Du siehst. Er hat eine Gemahlin, und lachend wird er ihr gesagt haben: da in der Straße la Ferronnerie, dem Kirchhofe der Saints Innocens gegenüber wohnt ein armes Mädchen, das mich alle Abende bei sich sieht, während ihr alter Vater – o, es ist wunderbar, wie sie mich liebt!« – Odette lachte bitter; »das hat er ihr gewiss gesagt, und jetzt will sie mich sehen.«
»Odette«, fiel der Herzog heftig ein, »ich will sterben, wenn dem so ist! Hunderttausend Livres hätt' ich im Spiel verlieren wollen, wenn das nicht so gekommen wäre! Ich schwöre es Dir, dass ich nicht weiß, wer mein Geheimnis entdeckte, aber wehe Jedem, der mich hintergangen hat!« – Er machte eine Bewegung, sich zu entfernen.
»Wohin wollen. Sie gehen, Monseigneur?« fragte Odette.
»Niemand in meinem Hôtel hat das Recht, Befehle zu erteilen, als ich allein, und ich will den Leuten, die unten sind, gebieten, sich auf der Stelle zu entfernen.«
»Ihr seid Herr, zu tun, was Ihr Monseigneur; aber diese Leute werden Euch erkennen und Madame Valentine sagen, dass Ihr hier seid was sie jetzt vielleicht noch nicht weiß; sie würde mich für strafbarer halten, als ich jetzt noch bin, und dann wär' ich rettungslos verloren.«
»Aber Du gehst nicht nach dem Hôtel Touraine?«
»Im Gegenteil, Monseigneur, ich muss es. Ich werde Madame Valentine sehen, und wenn sie nur noch Verdacht hat, gesteh' ich ihr alles. Dann fall' ich ihr zu Füßen, und sie wird mir verzeihen. Euch, Monseigneur, wird sie auch verzeihen, und Eure Freisprechung wird leichter zu erlangen sein, als die meinige.«
»Thu', was Du willst, Odette«, sagte der Herzog, »Du hast stets Recht und bist ein Engel.«
Odette lächelte traurig und gebot Jehanna durch ein Zeichen, ihr einen Mantel zu geben.
»Und auf welche Weise willst Du nach dem Hôtel kommen?« fragte der Herzog.
»Die Leute haben eine Sänfte bei sich«, erwiderte Johanna, indem sie Odette den Mantel um hing.
»Auf jeden Fall wach' ich über Dich«, sagte der Herzog,
»Gott hat es schon getan, Monseigneur«, erwiderte sie, »und ich hoffe, er wird es auch ferner tun.«
Bei diesen Worten grüßte sie den Herzog mit Ehrfurcht und Würde, und ging die Treppe hin ab. »Hier bin ich, meine Herren«, sagte sie zu den Männern, die ihrer warteten. »Ich stehe zu Euerm Befehl; führt mich, wohin Ihr wollt.«
Der Herzog blieb einen Augenblick schweigend und regungslos an der Stelle, wo Odette ihn verlassen hatte. Dann eilte er aus dem Gemache und die Treppe hinab. An der Haustür blieb er einen Augenblick stehen, zu sehen, welche Richtung die Leute mit der Sänfte eingeschlagen hätten. Er sah fiel zwischen zwei Fackeln der Rue Saint Honoré zuführen und lief hierauf durch die Rue Saint Denis, dann durch die Rue aux Fers und gelangte durch die Kornhalle zeitig genug nach dem Hôtel Touraine, um den Zug am äußersten Ende der Rue des Etuves zu erblicken. Überzeugt, dass er ihr um einige Minuten zuvorgekommen war, kehrte er durch die erwähnte Seitentür in den Palast zurück, erreichte sein Gemach, warf sich hastig in andere Kleider, und eilte in ein Kabinett, das an das Schlafgemach der Madame Valentine grenzte, und von wo aus er alles sehen konnte, was in deren Zimmer vorging. Madame Valentine ging, wie es schien, etwas mit Ungeduld erwartend, im Zimmer auf und nieder; beim geringsten Geräusch wendete sie den Blick der Eingangstür zu, und ihre schönen schwarzen Augenbrauen, die einen regelmäßigen Bogen bildeten, wenn ihr Gesicht ruhig war, zogen sich voll Heftigkeit zusammen. Sie war reich und sehr zu ihrem Vorteil gekleidet; dennoch ging sie von Zeit zu Zeit vor einen Spiegel und zwang ihr Gesicht zu einem Ausdruck der Sanftmut, welche sonst den Hauptcharakter ihrer Züge bildete. Dann ordnete sie etwas an ihrem Kopfputze, denn sie wollte doppelt das Mädchen vernichten, das es wagte, ihre Nebenbuhlerin zu sein: sowohl durch ihre Würde und ihren Rang, als durch den Glanz ihrer Schönheit.
Endlich hörte sie wirklich ein Geräusch in ihrem Vorgemache, blieb horchend stehen, legte eine Hand an die Stirn und suchte mit der andern einen Stützpunkt auf der Lehne eines geschnitzten Sessels; denn ihre Augen verdunkelten sich und sie fühlte ihre Knie zittern. Endlich öffnete sich die Tür und ein Diener meldete, dass das junge Mädchen, welches die Herzogin zu sehen verlangte, draußen warte. Die Herzogin gab ein Zeichen, dass sie zu ihrem Empfang bereit sei.
Odette hatte im Vorzimmer ihren Mantel gelassen und erschien daher in dem einfachen Anzug, den wir bereits beschrieben haben, ihre langen Haare jedoch hatte sie geflochten, und so fielen sie ihr über die Brust bis auf das Knie herab. Sie blieb an der Tür stehen, die sich hinter ihr wieder schloss.
Die Herzogin blieb stumm und regungslos vor dieser weißen und reinen Erscheinung stehen; sie staunte, das junge Mädchen, von dem sie sich ohne Zweifel einen andern Begriff gemacht hatte, so bescheiden und würdig zu sehen. Endlich fühlte sie, dass sie zuerst sprechen müsse und sagte mit zittern der Stimme: »Tritt näher!«
Odette trat mit niedergeschlagenen Augen, doch ruhiger Stirn näher; drei Schritte vor der Herzoginnen ließen sie sich auf ein Knie nieder.
»Du bist es also«, fuhr Madame Valentine fort, »die mir die Liebe Monseigneur's entziehen will, und die nun glaubt, Du dürftest nur vor mir niederknien, um meine Verzeihung zu er langen?«
Odette erhob sich lebhaft, und brennende Röte überzog ihr Gesicht.
»Ich beugte ein Knie, Madam«, sagte sie, »nicht, damit Ihr mir verzeihen solltet, denn, Dank sei es dem Himmel, ich habe mir gegen Euch nichts vorzuwerfen. Ich beugte ein Knie, weil Ihr eine große Prinzess seid und ich nur ein armes Mädchen bin; jetzt aber, da ich Eurem Range die Ehre erzeugt habe, spreche ich aufrecht mit Euch. Eure Hoheit wollen mich befragen, und ich bin bereit zu antworten.«
Madame Valentine war auf diese Ruhe nicht gefasst; sie begriff, dass nur die Unschuld sie zeigen oder die größte Frechheit sie erheucheln konnte. Sie sah die schönen lichtblauen Augen, durch die man bis auf den Grund ihres Herzens blicken zu können schien, und fühlte, dass dieses Herz rein sein müsse, wie das der Heiligen Jungfrau. Die Herzogin von Touraine war gut; das erste Gefühl italienischer Eifersucht, das sie handeln und sprechen ließ, verschwand, sie reichte Odette die Hand und sagte mit unbeschreiblicher Sanftmut der Stimme: »Komm!«
Dieser Wechsel im Ton und Wesen der Herzogin brachte bei dem armen Mädchen eine plötzliche Umwandlung hervor. Sie hatte sich gegen den Zorn, aber nicht gegen die Milde gewaffnet. Sie nahm die Hand der Herzogin und heftete ihre Lippen darauf.
»Ach«, sagte sie schluchzend, »ich schwöre es Euch, es ist nicht meine Schuld. Er kam zu meinem Vater als ein einfacher Stallmeister des Herzogs von Touraine, unter dem Vorwand, Pferde für seinen Gebieter zu kaufen. Ich sah ihn! Er ist so schön! Ich betrachtete ihn ohne Arg, denn ich hielt ihn für Meinesgleichen. Er trat zu mir und redete mich an. Nie hatte ich eine so sanfte Stimme gehört, oder höchstens in meinen Kinderträumen, als noch die Engel zu mir herabstiegen. Ich wusste nichts, weder dass er verheiratet, noch dass er Prinz, noch dass er Herzog sei. Hätt' ich gewusst, dass er Euer Gemahl sei, hätt' ich Euch so schön und prächtig gekannt, als Ihr seid, dann hätt' ich gleich gesehen, dass er sich nur über mich lustig mache, aber jetzt hab' ich alles gesagt: er hat mich nie geliebt – und ich – lieb' ihn nicht mehr!«
»Armes Kind«, sagte Valentine, sie betrachtend, »armes Kind, das Du sagst, ihn geliebt zu haben, und nun glaubt, ihn vergessen zu können!«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn vergessen würde«, erwiderte Odette traurig, »nur dass ich ihn nicht mehr lieben würde; denn man kann nur seines Gleichen lieben, man kann nur einen Mann lieben, dessen Weib man werden kann. Ach, gestern, gestern, als ich ihn bei dem prächtigen Zuge und in der funkelnden Kleidung erblickte; als ich Zug für Zug den Ludwig, den ich für den meinigen hielt, als Ludwig Herzog von Touraine er kannte, der Euch gehört, ach, da glaubt' ich, das schwör' ich Euch zu, dass ein böser Zauber auf mir laste, und dass meine Augen mich täuschten. Er sprach, und ich hörte auf zu atmen und zu leben, um zu hören. Es war eine Stimme. Er sprach mit der Königin. Ach, die Königin!«
Odette zitterte krampfhaft, und die Herzogin erbleichte.
»Hasst Ihr nicht die Königin?« fügte Odette mit einem Schmerz hinzu, der sich unmöglich beschreiben lässt.
Madame Valentine drückte lebhaft ihre Hand auf den Mund des jungen Mädchens.