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Bevor ich zu Bett ging, motzte ich diese auf der Kneipentoilette heimlich notierten Zeilen mit den sattsam bekannten Zaubertricks der Lyrischen Moderne auf, legte den Bierdeckel auf die Speichertreppe, die seither bestimmt an Alpträumen leidet, und tippte am folgenden Tag:
das universum es krümmt sich in
krümmt sich in sich selbst zurück in
krümmt es sich zurück also bin ich ja ich
innenminister wenn es sich zurück es sich
krümmt das universum meine ich in sich
in krümmt es sich so dachte der außen
minister des universums ach dronten
minister ach drontenminister ach wäre
viel lieber drontenminister bitte dronten
minister universum bitte bitte dronten
minister ach drontenminister dort unten bitte
Zusammen mit meinem zweiten Meisterwerk, ich sage nur: kregel, ich sage nur: BLUMENWURST, kam das Gedicht in einen Umschlag, z. Hd. von Herrn Rolf Marsitzky, Briefmarke drauf, Jens, könntest du mir bitte einen Gefallen, klar, Papa, und schon hüpfte er mit dem drontenminister die Treppe hinab. Ich freue mich sehr, dass Sie beim Zusammenstellen Ihrer Anthologie an mich gedacht haben … Oh, wie ich Marsitzky hasste! Diesen größenwahnsinnigen Scheißkerl mit seinem großspurigen Gehabe! Er hatte mich seinerzeit durch den Verlag geführt, als gehörte alles ihm persönlich, von der Sekretärin bis zum Fotokopierer, und dabei war er bloß der kleine Gott von nebenan, ein wie ein Primus wirkender Emporkömmling im Designeranzug, Lektor für deutsche Gegenwartsliteratur, in der Jury zahlloser Literaturpreise, ein ahnungsloses Arschloch mit Seepferdchenkrawatte, das in alles reinreden musste. So hatte es in der mond-schein-parade eigentlich heißen sollen:
oma kruse und h. c. affmann
betütelt im «chez darwin»
und nicht:
oma kruse und h. c. knolle
im kurhotel «thoelke»
«Chez klingt wie eine Verballhornung des Vornamens Charles», hatte ich Marsitzky vergeblich zu überzeugen versucht, «aber andererseits gemahnt es an einen Kneipennamen. «‹chez darwin›». Verstehen Sie? Das ist symbolisch. Affenhaus Welt. Die Welt ein Tollhaus. Nur deshalb heißt es gleich in der ersten Zeile h. c. affmann, wobei ich hier zwei weitere Scherze verborgen habe. Zum einen spiele ich damit …» – «Herr Fahlmann!», unterbrach Marsitzky ungerührt. «Ich denke, Sie haben nicht verstanden. Solche», er litt, «Scherze passen nicht zum Image unseres Verlagshauses. Ich kann Ihnen aber eine geistreiche Alternative vorschlagen.» Und so wurde «chez darwin» zum kurhotel «thoelke» – in meinen Augen der fürchterlichste Fehlschlag der Evolution. Nein, das möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen, möchte ich eigentlich nie vertiefen. Jedenfalls klingelte einige Tage, nachdem ich den drontenminister abgeschickt hatte, das Telefon, und Marsitzky begann grußlos: «Ihre Gedichte der weltbeste», Schlucken, «kregel und, äh, krümmungen des inneren außenministers reißen mich nicht vom Hocker.» Ich atmete Angst in den Hörer, und mein Lektor verlangte unwirsch zu wissen, was Dronten seien. «Vögel», erklärte ich verdutzt und bemühte mich, nicht herablassend zu klingen. «Ausgestorbene Vögel. Auf Madagaskar …» Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob die Dronten auf Madagaskar gelebt hatten, und fügte ein klägliches «oder so» hinzu. «Das versteht keiner», sagte Marsitzky. Mauritius? Haben die Dronten nicht auf Mauritius gelebt? «Soll ich die Dronten-Zeilen weglassen?», fragte ich. Natürlich haben die Scheißvögel auf Mauritius gelebt!
«Nein, Sie sollten das ganze Gedicht weglassen! Vergessen Sie, dass Sie es jemals geschrieben haben! Es hat nicht das Niveau der schWEINe-essIG-Texte.» Niveau! Seit wann haben die schWEINe-essIG-Texte Niveau? Kann Kotze sprechen? Ernährt sich ein Tasmanischer Nacktnasenwombat von Altmetall? Wer ist unser lustiger kleiner Hauptbahnhof? Die schWEINe-essIG-Texte und Niveau! Dass ich nicht lache! Am liebsten hätte ich Marsitzky gesagt, wie seine «niveauvollen» Gedichte entstanden waren. Ich holte tief Luft. «Ich könnte Ihnen eine kleine Erzählung …» – «Herr Fahlmann! Die … ja … das mit Ihren Prosatexten haben wir zur Genüge durchgekaut. Ich brauche Gedichte, die mindestens die Qualität Ihrer alten Arbeiten haben. Zwei Gedichte! Gehobene Qualität! Spätestens nächste Woche. Guten Tag.» Er legte so schnell auf, dass mir das unausgesprochene «Auf Wiederhören!» wie Blei auf der Zunge liegen blieb. Nächste Woche. Muss mir beim Saufen wieder Notizen machen. Nicht mal in Frieden saufen lassen sie einen! Gehobene Qualität. Stehe ich unter Druck, klappt nichts, drontenminister, und kaum ist der Druck weg, kregel, schreib ich vier Gedichte auf einen Schlag. Muss aufpassen, dass Achim nichts mitkriegt. Qualität! Wenn Marsitzky «Qualität» sagt, klingt das verdächtig nach Güteklasse A. Weiß der Arsch nicht, was Dronten sind! Natürlich haben die auf Madagaskar gelebt. Nein, Mauritius. Vor der Weltkarte. Zumindest in der Nähe von Madagaskar. Östlich davon. Kein Kreuz drauf. Klar. Kenne auch keinen, der dort war. Irgendwann muss jemand die Marsitzkys ausrotten, flugunfähige, nacktgesichtige Saumenschen.
«Was ist denn mit dir los?», fragte Susanne. Ich zeigte aufs Telefon. «Marsitzky.» – «Er wollte die Texte nicht?» – «Nein. Er will andere Texte. Güteklasse A.» – «Und was bedeutet das?» – «Viel Bier und auf der Couch schlafen!» Susanne hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Ihr Glück! Einmal hatte sie mich gefragt, ob es mir auf Dauer nicht langweilig würde, jeden zweiten Abend mit Achim in Mollingers Eck zu verbringen. «Ich denke nicht», antwortete ich, «dass mir das jemals langweilig werden wird!» Unser Platz hinter der Garderobe, heißt es im Notizbuch, gehört zu den wenigen Orten, wo ich mich wohlfühle und die ich Heimat nennen könnte. Heimat – sofort fällt mir mein Lesesessel ein: Nacht für Nacht erwartete er mich inmitten eines Lichtkreises, den die betagte Stehlampe mit dem großmütterlichen Schirm auf den Schlafzimmerteppich warf, sattgelbe Insel, auf dir treibe ich davon, ein Buch in Händen, die Tapeten verblassen, die Zeilen verschwimmen, Buchstaben verdichten sich zu Bildern, Raumschiffe, Serienmörder, und lediglich das Umblättern lässt die Wirklichkeit in Form einer schlafenden Schönen aufflackern, deren nackte Beine unter der Bettdecke hervorkommen, ovale Schattenteiche in den Kniekehlen. Susannes Haar ein auf dem Kissen liegender Fächer, neben dem Bett zerknüllte Söckchen, nahe der Tür ein abgestürzter BH mit verdrehten Schwingen – rasch blättere ich um und gleite kaum mehr Leib zwischen den Seiten davon.
Selbstverständlich fühlte ich mich auch in der Küche wohl, eine Tasse auf der Fensterbank, den Notizblock daneben, dieses Halbleben zwischen Schlaf und Arbeit am Fenster, dieses träge Fischen nach Erinnerungen, dieses manische Umkreisen der eigenen Identität. Montags und mittwochs ging es danach zum Sargschleppen, manchmal musste ich auch zur Uni, aber am angenehmsten waren, ehrlich gesagt, die Tage, an denen ich mich nach der dritten oder vierten Tasse nicht zum Schreiben durchringen konnte und mich wieder ins ausgebombte Bett legte. Lesesessel, Küchenfenster, Bett, eigentlich habe ich mich im ganzen Haus wohlgefühlt – sogar manchmal am Schreibtisch auf dem Dachboden, obwohl ich es dort mit einer vorwurfsvoll glotzenden, störrischen Schreibmaschine zu tun hatte, der es immer wieder gelang, die flüssigsten Gedanken in holzig daher klappernde Sätze voller Anachronismen und schamloser Rechtschreibfehler zu verwandeln. Ob ich mich in dem Haus so wohlfühlte, weil ich darin meine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Ich stieg die Treppe hoch, und das vertraute Knarren einer Stufe verwandelte mich in einen Siebenjährigen; nachts schloss ich behutsam die Haustür auf, ein Jugendlicher, der sich bemüht, leise zu sein, damit die Eltern nicht merken, wie betrunken er ist; alle Gegenstände sprachen zu mir; im Herzen des Hauses wartete mein ehemaliges Kinderzimmer; und in den Aschenbechern auf dem Dachboden spukte der Geist meines Vaters. Für Susanne wären derartige Überlegungen Wasser auf die Mühlen ihrer Lieblingsthese: Du lebst zu viel in der Vergangenheit etc. «Und was ist daran schlecht?», hatte ich sie einmal gefragt. «Schlecht?» Sie überlegte. «Du lebst nicht in der Gegenwart.» – «Lebst nicht in der Gegenwart», äffte ich sie nach. «Was für ein Unsinn! Natürlich lebe ich in der Gegenwart. So wie du und Jens und Was-weiß-ich-wer-noch! Ich denk halt viel über das Vergangene nach. Daran ist nichts Verwerfliches. Das ist normal! Manche machen es sich leicht im Leben, andere etwas schwerer.»
Diese Plattheit in den Ohren erscheine ich auf der Straße vor meinem Elternhaus. Den Nachbarn ist es ein Dorn im Auge. Ich kenne jeden Riss in der Fassade, das fleckige Rot der Ziegeln, die lecke Dachrinne, unter der Jahr für Jahr die Mauersegler nisten. Die Straße, die ich nun in Gedanken westwärts gehe, führt schnurstracks in die Innenstadt. Gegenüber der Metzgerei Kundel steht eine Tankstelle aus den fünfziger Jahren, deren futuristische Mütze, ein steil emporschwingendes Stück Beton, sich gut auf dem Titelbild eines SF-Groschenhefts gemacht hätte. Der Tankwart grüßt, ich grüße zurück und komme wenige Minuten später an der Bäckerei Gallinger vorbei, Jasmin steht mit bloßen sonnengebräunten Armen hinter der Theke, wir brauchen ja nicht über Literatur zu reden, Kleines, deine Wimpern, die langen, deiner Augen dunkele Wasser, sie sieht mich nicht, ich beschleunige, renne fast. Hinter der nächsten Kreuzung rotten sich etliche Geschäfte zusammen, Obst und Gemüse Kleibon für Susanne, Getränkeboutique Nobbinger für Heinz, der weiße Klotz des Zebra-Markts für uns alle. Kauft man hier ein, sagt man: «Ich gehe ins Dorf.» Läuft man jedoch weiter in westliche Richtung, wie ich es jetzt in Gedanken tue, überschreitet man bald die unsichtbare Grenze, die «das Dorf» von «der Stadt» trennt. Sofort werden die Häuser mondäner, höher, rücken enger zusammen – in den überseeischen Mustern einer bedrohlichen Fremde. Ich muss umkehren! Hier gefällt es mir nicht. Also gehe ich zurück, biege nach etwa einem Kilometer in eine Seitenstraße, Staubwolken hängen über dem Gelände einer Baustoffhandlung, das Kreischen von Kreissägen kommt vom Schrottplatz, Brachland, dann wieder Häuser und endlich stehe ich, ein Pilger, dessen Reise ein jähes und beglückendes Ende nimmt, vor Mollingers Eck.
Ich entsinne mich mit Wehmut, wie Heinz mich an meinem fünfzehnten Geburtstag in seine Stammkneipe eingeführt hatte, die damals noch reichlich prosaisch Das Eck hieß. «Wer Haare an der Knolle hat», sagte er, als er mich seinen Saufkumpanen vorstellte, «darf auch einen heben!» Vater war nicht sonderlich begeistert, dass ich meine Samstagabende von nun an in einer Kneipe verbrachte, aber was wollte er tun, hatte ich doch in Onkel Jörg einen eifrigen Fürsprecher. Und so begann die Zeit des Taumelns, des In-den-Rinnstein-Kotzens, ich trinke mein erstes Bier auf ex, das Licht bricht sich in den Waben vorüberziehender Literhumpen, alles dreht sich, spielt Karussell, wie ein Möbiusband verbiegt sich der Heimweg ins Endlose, und mit dem Klappern des Frühstücksgeschirrs steigen befremdliche Bilder aus dem betäubten Kopfkissen. Dann kam die Zeit der Angst: Das Eck wechselt den Besitzer! Doch Mollis liebenswürdige Regentschaft übertraf alle Erwartungen. Seitdem sah man Heinz jeden Abend mit Nobbinger und Bäuchel am Tresen; er füllte die Aschenbecher, bestellte ein Bier nach dem anderen und kam jedes Mal, wenn ich mich mit Achim am europäischen Tisch besoff, auf ein Bierchen zu Besuch, ohne sich anmerken zu lassen, dass er meinen Freund nicht ausstehen konnte. «Nimm schon!», sagte er und stocherte mit der Zigarettenschachtel vor Achims Brust herum, erzählte einen Witz, zwei Witze, drei Witze, dann kehrte er zum Tresen zurück, von wo man ihn bisweilen eine Sauerei brüllen oder hemmungslos rülpsen hörte. Mal beneidete ich ihn um diese Unkompliziertheit, mal bekümmerte mich die gleichförmige Melodie seines Lebens, gestört durch den Missklang einer verborgenen Familie im Hintergrund. Für mich hatte Heinz immer zu unserer Familie gehört. Er aß mittags bei Onkel Jörg (Chilibohnen waren ihre Spezialität), und schon als Kind hatte es mich in Erstaunen versetzt, dass Heinz nicht Fahlmann hieß. Von ihm bekam ich die tollsten Geburtstagsgeschenke (Messer, Luftpistole, Wehrmachtshelm); als mich die Schachtsträßler auf dem Kieker hatten, holte er mich einen ganzen Monat lang mit der Vespa von der Schule ab; spucks aus, Junge, wie viel Dollar fehlen dir noch zu deinem Moped? Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Heinz vermisse, und werde das ungute Gefühl nicht los, ihm meine Zuneigung zu wenig gezeigt zu haben. Aber damals lebte ich hinter Glas.
Widerwärtig alltägliche Probleme wie ein zur dämonischen Schreckgestalt aufgeblähter Marsitzky verstellten mir den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge. Meine Freunde wussten nichts davon. Sie durften nie von meinen Schwierigkeiten mit Marsitzky erfahren. Winkler, weil es ihn nichts anging, und mit Achim redete ich hauptsächlich über Sex (allgemein), Biertrinken (speziell) und das lästige Studium – aber meistens machten wir Quatsch. Mit professionellem Geschick vertrieben wir unliebsame Tischgenossen, irgendwelche Trottel, die Achim von seiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr kannte, und die ihn «Flacharsch» nannten. Ein Dummes Gesicht setzt sich zu uns an den Tisch, Flacharsch und so weiter, hahaha, Herrenwitze, und plötzlich fragt Achim mich in beiläufigem Tonfall: «Was haben wir denn damals eigentlich gekriegt, als wir das Mittelmeer ausgehoben haben.» – «Fünfhundertvierundvierzig Mark die Stunde», sage ich. «?», macht das Dumme Gesicht. «Der Sack, der die Alpen aufgeschüttet hat, hat sechshundert Mark bekommen», fahre ich mit Bedacht fort und erkläre unserem neuen Freund herablassend: «Höhenzulage.» – «Die brauchen uns bald wieder», sagt Achim. «Die Verschalung ist undicht.» – «Das wird teuer», seufze ich. «Alles abpumpen, die Muscheln abkratzen, der Sand muss rundumerneuert werden, Unterbodenwäsche, dann Silikon in die Fugen – wird ein scheißteurer Spaß!» In dieser Art machten wir weiter, bis dem Dummen Gesicht die Sicherungen im Kopf zu qualmen begannen, und es genervt das Weite suchte. Besonders peinigend empfanden die Typen von der Freiwilligen Feuerwehr unsere offenkundige Unkenntnis in handwerklichen Universalien. Der Achter Schlüssel, die Zwölfer Nuss, die mächtige Hilti waren die schwarzen Trümpfe, die, falsch ausgespielt, die Hände des hartgesottensten Handwerkers zum Zittern brachten. Nur gegen Onkel Jörg gab es keine Allzweckwaffe.
Hönk, hönk, der Transit fährt vor, Onkel Jörg betritt Mollingers Eck, begrüßt die Anwesenden mit einer kreisenden Handbewegung, die einen Heiligenschein in den Zigarettenqualm über seinem Kopf zeichnet, zischt mit Heinz ein schnelles Bier am Tresen, tritt dann an unseren Tisch, mimt den Zerknirschten und versucht mit einigen Fragen, den Grad meiner Trunkenheit zu ermitteln. Achims Gesicht ist längst zur Grimasse erstarrt, aber so verdiene ich mein Geld! Im Nachhinein hat sich immerhin eine Nachtfahrt mit Onkel Jörg gelohnt, jene Fahrt nämlich, als ich mich aus heiterem Himmel an Sonettkränze erinnerte. Bestehen aus fünfzehn Sonetten, rekonstruierte ich, während die Sargkanten den Putz von den Wänden eines Treppenhauses schabten, der Schlussvers des ersten Sonetts ist der Anfangsvers des zweiten und so weiter. Mich interessierte vor allem das Meistersonett, das sich aus den ersten Zeilen der vierzehn Kranz-Sonette zusammensetzte. Erste Worte! Nun wusste ich, was ich Marsitzky schicken würde! Letzte Worte! Die erste Zeile des ersten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile meines Gedichts erste worte; die zweite Zeile des zweiten Gedichts der mond-schein-parade bildet die zweite Zeile; die dritte Zeile des dritten Gedichts bildet die dritte Zeile und so fort …
erste worte
unfug mit dem feuerlöscher
oben am jong bösch
peilt gott lotrecht im eimer
komm mal mit mein kleines
duseln nattern durch krummbüsche
steh kopf, schwammenwald!
schwester inge! ihr busen!
deine kleine raupe
Bei den letzten worten verfuhr ich umgekehrt: Die letzte Zeile des letzten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile, die vorletzte Zeile des vorletzten Gedichts bildet die zweite, die vorvorletzte Zeile des vorvorletzten Gedichts die dritte Zeile – mochte Marsitzky daran verrecken!
letzte worte
deine kleine raupe
oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst
très joli! pierre oiseau:
plätten maulwurfshügel maulwurfshügel
nack-tack-tack so dunkel
hat tee in der tube (7 liter und mehr)
oben am jong bösch
unfug mit dem feuerlöscher
Die kleine Raupe beschloss die ersten worte, die kleine Raupe eröffnete die letzten worte, krümmte sich und bildete einen weichen Kreis. «Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles», sagte die Raupe; und damit steckte sie die Wasserpfeife wieder in den Mund und schmauchte weiter. Auch der unvorhergesehene, aber durchaus willkommene Umstand, dass die letzte Zeile der letzten worte nicht nur identisch mit der ersten Zeile der ersten worte war, sondern auch – oh, Wunder! – mit der ersten Zeile des Eröffnungspoems der mond-schein-parade, gab den ersten beiden Gedichten meiner Nachkregelphase ein spielerisches, fast magisches Flair. Bestürzt über den Stolz auf diese lyrischen Bastelarbeiten brachte ich sie noch in der Nacht zum Briefkasten. Am Fenster. Schlechtes Wetter. Genau … Ich stehe am Fenster. Ich rieche den Geruch der Wohnung, ein Wasserhahn tropft. Mittlerweile hatte der Wind gedreht, peitschte Regen gegen die Scheibe und machte unser Haus zum Unterseeboot, das sich in einer versunkenen Stadt verfranzt hat; gluckernd füllte sich die Thermoskanne; Zeit verging; Großvater rief an: «Hast du die Lesung gut überstanden?»
«Mehr oder weniger», sagte ich.
«Du hast ausgezeichnet gelesen.»
«Danke.»
«Genieß es doch einfach als Schauspiel!»
«Das sollte man tun», murmelte ich, hatte aber keine Lust, mit ihm über meine literarische Karriere zu reden, erste worte, letzte worte, ich war gespannt, wie Marsitzky meine Spaßpost aufnehmen würde, und hoffte fast, er würde seiner Sekretärin einen kühlen Brief diktieren, so nicht, Herr Fahlmann, eine knappe Mitteilung, die unsere demütigend einseitige Verbindung beendete. «Das sollte ich wohl tun», sagte ich und lenkte das Gespräch mit einem ungeschickten, aber bestimmten Ruck vom Hauptgleis Fürchterliche Lesung auf ein Nebengleis: «Was liest du zurzeit?»
«Vera christiana religio. Eine Schrift von 1771.»
«Du liest religiöse Traktate?»
«Nicht direkt», lachte Großvater. «Das Buch ist kurios. Momentan erfahre ich zum Beispiel, dass es zwei jenseitige Londons gibt.»
«Jenseitige Londons?»
«Ein London der Hölle und ein London des Paradieses. Das ist mit allen Städten so.»
«Soso», bemerkte ich befangen, «das ist ja wirklich kurios.» Ich gab mir Mühe, noch ein wenig mit Großvater zu plaudern, aber irgendwie fehlte mir der rechte Schwung. Als ich auflegte, starrte mich Om fassungslos an. Ich starrte zurück, er ließ sich seitlich umfallen, streckte einen Hinterlauf in die Höhe und widmete sich voller Behagen einer schamlosen Intimhygiene. Ich sah ihm eine Weile dabei zu, ging dann in die Küche zurück, legte die tropfende Filtertüte behutsam auf den Unrat, der den Deckel des Mülleimers anhob, schraubte die Thermoskanne zu und stellte mich wieder ans Fenster. Dahinter ging das Leben weiter: Heinz und Onkel Jörg luden einen leeren Sarg in den Transit, einen Wulstsarg mit gekernter Blattschnitzung in Eiche, altdeutsch, 3.530,– DM, gehobene Mittelschicht. Kürzlich hatte ich Winkler belehrt: «Wenn jemand einen Sarg bestellt, sieht man sofort die Wohnung des Bestellers vor sich.» – «Man kann vom Sarg auf die Wohnung schließen?» Winkler steckte sich einen Zigarillo an. «Klingt logisch.» Konzentriert betrachtete er die glimmende Spitze. «Wie sind eigentlich eure Preise?» Ich berichtete von unserem billigsten Modell, dem Einfachen Kiefernsarg. «Damit niemand auf die Idee kommt, seine Verwandten darin beerdigen zu lassen, haben wir den Sarg im Katalog mit dem listigen Zusatz zur Feuerbestattung versehen. Er kostet 1.228,– DM. All unsere Preise verstehen sich zuzüglich unvermeidbarer Fremdkosten wie städtischer Gebühren (Friedhof, Sterbeurkunde, Träger) und einer Todesanzeige, deren Formulierung mir obliegt. Ich habe einen Ordner angelegt, da steht alles drin – vom simplen Hier ruhen die irdischen Reste meines zu früh entschlafen Gatten bis zum blitzgescheiten Hodie mihi, gras tibi für den Herrn Doktor Schlauberger.
Außerdem», zitierte ich aus unserer Werbebroschüre, um Winkler zu beeindrucken, «beinhalten die Preise innerörtliche Überführung, Sargausstattung (Decke, Kissen, Standardbekleidung), Einbetten, Erkennungskreuz, Deckelkreuz, Deckelstrauß, Erledigung aller Formalitäten und Besorgungen sowie Betreuung vor, während und nach der Trauerfeier, was natürlich völliger Stuss ist. Betreuung nach der Trauerfeier! Ich weiß nicht, was Onkel Jörg sich dabei gedacht hat! Etwas teurer als der Einfache Kiefernsarg ist unser Kiefernsarg, hier muss man schon 1.825,– DM berappen. Wesentlich kostspieliger sind altdeutsche Eichensärge und besonders die schicken Designersärge in italienischer Bauart. Ein Nussbaumsarg kostet 4.395,– DM, ein Mahagonisarg 5.330,– DM, aber der absolute Spitzenreiter ist ein Geschoss mit Wänden aus 6 cm starkem Nussbaumholz für satte 8.145,– DM, ein Prachtsarg, in dem sich, laut Katalog, die hohe Kultur eines noblen Stils spiegelt.» Das Thema begeisterte Winkler, aber bei jemandem, der glasige Augen bekam, wenn er von indizierten Splatterfilmen sprach («Einmalige Gelegenheit! US-Export!»), deutete eine unschuldige Frage wie «Was bitteschön ist ein Erkennungskreuz?» auf mehr als nur höfliches Interesse hin. «Eine Art Tafel», antwortete ich, «die anzeigt, wo der Tote liegt, bevor man den Grabstein aufstellen kann.» Winkler machte eine ungeduldige Handbewegung, und ich führte aus, dass man mit dem Aufstellen des Grabsteins einige Wochen warten müsse, bis sich der Boden gesetzt habe.
Ob es normal ist, dass Menschen, zu denen man kein herzliches Verhältnis hatte, in der Erinnerung rascher zur Karikatur werden? Heute nämlich scheint mir der Schauspieler, der im Schattentheater meines Gedächtnisses den Winkler gibt, ein gnadenlos übertreibender, drittklassiger Schmierenkomödiant zu sein. Er bewegt sich schwerfällig; seine näselnde Sprechweise vermittelt den Eindruck ständigen Gekränktseins; er hängt in den Polstern des Wohnzimmersessels wie eine schlaffe Puppe, die sich bemüht, gleichzeitig wissend, gelangweilt und desinteressiert auszusehen. Auf der Suche nach der Bierdose krabbelt seine Hand spinnengleich über die Dielen … erst der Sessel hat Gestalt angenommen … auf einem Puzzlestück des Holzfußbodens … rotbraune Wellenlinien umgeben langgezogene Ovale … die Maserung ähnelt den Abbildungen von Höhenschichten in einem Schulatlas … unter den vorderen Sesselfüßen erkenne ich die Bierdeckelstapel, mit denen wir die leichte Neigung des Hauses ausgleichen – und da heben sich die Kulissen des restlichen Wohnzimmers aus dem Nebel, verlieren ihre Durchsichtigkeit und gehen vor Anker, während fleckige Dielen unter dem Sessel hervorschießen und am Bühnenrand auf eine hölzerne Scheuerleiste prallen, von der seit unserem Einzug die Farbe blättert. Man kann ihn bisweilen steuern, diesen rätselhaften Mechanismus des Erinnerns. Nun sehe ich das Wohnzimmer wieder klar vor mir, sehe Winkler, der mit dem Rücken zur geschlossenen Flurtür Hof hält; links von ihm führt eine angelehnte Tür in die Küche; ihm gegenüber steht die Couch, auf der ich mit übereinandergeschlagenen Beinen sitze – am jähen Abgrund des Orchestergrabens. In der Ecke hinter Winklers rechter Schulter nehmen die Blätter eines deckengreifenden Ficus benjamina dem ungeduldig hüstelnden Publikum den Blick auf meine «seriösen» Bücher; ein Platzanweiser mit weißem Haar deutet in nicht nachvollziehbarer Erregung auf Susannes Schreibtisch (rechter Bühnenhintergrund); davor erhebt sich der schwarze Turm der Stereoanlage; und vorne, fast schon auf der Vorbühne, rankt sich Topfefeu zum blinden Auge des Fernsehers hinab. Die Blumenampel ist fast so alt wie Jens (Susanne hat den Makramee-Kurs ein halbes Jahr nach seiner Geburt besucht um ihrer Schwangerschaftsdepression Herr zu werden) …
WINKLER Du musst Vorell lesen!
FAHLMANN Wen? Sinnend betrachtet er die Sacknaht am Filter seiner Zigarette.
WINKLER schnaubend: Vergiss es! Lies weiter Karl May!
FAHLMANN Ich lese nie Karl May!
WINKLER Karl May ist klasse!






