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Immer öfter stand ich alleine da, alleine im Raum, erschrak, wieso stehe ich alleine da, alleine im Raum, gab mir einen Ruck, Mut, Mut, näherte mich einem diskutierenden Grüppchen, der Paristeil ist der Hit, und prahlte, mit meinem Jugendfreund Marcus Schlumpf-Fallen im Wald gebaut zu haben. «Kleine, mit Reisig abgedeckte Gruben auf den mutmaßlichen Handelswegen der Schlümpfe.» Staunen. «Die Schlümpfe habens übrigens in sich!», erzählte ich einem irritierend aufmerksamen Herrn. «Sie tragen die Phrygiermütze der Jakobiner und dazu kurze Hosen. Sansculotten, Sie verstehen! Kennen Sie die Geschichte dieser Mütze? Das Antike Phrygien ist Ihnen doch sicherlich ein Begriff. Die Astronomen im Land des sagenhaften Königs Midas trugen gegerbte Stier-Hodensäcke auf dem Kopf. Aber jetzt muss ich mir noch ein Bier holen.» Je später es wurde, desto häufiger zog ich mich mit einem «Bester Alles!» aus Gesprächen zurück, die sich wie eine Schlinge um mein Denken zu legen drohten, manchmal rief ich aus: «Seltsam, aber so steht es geschrieben!» und, wenn ich mich recht entsinne, erzählte ich sogar Witze. Ein Ameisenbär geht ins Bordell, die Frau sitzt gerade in der Badewanne, da klopft der Klempner an der Tür. Und Bier. Viel Bier. Bier macht alles einfacher. Bier ist der flüssige Gott. Das ist heute auch noch so. Mit einem kleinen Unterschied. Damals musste ich, wenn ich zu viel getrunken hatte, auf der Couch schlafen und mich mit der Katzendecke zudecken. Heute kann ich so viel saufen, wie ich will, und keiner macht mir Vorhaltungen. Filmriss. Eine durchsichtige Jasmin setzte sich neben mich auf die Rückbank des Taxis. «Sie werfen ja gar nichts mehr ein», hatte sie bei meinem letzten Besuch in der Bäckerei Gallinger gesagt. Wir betrachteten die verplombte Sammelbüchse auf dem Tresen. «Das hab ich völlig vergessen!» Ich schlug einen scherzhaften Ton an: «Irgendwas muss mich hier wohl teuflisch ablenken.» Sie verstand nicht, ich sah an ihr vorbei in die Backstube: Unter riesigen Nudelhölzern hing ein kreisrundes Mehlsieb, das ein Draht-X in vier gleiche Teile schnitt; in einem Metalltrog lauerte eine zähe, klebrige Teigmasse; geräuschlos schloss jemand die Backstubentür von innen. Liebe Jasmin!, schrieb ich nach der Lesung heillos betrunken am Wohnzimmertisch.
Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht. Ich weiß nur, wie Sie aussehen – in dieser gequälten Art ging es weiter, bis der Brief in dem markerschütternden Aufschrei gipfelte: Was für ein Mensch bist Du? Für mich unbemerkt war ich beim Schreiben zum Du übergegangen, egal, ich faltete das Blatt, küsste es und steckte es in einen frankierten Umschlag. Darauf schrieb ich: Jasmin Rimbach und die Adresse, die Heinz mir besorgt hatte. Und was für ein Mensch war ich? Ich klappte das Notizbuch auf und schrieb: Ich bin ein peinlicher Wichtigtuer, der jedem erzählt, der Große Schlumpf sei die Apotheose der Französischen Revolution. Ich bin einer, den das Urteil zweier Unbekannter auf einer VHS-Toilette an den Rand des Wahnsinns treiben kann. Jemand, der Inge gerne einer vielleicht noch minderjährigen Bäckereimieze glühende Liebesbriefe schreibt. Nein, ich würde den Brief nicht abschicken, durfte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Ich legte mich auf die Couch, war hundemüde, aber kaum hatte ich mir Oms Decke bis zum Kinn hochgezogen, sah ich Großvater verloren inmitten meines Publikums sitzen und war wieder hellwach. Wieso hatte ich mich nicht länger mit ihm unterhalten? Und wieso hatte ich ihn mitten im Gespräch stehen lassen? Irgendwie machte ich alles falsch. Und natürlich warf ich den Brief am nächsten Tag in den Briefkasten.
6Heinz hatte dem Sattel der Vespa einen Müllsack übergestülpt: eine schlaffe Mütze, deren Zipfel traurig bis zum Hinterrad hinabhing. Trübes Unterwasserlicht erfüllte den Hof. Das Notizbuch lag auf der Fensterbank, daneben bewunderte eine dampfende Tasse ihr Spiegelbild, das unter einem beschlagenen Fleck auf der Scheibe schwamm und gelegentlich empor zu meinem durchscheinenden Gesicht schwebte. Hinter Phantomtasse und Phantomgesicht schraffierte schräger Regen den Luftquader zwischen Haus und Beerdigungsinstitut. Heinz und Onkel Jörg waren nicht zu beneiden! Den Kopf gesenkt, damit ihnen der Regen nicht in die Augen schlug, luden sie leere Särge in den Transit, fuhren davon, kamen wieder, trugen volle Särge ins Lager, und jedes Mal, wenn das Knirschen der Autoreifen ihr Kommen ankündigte, trat ich einen Schritt in den Raum zurück: Um diese Zeit brauchte mich niemand am Küchenfenster zu sehen. In drei Stunden käme Jens aus der Schule, und noch immer hatte ich mich nicht dazu aufraffen können, nach oben zu gehen und mit dem Schreiben zu beginnen. Das lag an diesem Morgen natürlich an den Nachwehen der Lesung.
Vorhin, nach dem Frühstück, hatte mich Susanne gefragt, wie es gelaufen sei. Ich antwortete: «Ganz in Ordnung!», aber sie wollte es genau wissen und bedachte mich mit ihrem speziellen Du-kannst-mir-ja-viel-erzählen-Blick. «Die Lesung war ganz in Ordnung», gab ich klein bei. «Bis auf die Gedichte. Bis auf die Leute. Bis auf die Lesung.» Mein Lachen klang gequält. «Großvater war auch da. Ich muss ihn nachher anrufen. Irgendwie hab ich ihn im Getümmel aus den Augen verloren.» Jens war im Badezimmer, kristallklares Blassblau, das Licht der Küchenlampe fiel in Susannes Augen, brachte die Iris zum Leuchten. Fast andächtig bewunderte ich die Strahlenkränze dunkler Linien, die an die dichte Speichenharfe eines Fahrrads erinnerten. «Du hast schöne Augen», sagte ich, strich ihr die Haare aus der Stirn, Susanne umarmte mich, das kam für uns beide unerwartet, wir hielten uns umschlungen, ich spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und vergrub das Gesicht in frisch gewaschenem Haar. «Wie hast du geschlafen?», flüsterte Susanne neben meinem Ohr. «Geht so», log ich. – «Ich hab dich gar nicht ins Bett kommen gehört.» – «Es war spät.» – «Schreibst du heute?» – «Ich werds versuchen», sagte ich, bezweifelte aber, dass es nach dieser Nacht klappen würde. Die Vorstellung, im Kopf fremder Menschen ein dubioses Schattendasein zu führen, hatte mich bis vier Uhr früh wachgehalten, dann erst war der Schlaf gekommen: in kurzen, flüchtigen Stippvisiten. Immer wieder erwachte ich, sah auf die Uhr, geisterte durch die Wohnung, Susanne schlief, der Brief an Jasmin lag gut versteckt unter dem Fußabstreifer, Jens schlief, und selbst Om hatte sich am Fußende des Kinderbetts zu einer schwarzen Pelzkugel zusammengerollt, deren Ohren unwillig zuckten, wenn ich neidisch ins Zimmer spähte. Und nun war ich endlich alleine. Den Brief hatte ich vorm Frühstück eingeworfen. Morgen bekäme Jasmin Post von einem anonymen Verehrer.
Susannes Bademantel hing über dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stützte sich mit schlaffen Ärmeln auf den Fliesen ab; die Spüle bog sich unter schmutzigem Geschirr; ich bückte mich nach der Zeitung, der beim Sturz auf den Fußboden die Eingeweide in Form bunter Hochglanzprospekte aus dem Bauch gequollen waren. Rote Marmeladensiegel übersäten die Tischplatte. Jens hatte den Rest seines Brötchens zu kleinen Stückchen zerpflückt, damit keinem auffiel, dass er kaum etwas gefrühstückt hatte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Vater die butter- und marmeladeverschmierten Teile auf dem Teller zu einer fast kompletten Brötchenhälfte zusammensetzen würde! Wenigstens hat er seinen Kakao ausgetrunken. Die Mohrenkopfbrötchen seines geschäftstüchtigen Hausmeisters verfluchend, stellte ich mich wieder ans Küchenfenster, ich, der Verfasser eines von der Kritik kübelweise mit unverdientem Lob überschütteten Gedichtbands, ausgebrannt, müde, ohne Energie zum Schreiben anspruchsvoller Prosa. Hoffentlich dachten diese ernsten Menschen, die mir gestern so andächtig gelauscht hatten, nicht mehr an mich! Sie haben mich schon vergessen, sagte ich mir, ich verblasse in ihren Gedanken wie das Gegenteil einer Polaroid-Fotografie. Dennoch fühlte ich mich, wie man sich wahrscheinlich fühlt, wenn man eines Tages feststellt, seit seiner Geburt ein Bewohner Spitzbergens zu sein. Ich steckte eine Zigarette an, die nicht schmeckte, und blätterte hinten im Notizbuch, wo ich Zitate aufgeschrieben hatte wie: Und dann will es mir scheinen, als ob man uns doch zu viel zugemutet hätte, als ob wir uns niemals so recht von Herzen mehr freuen könnten. Diese Sentenz stammt von einem deutschen Literaten und Helmsammler, dessen Namen an der Uni zu nennen akademischem Selbstmord gleichgekommen wäre. Das zweite Fundstück, das ebenfalls zu diesem Tag zu gehören schien, hatte Pessoa seinem traurigen Lissabonner Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in den Mund gelegt: Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich bewegte mich in Gedanken um diese Sätze herum, zu viel zugemutet, aus der Sonne gehen, Hügel, Inseln, ich füllte die Zwischenräume mit Sand, bis die Gipfel der beiden Sentenzen (Worte wie Herzen oder Sonne) verschwunden waren und sich die Wüste einer existentiellen Traurigkeit in die Küche hinein erstreckte. Existentielle Traurigkeit. Das steht wirklich im Notizbuch. Ohne Anführungszeichen, wie so oft ohne Quellenangabe, vielleicht sogar von mir, beziehungsweise von einer früheren Version meines Ichs, einem flüchtigen Bekannten, den ich bereits vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte.
Schon damals glitschte mein Charakter aus den zupackenden Händen wie ein Aal: Einerseits beklagte ich die Ereignislosigkeit meines Lebens, andererseits wünschte ich mir, ohne mir dessen bewusst zu sein, nichts sehnlicher als eben diese Ereignislosigkeit. 1. Es ist, als schöbe sich eine Glasplatte zwischen mein Ich und mein Ich. 2. Ich bin derjenige, auf dessen Seite sich der Beobachter (ich) zufällig befindet. 3. Mein Ich pendelt zwischen gegensätzlichen Polen hin und her, und doch bin ich nicht das Äquatorische, das dazwischen liegt, sondern zum Zeitpunkt A bin ich X (A), und zum Zeitpunkt B bin ich X (B). 4. Es ist gefährlich, zu lange über sich selbst nachzudenken, Ausrufezeichen, Tinte trockenpusten, Notizbuch zu. Das Ich ist eine Falle in einem selbst.
Meinen Freunden verschwieg ich solche Überlegungen (gefährlich in ihrem weinerlichen Pathos und ihrer Banalität). Wir fanden es ungehörig, das eigene Seelenleben voreinander umzustülpen wie einen Gummihandschuh. Wie hätten sie wohl auf solche Offenbarungen reagiert? Achim hätte gelacht, und Winkler hätte meine Bekenntnisse ungerührt zur Kenntnis genommen und mir dann übergangslos von seinem neuesten literarischen Projekt berichtet: «Es geht um belebtes Geschirr …» Oder er hätte Übergescheites zum «Topos des Doppelgängers» abgelassen, um dann die Handlung eines indizierten Splatterfilms zu referieren, wo man mit bloßer Gedankenkraft Gehirne zum Platzen bringt und mit herausbaumelnden Augäpfeln, aufgeschlitztem Unterleib und behängt mit schillernden Eingeweidegirlanden ein hysterisch kreischendes Blondinchen in der Badewanne heimsucht, um sie unter heftigen Blutstürzen mit safrangelbem Eiterstrahl zu schwängern.
In der Zeit vor meiner erzwungenen Abreise nach Paris traf ich mich hauptsächlich mit Achim und Winkler. Winkler kannte ich erst seit zwei Jahren, Achim seit frühester Kindheit. Er hatte zwar nur drei Straßen weiter gewohnt, aber unsere Freundschaft begann erst, als wir im Grundkurs Physik nebeneinander saßen und gleichwenig von den Formeln verstanden, mit denen Dr. Bostel die Tafel füllte; nichts vermag Menschen enger aneinanderzuschweißen als Nichtwissen. Außerdem gaben wir uns beide gerne die Kanne, Achim vertrug angeblich «vier Liter aufwärts», und eines Abends erlaubte ich ihm, mich in Mollingers Eck zu begleiten, in meine nahe Stammkneipe, die einer bushaltestellenlosen Seitenstraße voller Eisenwarenhandlungen und chemischer Schnellwäschereien das Recht auf Existenz verlieh. Mit diesem Besuch begann ein neues Kapitel meines Lebens. Achim hatte nicht geschwindelt, er vertrug tatsächlich so viel wie ich, trank nicht zu schnell, nicht zu langsam, und er quasselte keinen Schwachsinn, wenn man seine Ruhe haben und nur dumm herumkucken wollte. Von nun an trafen wir uns jeden zweiten Abend in Mollingers Eck, was die langweiligen Wochen unseres frauenlosen Kosmos angenehm rhythmisierte. An den übrigen Abenden vermieden wir es gewissenhaft, Alkohol zu trinken, und so verging die Schulzeit. Dann wohnten wir zusammen und tranken «an den Abenden dazwischen» sauren Weißwein von der Tankstelle, einen Wein, den vernünftige Menschen nicht mal zum Kochen verwendet hätten. Bei einem dieser Abende in unserer WG-Küche, wo zur Freude aller Besucher ein dichter Schimmelbart unter der Spüle wucherte, hatte Achim lallend verkündet, sein Biologiestudium zu schmeißen, um mir ab sofort «im Simpelstudiengang Germanistik» Gesellschaft zu leisten. Sind die Rahmenbedingungen unserer Freundschaft überhaupt wichtig? Ich denke nicht. Wichtig sind allein die großartigen Abende in Mollingers Eck! In spätpubertärer Begeisterung für Chandler hatten wir Molli überredet, Cocktails zu mixen, und nach anfänglichen Protesten wie: «Nur Schwule und Flittchen trinken so ein Klebzeugs!» wurde es eine Selbstverständlichkeit, einen Gimlet oder Whiskey Sour bestellen zu können, ohne schief angesehen zu werden: eine willkommene Abwechslung zwischen den Bieren!
Molli zapfte ein wunderbares, eiskaltes Bier, das Glas beschlug in der Hand, perfekte Schaumblume sowieso. Würde mir hier jemand ein derart gezapftes Bier servieren, ich bräche in Tränen aus. Der Name «Molli» ist übrigens irreführend. Unwillkürlich sieht man einen dicken, schlampigen, vermutlich unrasierten Mann in verdrecktem Rollkragenpulli und abgewetzten Cordhosen vor sich, aber bei dem wirklichen Molli handelte es sich um eine dünne, alterslose Erscheinung mit Stirnglatze und Nickelbrille, die man eher in einem Bioladen vermutet hätte als hinter dem Tresen einer Vorstadtkneipe mit Kegelbahn. Ich erinnere mich noch gut, wie liebevoll er die Glasränder mit frischgepresstem Limettensaft befeuchtete, bevor er sie in die weit aufgerissene Zuckerpackung tauchte. Das Rasseln der Eiswürfel im Shaker war ein vertrautes Geräusch in Mollingers Eck, und zwischen den Bieren genehmigten wir uns immer mal wieder einen Cocktail und behielten diese liebenswerte Tradition auch bei, als ich Achim und dem sauren Wein Adieu sagte und mit Susanne (und irgendwie auch mit Jens) in das Haus meiner Eltern zurückkehrte. Da wir gerade bei den Saufgeschichten sind: Jedes Jahr am 26. März traf ich mich mit Achim bereits nachmittags in Mollingers Eck, und um Schlag fünfzehn Uhr fünfzig begossen wir Chandlers Todestag – es geht doch nichts über gute Anlässe zum sanktionierten Trinken! Soupault berichtet, Joyce habe neben Hochzeitstag, Lichtmess, Heilige Drei Könige und Weihnachten auch die Publikationsdaten seiner verschiedenen Werke gefeiert. Wäre außer schWEINe-essIG etwas anderes von mir erschienen, etwas Ordentliches, Ernstzunehmendes, ein Band mit Erzählungen vielleicht, ein Roman, hätte ich liebend gerne auf diese Anregung zurückgegriffen, aber das Erscheinungsdatum eines Buchs zu feiern, in dem kaffeetasse johann zirpt im kaltbach steht, war wie in Hundescheiße zu treten und sich dabei wohlzufühlen. Und nun ist es höchste Zeit für einen Abstecher zu Molli.
«Noch ein Bier?», hatte Achim zwei Wochen vor der Lesung gefragt, der nun, nachdem er in rascher Folge drei WG-Mitbewohner verschlissen hatte, wieder sein altes Kinderzimmer in der Vorstadt bewohnte. «Gimlet?», fragte ich. Achim dachte nach. «Gimlet?», fragte ich wieder. «Noch ein Bier und dann nen Gimlet?», schlug er vor. «Okay», sagte ich. «Erzähl weiter! Was machen die Frauen.» Achim hatte Pech mit Frauen, seit wir befreundet waren. Zurzeit lief er einer Achtzehnjährigen hinterher; er würde sie nie erreichen. «Ich sitze mit ihr zusammen und stelle sie mir unentwegt nackt beim Squashspielen vor», gestand er flüsternd. «Wieso beim Squashspielen?», fragte ich. «Wieso nackt?», gab er zurück, und diese spaßhafte Bemerkung verriet mehr über ihn, als er ahnte. Erst kürzlich hatte ich Susanne gesagt: «Der hat sich schon so oft mit der Kleinen getroffen, dass jede Berührung unmöglich geworden ist. Sie erzählt ihm in irgendwelchen überfüllten Schülerkneipen von ihren Lehrern, ihren Eltern, von ihrem jüngeren Bruder, was für Musik hörst du, was sind deine Hobbys, und über diesem ganzen Geplapper wird jede Berührung unmöglich. Wenn sie zum vierten Mal nebeneinander im Kino sitzen, kann er ihr nicht mehr zufällig die Hand aufs Bein legen. Wenn sie zum zehnten Mal nebeneinander durch die Stadt gehen, kann er nicht mehr nach ihrer Hand greifen! Der Zug ist abgefahren.» Es passte also ins Bild, dass Achim die Vorstellung ihrer Nacktheit gleichermaßen beunruhigte wie belustigte, und so, wie ich die Lage einschätzte, würde er mir bald von einer neuen Schnalle berichten, bei der er sich große Chancen ausrechnete, und der ganze Zirkus ginge von vorn los.
Achims Unentschlossenheit zeigte sich auch in seinem Aussehen. Mal ließ er sich Koteletten wachsen, mal ein modisches Kinnbärtchen, mal versuchte er, seine vorstehende Oberlippe mit einem fadenscheinigen Schnurrbart zu kaschieren. Er sah sich unentwegt um wie ein schlechter Schauspieler, der in einem B-Picture einen Spion spielt, schien sich nie ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, und der spöttische Ausdruck in den Mundwinkeln war weniger ein Indiz für Arroganz, wie viele meinten, sondern die Folge einer schmerzhaften Unsicherheit in alltäglichen Dingen. Je länger ich über ihn nachdenke, desto deutlicher sehe ich ihn vor mir: Zu kleine Nasenlöcher, Brille, das leicht fliehende Kinn mündet in einen kräftigen Hals mit ausgeprägtem Adamsapfel, Aknenarben. Zog er den Parka aus (ein Kleidungsstück, das er das ganze Jahr über trug), sah man, dass etwas mit seinem Hinterteil nicht stimmte. Es saß zu hoch, wirkte knöchern, war auffällig flach und ziemlich breit; ich verstehe nicht, was Susanne damals in Paris so anziehend an Achim gefunden hatte. Ob er ihr noch gefiel, nachdem er mit ihrer dauerkichernden Freundin das Weite gesucht und uns alleine und verlegen im Hotelzimmer zurückgelassen hatte? «Was machst du denn so», fragte Susanne nach einer Weile. – «Ich schreibe», sagte ich. – «Was schreibst du?» – «Abenteuergeschichten und so Zeugs.» – «Das find ich ja toll. Ehrlich? Kein Witz?» – «Ehrlich …» Und ganz und gar kein Witz!
Seit der Spritztour nach Paris hatte die Zeit ihre Spuren in Achims Gesicht hinterlassen: Falten, Krähenfüße, das Übliche. Außerdem waren seine Wangen ständig gerötet, und früher hatten sie sich nur in aufregenden Situationen verfärbt, an der Tafel im Physikunterricht zum Beispiel, oder als wir auf der Treppe vor der Sacré-Cœur endlich mit den beiden deutschen Mädchen ins Gespräch gekommen waren. Es ist beunruhigend, schreibe ich aus dem hilfreichen Notizbuch ab, mitansehen zu müssen, wie ein Freund altert, wie er fett wird, wie seine Gesichtszüge erschlaffen. Das ist fast so, als trüge man einen riesigen Spiegel mit sich herum, der einem unentwegt zeigt, wie schnell das eigene Leben dem Tod entgegentickt. (…) Allein die Angst, meiner eigenen Vergänglichkeit gewahr zu werden, ist der Grund, warum ich nie zu einem Klassentreffen gegangen bin.
«Geh doch mal mit ihr nackt Squashspielen», hatte ich Achim damals übrigens vorgeschlagen. Konzentriert zog er einem aufgeweichten Bierfilz die Haut ab und zupfte sie Fetzen um Fetzen in den Aschenbecher. «Danke für den Tipp.» Unsere Abende begannen üblicherweise maulfaul. Wir tranken, rauchten, beobachteten die Frauen vom JLB. Doch an jenem Abend, an den ich mich erinnerte, als ich an einem regnerischen Vormittag, genauer gesagt, an dem Vormittag nach der VHS-Lesung, am Küchenfenster stand (hier im Empire-Hôtel gebe ich vor, mich an diesem Vormittag an diesen Abend erinnert zu haben), an jenem Abend in Mollingers Eck also, ich mache es nicht absichtlich so kompliziert, das müssen Sie mir glauben, die Sache ist kompliziert, also an jenem Abend in Mollingers Eck dachte ich an nichts anderes als an Marsitzkys Brief, zwei Gedichte, schnell, schnell, der Brief schlug in meinem Kopf mit den Flügeln wie ein aufgescheuchtes Huhn, schnell, umflatterte es gackernd mein Denken, schnell, schnell, Marsitzky brauchte zwei neue Gedichte «im Stil Ihres schWEINe-essIG-Bandes für eine Anthologie neuer deutscher Literatur», schnell, schnell, gackerte das Huhn in der Weltmaschine, und geheim, geheim. Mit Achim konnte ich nicht über die Sache reden; er war fast ausgerastet, als ich meine bevorstehende Lesung in der Volkshochschule erwähnt hatte. «Trink aus!», sagte ich. «Ich freu mich auf nen Gimlet!» Rascher Überschlag: Drei Bier, jetzt nen Gimlet, dann noch drei, vier Bier, das ist okay. Trinke ich mehr, muss ich auf der Couch schlafen. «Du schnarchst, wenn du besoffen bist», hatte sich Susanne bereits im ersten Jahr unseres Zusammenlebens beschwert. «Und ich hab, weiß Gott, keinen Bock, von einem biergefüllten Aschenbecher angegrunzt zu werden.» Also grunzte der Aschenbecher, wenn er biergefüllt war, diskret auf der Couch, um gegen fünf oder sechs Uhr in der Frühe zu seiner Frau ins angewärmte Bett zu kriechen, wo er die Beine endlich wieder ausstrecken konnte.
«Luftballon», sagte Achim. – «Was?» – «Luftballon dabeihaben», sagte er. – «Versteh ich nicht.» – «Wenn man Saufen geht. Wie in den Bilderwitzen. Da kommen sie auch immer mit einem dicken Luftballon nach Hause.» Achim hatte den Bierdeckel zerrupft und schickte sich nun an, Streichhölzer einzeln aus der Packung zu nehmen, um sie in kleine Stückchen zu brechen, die er ordentlich nebeneinander auf dem Tisch aufreihte. Der Zuckerrand des Gimlets knirschte an meinen Zähnen, ich nahm einen großen Schluck und zeigte Molli, als er in unsere Richtung schaute, einen aufgerichteten Daumen, schnell, schnell, flatternder Brief auf dem Hühnerhof, zwei Gedichte, schnell, schnell. Später mehr davon. Ich muss aufhören. Brauche eine Pause. Hier bin ich wieder! Ich habe nachgedacht. So haut das nicht hin. Ich sitze mit Achim im Leeren. Zwar heißt diese Leere Mollingers Eck, hat also einen Namen, aber das bringt uns nicht weiter. Um die Leere zu füllen, muss ich das Innere der Kneipe beschreiben. Damit ich Sie und vor allem mich dabei nicht langweile, lege ich einfach eine Weltkarte über Mollingers Eck. Passen Sie auf! Das wird klasse!
Man betritt die Kneipe durch eine Tür am Nordpol, rechter Hand räkelt sich der Tresen (Nord- und Südamerika), dahinter geben offene Butzenglastüren den Blick auf Gläser und Humpen frei, langsam, langsam, wir haben Mollingers Eck eben erst betreten, noch bohren sich unsere Blicke in eine Wand aus Zigarettenqualm, dahinter brodeln Gespräche, Gelächter, und hinten ist der Übungsplatz, jemand mit einer vor Aufregung vibrierenden Fistelstimme sagt ein unanständiges Gedicht auf, da ballern die Kanonen, allmählich gewöhnen sich die Augen an den Qualm, die Ohren an den Lärm, alte Sau, du, der Körper an das Gedränge, Prost, Männer, klirrend vereinigen sich Gläser im Zenit des Stammtischs, links des polaren Eingangs verbirgt die Garderobe zwei Tische, Europa, Asien, Achim und ich sitzen immer am europäischen Tisch, der vorsichtige Achim mit dem Rücken zur Garderobe, im optischen Windschatten, ich mit freier Sicht zum Tresen, zum Stammtisch (Australien), du altes Ferkel, und zum Stehtisch, der sich mitten im Raum erhebt wie ein langstieliger Pilz oder, um im schiefen Bild zu bleiben, das ich unbarmherzig zu Tode reite, wie ein winziges, quadratisches Afrika auf einer Stelze; hier trinken die hübschen Frauen vom JLB nach dem Training Diätcola und Orangensaft; und um Ihnen auch wirklich alles zu zeigen, drehe ich den Kopf nach Norden, blicke aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemüht sich eine trostlose Laterne, die Auslagen der Eisenwarenhandlung Drach zu erleuchten, hin und wieder streichen die Lichtfinger eines Autos über die Fassade, dringen durch die Scheiben von Mollingers Eck, entziffern in unbeholfener Hast den Rauputz, begutachten die gerahmten Fotos der historischen Vorstadt, etwa das bräunliche Bild über dem Stammtisch, das unser Nachbarhaus inmitten einer Wiese zeigt, ein Foto aus den unvorstellbaren Zeiten vor den Fahlmanns. Philip K. Dick, der ungekrönte König in Sachen schleichender Paranoia, hätte darin eine Collage vermutet und mit dem Aufschrei: «Ich habs ja schon immer gewusst!» durch die Wand gefasst: Alles ist Täuschung, alles ist Trug.
«Man müsste wahre Namen für alle Berufe entwickeln.» – «Wahre Namen?», fragte ich. – «Der Imker. Er klaut den Bienen den Honig und stellt ihnen Zuckerwasser hin. Müsste eigentlich Bienentäuscher heißen.» – «Oder Kregel», warf ich ein. – «Was bitteschön ist ein Kregel?» – «Eine Berufsbezeichnung. Beruf: Kregel.» Den Kregel musste ich mir merken. «And never forget the good old», das nächste Wort bettelte danach, laut gerülpst zu werden: «BLUMENWURST!» So und nicht anders waren die Erstversionen meiner schWEINe-essIG-Gedichte entstanden. Ich spreche hier bewusst von meinen Gedichten; Achim hätte unser Herumgealber nie in halbwegs brauchbaren Text verwandeln können. Und außerdem hatte er ja darauf bestanden, nicht als Co-Autor genannt zu werden. Dass ihm das jetzt Kummer macht, ist nicht mein Problem. Die Hälfte des Honorars! Lies doch selbst in der VHS, du Faulbacke! Geld will er haben! Diese Schnapsidee ist bestimmt nicht auf deinem Mist gewachsen! Nicht aufregen, schnell, schnell, zwei Gedichte. «Kregel ist doch nicht schlecht», hoffte ich. – «Geht so. Warum fragst du?» – «Ich möchte, dass mein Sohn eines Tages ein Kregel wird.» Achim sah mich nachdenklich an, aber ich verschwieg ihm auch weiterhin, dass ich es gerade bewusst darauf anlegte, brauchbare Ideen, wenn möglich sogar Notizen, zu erbeuten; und tatsächlich entwickelte sich kurz darauf aus einem harmlosen Geplänkel ein großartiger Entwurf. Alles fing damit an, dass Achim stöhnte: «Ich brauch unbedingt nen Job. Aber einen, bei dem ich wenig arbeiten muss!» – «Werd doch Außenminister des Universums», sagte ich. – «Aber das Universum krümmt sich doch in sich selbst hinein.» – «Dann werd Drontenminister!», sagte ich und taumelte einige Stunden später heimwärts, einen vollgekritzelten Bierdeckel in der Hand: Wenn sich das Universum / In sich selbst zurückkrümmt, / Bin ich eigentlich Innenminister, / Dachte der Außenminister des Universums, / Der viel lieber Drontenminister wäre, / Denn dann hätte er / Überhaupt nichts zu tun. //






