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Er kehrte in einem Zustand mitteilsamer Auflösung zu den Zelten zurück; Hennig erwartete ihn mit einer zerbeulten Blechkanne und einer Tasse ohne Henkel. «Hier, trinken Sie einen Kaffee. Sie sehen aus, als ob Sie im letzten Augenblick dem Schlund eines Löwen entkommen wären! Zucker? Zu stark?»
«Auf gar keinen Fall. Nehmen Sie keinen Kaffee?»
«Ich habe schon. Sie sollten einen bewaffneten Boy mitnehmen, wenn Sie sich vom Lager entfernen.»
«Unglaublich, dass es Leute gibt, die ihr Leben ohne Kaffee fristen!» Bahlow leerte die Tasse, die Zelte wurden abgeschlagen und verstaut, dann marschierten sie weiter.
«Eine Frage, Doktor Bahlow! Haben Sie sich jemals mit der Paläontologie beschäftigt?»
«Nicht näher …» Er kratzte sich unauffällig am Oberschenkel. «Meine paläontologischen Kenntnisse beschränken sich auf die Beobachtung von Silberfischchen in Pariser Hotelbadezimmern.»
«Na, immerhin!», sagte Hennig, und Bahlow beeilte sich hinzuzufügen, er habe durchaus vor, seine Defizite in dieser jungen Wissenschaft («in dieser im Vergleich zum untersuchten Gegenstand bestürzend jungen Wissenschaft») mit Hennigs freundlicher Hilfe wettzumachen.
«An mir soll es nicht liegen», lachte Hennig, und die Art, wie er Bahlow dabei ansah, ließ diesen argwöhnen, dass er dem jungen Mann leid tat. Seltsam. Er tat Hennig leid. Das muss man sich erst einmal vorstellen! Er, der mittlerweile eine Monographie über James Cook hätte schreiben können, tat Hennig leid! Und gleichzeitig tat ihm Hennig leid, eigentümlich, die Überlegungen bogen sich zum Kreis, dieser begann zu rotieren, und ehe Bahlow schwindlig werden konnte, brachte er den Kreis zum Stillstand, indem er ihn in Gedanken energisch durchstrich. Gleichzeitig blieb auch Hennig stehen und zog den Kompass zu Rate. «Es geht immer nach Nordosten.» Die Nadel zitterte unter dem streng prüfenden Blick. «Nur ein Narr könnte den Tendaguru verfehlen.»
«Und was ist das?», fragte Bahlow und deutete mit der Wasserflasche auf eine Schirmakazie, in deren flachgedrückter, schiefer Krone seltsame Früchte baumelten.
«Nester des Webervogels.»
«Vogelnester?»
«So ist es», lachte Hennig.
«Schön», sagte Bahlow. «Und ich dachte schon …»
«Was dachten Sie?»
«Nichts», murmelte er. Dieser niederländische oder war es ein flämischer Maler, der diese Kreaturen, als sie am Strand spielten, schwarzweiße Reproduktionen in einem illustrierten Journal, am Strand, der eine Eule fliegen ließ, die Hitze lähmte das Denken am Strand, seine Füße marschierten im Rhythmus gedachter Lieder, eine Eule fliegen ließ, bei jedem Schritt blinkten Silben im Kopf auf, un, be, klei, det, am, Strand, ahh, ohh, uhhh, Bahlow erlief Worte, ganze Sätze, die Zeilen eines vulgären Gassenhauers, und nur in den kurzen Pausen zwischen Kehrreim und nächster Strophe war die ferne Stimme seines Begleiters zu vernehmen. Gelegentlich wurde es jedoch, und das war sehr schlimm, totenstill, und Bahlows Gedanken segelten auf den stygischen Gewässern einer bangen Gewissheit voraus. Dennoch war es nicht zu leugnen, dass man ihn sah. Hennig sah ihn. Die Neger sahen ihn. Und es war ebenfalls nicht zu leugnen, dass sein Herz schlug. Und wie es schlug! Nanu? Was hatte diese Aufregung zu bedeuten! Humba, humba, täterä! «Was sagen die?»
«Sie wollen, dass Sie mitkommen», übersetzte Hennig.
Von nun an riefen die Träger fast viertelstündlich Bahlow herbei, um ihm einen Käfer oder ein großes Insekt zu zeigen und danach strahlend zu beobachten, wie der Käfermann es durch einen eleganten Schwung des Fangnetzes seiner stetig wachsenden Sammlung einverleibte. Nur selten hörte man noch Gelächter oder ein leise gesungenes baba kufa, mama kufa. Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Nachdem zwei seichte Zuläufe des Namgaru durchschritten waren, marschierte der kleine Trupp zwischen dem Likonde- und dem Notoplateau hinaus in das freie, weite Land der Obstgartensteppe. Mit Bahlows Gesicht tat sich derweil Erstaunliches. Als Kinder hatten sie die Ohrenquallen, die der Ostwind in die Förde drängte, aus dem Meer gefischt und sich damit erbitterte Schlachten geliefert. Hätte man ihm damals hingegen eine mit einem Stock geschleuderte Feuerqualle ins Gesicht geworfen, danke sehr, ich habe genug gesehen, Bahlow gab Hennig den Taschenspiegel zurück, das abgestandene Wasser des Tümpels hatte seiner ohnehin entzündeten Gesichtshaut übel mitgespielt.
«Verzeihen Sie! Ich hätte Sie vor stehenden Gewässern warnen sollen.»
Bahlow rang sich ein Lächeln ab. «Nun habe ich es selbst herausgefunden. Der Sonnenbrand tut sein Übriges.» Sein Unsriges? Unsriges fernem Heimats? Bahlow ergriff ein schmerzhaftes Heimweh nach Kiel, dieser kühlen, in Dunst und Sprühregen gehüllten Stadt, auf deren breiten Chausseen der Seewind regierte. Als er – oh, wie lange das nun schon her war! – das Hauptpostamt verließ, hatte der salzige Ostwind alle Wolken vom Himmel gewischt, und wie die Straßen damals dampften! In Kiel brauchte man keinen Kompass, in Kiel kannten die Füße ihren Weg, wählten Abkürzungen, erinnerten sich an Schleichpfade, blieben artig stehen, damit man die Auslage eines Tabakladens gebührend bewundern konnte. Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff!
Am vierten Tag des Marsches verschwand der Kompass in Hennigs Brusttasche, um daraus nicht wieder aufzutauchen, denn inmitten des Flachlandes erhob sich der Tendaguru, trotz seiner geringen Höhe eine deutliche Landmarke; und in den frühen Morgenstunden des fünften Tages erreichten sie das Gebiet der Grabungen. Bahlow bot sich ein Bild der Verwüstung. Zu beiden Seiten des Pfades zogen sich mannstiefe Gräben hin, kreuzten den Weg unter durchhängenden Holzbrücken, bildeten ausgeschachtete Schlaufen und Kreise, die sich allein den Vögeln als Buchstaben einer geheimnisvollen, in den Erdboden gegrabenen Schrift offenbarten. Zog die Karawane aus Lindi vorüber, sahen die Arbeiter aus den Gruben auf und stützten sich auf ihre Hauen und Schaufeln. Hennig begrüßte die Aufseher gutgelaunt und auf Kisuaheli. Bahlow ließ es bei einem unverbindlichen Nicken bewenden, visierte dabei den einen oder anderen Neger an, doch bald wurde sein Nicken vager, unsicherer, und schließlich gab er es ganz auf. «Da staunen Sie, was?» Der Pfad umschlang einen gewaltigen Haufen neben einer etwa fünf Meter tiefen, stufenförmig angelegten Ausschachtung, die Wände schräg, mit Bambusgeflecht verschalt. Am Boden der Grube, einer mit rötlichem Sand gefüllten Wunde, hockte ein gutes Dutzend Arbeiter mit bloßen, schimmernden Oberkörpern. Sie legten das steinerne Rückgrat eines Dinosauriers frei, bewegten Hammer und Meißel zum rhythmischen Gesang des Aufsehers. Zwischen den Wirbeln kamen schmale lange Messer und kleine Handbesen aus bunten Vogelfedern zum Einsatz. «Die herausgewitterten Knochenstücke sind, obwohl durch Sonne und Regen zersplittert und zersprengt, wichtige Wegweiser», dozierte Hennig cooklos. «Wie die Spitze eines Eisberges zeigen sie uns an, wo sich etwas verbirgt. Dort, wo die eigentlichen Saurierschichten die Oberfläche bilden, ist der Pflanzenbewuchs glücklicherweise kümmerlich: Es herrschen armselige, kaum mehr als mannshohe, unregelmäßig gewachsene Bäumchen vor. Selbst das Gras ist dort erheblich niedriger und lässt zwischen seinen Büscheln den bloßen Erdboden sichtbar bleiben – ein Vorteil für die Grabungsarbeiten. Stellen Sie sich nur vor, eine gierige, paläontologisch interessierte Akazie würde mit mächtigem Wurzelwerk die Wirbelsäule einer Schreckens-Echse umklammern, um sie nie mehr herauszugeben!» Wer war dieser Dr. Akazie? Über ihn stand nichts im Dossier. Und wieso rückte er die Fundstücke nicht heraus? Was war das nur für ein Saumensch? Bahlow wollte nachfragen, doch da stieg Hennig jubelnd in eine Grube hinab. Die Hitze, der Schweiß, alles kam Bahlow seltsam vertraut vor, so, als nähme im Kissen, wenn man sich abends ins erschöpfte Bett wirft, der Traum der vorherigen Nacht Gestalt an, flirrende Erinnerungen, daunenweich, er sah jemanden über einen Ast stolpern, der aus dem Boden ragte, wohl einen Betrunkenen, denn den Mann umgab eine grünliche, nach Anis riechende Wolke. Wahrscheinlich eine Szene aus einem Buch, das ich vor Jahren gelesen habe, irgendein belangloses Abenteuergarn, an das ich mich nur dunkel erinnere, unerheblich, das Bild, das vor seinem inneren Auge erschienen war, verschwand in grellem Licht, kitzelnd, störend, ein Schweißtropfen nahm Anlauf und sprang von Bahlows Nasenspitze hinab zu den Arbeitern in die Grube, es sei normal, dass die Verwirrung in Wellen komme, hatte Hennig versichert. Das spreche für leichte Malariaanfälle, die den Kranken, wie er aus eigener Erfahrung wisse, meist in Schüben zermürbten. Und was solle er tun? Sich auf die Chinin-Prophylaxe verlassen und abwarten, auch sein Gesicht würde schon wieder werden. Ich muss übel aussehen. Aus den Gräben und Gruben heraus mustern mich besorgte Augen. Erklimmt da nicht ein alter Bekannter den Pfad? «Wir beschäftigen zurzeit», hub Hennig sogleich zu sprechen an, «vierhundert Arbeiter und schätzen, dass im Jahre 1911 das Gebiet der Grabungen in seiner Nord-Süd-Erstreckung einen vollen Breitengrad umfassen wird. Uns bietet sich die einmalige Gelegenheit, das wundersam vielgestaltige Leben in aller Gründlichkeit zu erforschen, das sich hier am Rande des Kreidemeeres abgespielt haben muss. Da trotteten stumpfsinnig jene Ungeheuer mit einem mehr als zwölf Meter langen und bis zwei Meter dicken Hals, mit Beingestellen, die alles gewohnte Maß übersteigen, da tummelte sich die große und kleine Drachenbrut bis hinab zum winzigsten Eidechslein, da zogen Herden gepanzerter Schreckgestalten daher, mit mächtigen Stacheln auf Rücken und Schwanz, da eilten auch kleine, flinke Saurier menschengleich auf den Hinterbeinen erhoben, da flogen andere durch die Luft, da gab es gefürchtete fleischfressende Räuber und Giganten, die ihnen lebend allein ihrer Größe wegen entgehen mochten und die ihren Riesenleib von Pflanzen und kleineren Seetieren ernährten. Kaum darf das herrlich reiche Tierleben des heutigen Afrika sich an Mannigfaltigkeit mit dem messen, das hier vor uns aufsteigt. Wollen Sie?» Dankend lehnte Bahlow ab. Nach dem Frühstück hatte sich Hennig die Taschen mit Kandiszucker gefüllt und kaute und knirschte seitdem unablässig darauf herum. «Für Sie als Entomologen wäre die Urzeit ein schönes Jagdrevier!» Mit diesem Ausruf schwang sich die Vision, die Hennig auf mächtigen, geschuppten Flügeln davontrug, erneut hinauf in die luftarmen Gefilde, wo er die Nachbarschaft der großen Poeten genießen konnte. «Stellen Sie sich nur einmal die fünfzehn Zentimeter langen Schaben der Farnwälder des Karbons vor! Oder Libellen mit sechsundsechzig Zentimetern Flügelspannweite!» Bahlow verspürte das drängende Verlangen, Hennig zu erschlagen. «Das ist ja ungeheuerlich», bemerkte er gepresst. Hennig füllte den Mund mit Kandis und knirschte und redete und redete und knirschte, während die Karawane dem Tendaguru immer näher kam. Wieso gibt mir Kuider einen Stadtplan von Paris mit? Vor der Abfahrt hatte Bahlow den Plan in der verriegelten Schiffskabine überprüft, aber ihm war darauf nichts Ungewöhnliches aufgefallen; er fand die Place de la République … sein Zeigefinger glitt die Rue du Temple hinab … sein Daumen verharrte auf der Île de la Cité, umspült von den Wellen der Seine …
Damals war ihm zum ersten Mal der Verdacht gekommen, alles könnte ein Scherz sein oder ein fürchterlicher, mit großem Aufwand inszenierter Racheplan, wie er nicht grässlicher in einer von Nägeles kleinen Geschichten zu finden wäre. Bahlow träumte nur noch selten von Nägele; und tat er es, traf ihn beim Erwachen mit voller Wucht die Erkenntnis, dass sein Freund das Zeitliche gesegnet hatte. Natürlich war es schmerzhaft, von einem verstorbenen Freund (oder seinem Vater selig) zu träumen, aber noch schmerzhafter empfand Bahlow das Wissen, dass das eigene, träumende Gehirn der einzige Ort der Welt war, der diesen ehemals lieben Menschen noch Zuflucht bot. Nur in diesen peinigenden Träumen, deren Wiederkehr dunklen Gezeiten folgte, hörte er Nägeles Stimme, nur hier roch er den Qualm des Zigarillos und sah, wie sein Freund beim Reden unentwegt die spitze lange Nase befingerte. Der Traum-Nägele trug ungepflegte Kleidung mit herzförmigen Flickstücken auf den Ellenbogen, verdiente keine müde Mark mit seinen verdrehten Erzählungen, hockte Tag für Tag in seiner Dachstube als General einer Armee leerer Weinflaschen und verblüffte Bahlow mit Erkenntnissen wie: «Der Normalzustand des Menschen ist das In-der-Ecke-Kauern!» Lebte Nägele noch, hätte Bahlow ihm von seinen Ängsten erzählt. «Nägele», hätte er gesagt und mit dem Weinglas einen vagen Bogen beschrieben, «mein einziges Ziel ist es, dem Buch zu entkommen.» Im Geiste rannte er bereits über das staubige Bücherbord, war er doch im benachbarten Band ein gerngesehener Gast der von Herders. Nach dem Tee schlenderte er rauchend über die Wiese, erblickte ihr weißes Kleid zwischen den Bäumen, ein schaukelndes Metronom, höher, Onkel Carl stößt sie an, und höher, Onkel Carl, und höher. «Wie bitte?», fragte Hennig.
«Ich habe nur laut gedacht», sagte Bahlow und konzentrierte sich wieder auf Hennigs Monolog, am Tendaguru, am Tendaguru, Leben und Wirken einer deutschen Forschungs-Expedition zur Ausgrabung vorweltlicher Riesensaurier in Deutsch-Ostafrika, am Tendaguru, Bahlow erwartete die Ankunft im Lager mit zunehmendem Grausen, am Tendaguru, er würde zu erschöpft sein, um sich höflich betragen zu können, höher, Onkel Carl, höher, der grauenhafte Zustand meines Gesichtes, außerdem bin ich unrasiert, nicht mehr höflich, nicht heute, schlafen, nur noch schlafen. Wahrscheinlich träume ich dann wieder von dem verfluchten Nägele, von Paris, von einer aufgegrabenen Welt, in der aufrecht gehende Maulwürfe hausen, und sie auf der Schaukel, und ich, und ich, ich fang dich auf, spring, ich hab solche Angst, Onkel Carl, spring, mein Engel, spring, und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Wir haben es bald geschafft! Bald, bald, und weiter, weiter, doch als sie am späten Nachmittag ihr Ziel erreichten, stellte Bahlow mit bitterer Resignation fest, dass ihr Ziel noch nicht ihr Ziel war: Zwar hatten sie den Tendaguru erreicht, aber der wollte nun bestiegen werden.
Qual: Ein schmaler Fußweg wand sich die Ostflanke des absurd niedrigen, bewaldeten Hügels hinauf zu einem Dörfchen, das die Arbeiter mit ihren Familien bewohnten. Hühner flohen mit bösem Gackern, setzen Sie sich, eine angeleinte Meerkatze zupfte an Bahlows Jackenzipfel, nackte Kinder torkelten um die Kiste, auf der ein poghuli saß und das geschwollene Gesicht in den Händen vergrub. Blinzelte Bahlow zwischen den Fingern hindurch, sah er, wie Hennig sich mit einem hochgewachsenen Neger unterhielt, der europäische Kleidung trug. «Kommen Sie, es sind nur noch wenige Meter!» Hennig zog den Entomologen weiter, der sich wiederholt nach seinem Gepäck erkundigte und den Versicherungen, es sei bei Oberaufseher Boheti bestens aufgehoben, keinen Glauben schenkte. «Ich stelle Sie erst im Pavillon vor, dann zeige ich Ihnen Ihre Hütte», sagte Hennig zum dritten Mal. «Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass diese ehemals dem armen Valdsky gehört hat.»
Bahlow seufzte, das mache ihm nicht das Geringste aus. Wieso auch? Da Valdsky ihn mit seinem Sherry getauft hatte, war es nur folgerichtig, dass er, der Getaufte, die Hütte des Täufers bewohnte. Ob es wohl eine Schaukel hinter der Hütte gab? Und einen Garten? Nach dem Tee, als er rauchend über die Wiese, höher, Onkel Carl, höher, ich fange dich auf. Auf einem Vorsprung unter der vollen Höhe des Tendagurus blieb Bahlow ergriffen stehen. In erfrischender Asymmetrie hatten sich hier eine Handvoll grasgedeckter Bambushütten und ein gutes Dutzend Materialzelte am Hang versammelt und spielten Europäerlager; der Gipfel des Hügels trug einen Fez. «Sehr nett!», schnaufte Bahlow und erinnerte sich, dass die Schönheit der Aussicht schon in Kuiders Dossier lobend erwähnt worden war. Soweit das Auge reicht, hatte Hennig im ersten Jahr der Expedition seiner Braut geschrieben, schließt sich Baumkrone an Baumkrone, ein lückenloses Kleid. Was dort an Eingeborenen-Feldern und -Dörfern, an reichem afrikanischem Tierleben verborgen sein mag, das ahnt das Auge trotz aller Fülle nicht (…). Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet … «Stimmt genau!», flüsterte Bahlow ehrfürchtig. «Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet!»
Hennig sah den Entomologen an und pflichtete ihm nach einer Weile mit einem verdächtig heftigen Kopfnicken bei.
«Und nach der Vorstellung zeigen Sie mir die Hütte?»
«Natürlich.»
«Ich muss mich einen Augenblick hinlegen.»
«Aber Sie können doch nicht … Stehen Sie auf, Doktor Bahlow!»
Der verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
«Mit Verlaub: Sie können nicht auf dem Boden liegen bleiben!»
Und ob er das konnte! Aber weil Hennig keine Ruhe gab, erhob sich Bahlow murrend, und Hand in Hand nahmen sie die letzten sanft ansteigenden Meter in Angriff, die das Europäerlager vom Gipfel des Tendaguru trennten. «Willkommen in unserem Wohn- und Speisezimmer!», sagte Hennig. Im Pavillon saß ein dicker Mensch, unschwer als Doktor Janensch zu identifizieren, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. Janensch schaute hinter einer Zeitung hervor, begrüßte Hennig mit einigen saloppen Bemerkungen und musterte sodann den Entomologen durch eine kleine, randlose Brille. «Guter Gott!» Janenschs Augen weiteten sich in froschähnlichem Erstaunen. «Was haben Sie denn mit Ihrem werten Gesicht angestellt?» Bahlow winkte unwillig ab; der Dicke brach in Gelächter aus, wabbelnde Kinne, wogender Trommelbauch. Auf seiner aufgedunsenen Nase und den Hängebacken entspann sich ein Netzwerk bläulicher Adern und deutete im Zusammenspiel mit den schlaffen, teigigen Gesichtszügen auf einen bekennenden Hedonisten hin, der sein Glas gerne bis zur Neige austrank. Über einem verschwitzten Hemd trug der Expeditionsleiter eine fleckige Jacke mit weitoffenen, gähnenden Brusttaschen; vor ihm auf der umgedrehten Kiste, die den Tisch in dieser afrikanischen Posse spielte, lag ein Schlapphut. Natürlich tragen sie alle Hüte! Bahlow nahm den Tropenhelm ab und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Einige Tage vor der Abreise aus Kiel hatte er mit stiller Freude den Chauffeur eines Adler Phaeton beobachtet, der in ohnmächtiger Verzweiflung das Lenkrad seines qualmenden, querstehenden Automobils umklammert hielt, das den Kutschverkehr in einem Gässlein völlig zum Erliegen gebracht hatte. «Na, also!» Janensch obsiegte im Ringkampf mit der Zeitung, faltete sie zusammen (Bahlow glaubte kyrillische Schriftzeichen zu erkennen) und legte sie neben dem Hocker auf den Holzboden. Dann streifte er die Glacéhandschuhe ab und verkündete selbstgefällig, er pflege beim Zeitunglesen stets Handschuhe zu tragen (Hennig kratzte sich unbehaglich im Nacken), da ihm die Berührung des rauen Zeitungspapiers das geistige Pendant einer Gänsehaut beschere. Janensch freute sich über Bahlows Gesichtsausdruck, dann ebbte das glucksende Gelächter ab, ebenso Bahlows Verwirrung. Er lenkte mit dem Tropenhelm wieder geradeaus, und Janensch eröffnete eine halbwegs zivilisierte Konversation mit: «Sie sind also der Entomologe?»
Wer sonst? Bahlow nickte unwirsch.
«Sind Sie schon lange Außenagent der Firma?»
Bahlow schüttelte den Kopf, gab sich Mühe, höflicher zu sein, und fügte in schläfrig gedehnter Sprechweise hinzu: «Mein erster Auftrag.»
«Wer hat Sie eingearbeitet, wenn die Frage erlaubt ist?»
«Niemand. Ich bekam den Auftrag und reiste ab.»
«Über Marseille?»
«Ja.»
«Haben Sie den Aufenthalt in Marseille genossen?»
«Ja.»
«Dort jemanden von der Firma getroffen?»
«Nein. Ich habe dort nur meine Ausrüstung erhalten.»
«Aha», sagte Janensch und wurde ohne Vorbereitung albern. Er riss flaue Witze über die «Chitin-Prophylaxe», die der Entomologe keinesfalls vergessen dürfe, machte wiederholt kryptische Anspielungen auf Federvieh, nötigte Hennig und Bahlow ein Gläschen selbstgebrannten Zuckerrohrschnapses auf, der nach Erbrochenem schmeckte, lachte erneut über die «Chitin-Prophylaxe», amüsierte sich über Hennigs Probleme mit dem Datum und noch mehr über die halbgeflüsterte Enthüllung, sie hätten seit mehreren Wochen an den Sonntagen gearbeitet. «Wenn heute morgen ist und», angestrengtes Nachdenken, «gestern übermorgen», Schenkelklopfen, «deshalb fühle ich mich heute wohl so alt! Übrigens: Schönen Helm haben Sie da.» Der Expeditionsleiter war Bahlow in höchstem Maße unsympathisch. Janensch mit dem dicken Hintern gehörte zur Familie der Ptinidae, er war ein Niptus hololeucus, ein unangenehmer Diebskäfer, dem die goldgelbe Behaarung aus dem kragenlosen Hemd quoll. Bahlow ließ sich einen zweiten Schnaps einschenken. Er verachtete diese Frohnaturen, die jedes Gespräch mit dem Schmetterlingskescher durchstreiften, allzeit auf der Suche nach Witzworten und Doppeldeutigkeiten. Bahlow trat an das Geländer des Pavillons. Wie immer, wenn die Konturen gegen Abend undeutlich und doch scharf zugleich werden, schien die Welt bis zum Bersten mit Bedeutung aufgeladen. Plateaus mit roten Abstürzen überlagerten sich in kraftvoll geschwungenen Halbbögen am Horizont. Bahlow sah über das grüne, westliche Tiefland hin, wo die Sonne bald die fernen Berge mit purpurner Glut überziehen würde, der Auftakt der prächtigen Farbsymphonie eines afrikanischen Sonnenunterganges. Was geschähe wohl, wenn er Janensch so fest in den speckigen, braungebrannten Unterarm bisse, dass ihm dessen dummes Blut heiß in die Augen spritzte? Nein, Nägele war tot, solche Dinge geschahen nur in seinen Geschichten. Tot! Nägele ist tot! Tot, tot, tot! Glücklicherweise waren Salinski, der Lepidopterologe, und Oberstleutnant von Geinitz, der Sicherheitsbeauftragte, nicht anwesend. Ich gebe wohl kaum ein vorteilhaftes Bild ab!
Er lehnte sich an die hüfthohe Bambusverkleidung. Nach einer Weile hatte es sogar Janensch begriffen, ließ Bahlow von nun an in Frieden und begann mit dem bestürzend servilen Hennig ein Streitgespräch über Photoapparate, dessen Ursprung offensichtlich in den kreidezeitlichen Anfängen der Expedition zu suchen war. Bahlow schenkte sich noch einen Schnaps ein. Aus dem Dossier wusste er, dass Janensch mit Apparaten photographierte, die der Expedition von der Firma Voigtländer frei zur Verfügung gestellt worden waren; Hennig dagegen schoss seine Bilder mit einer Anschütz-Kamera («Und zwar mit Film!»). Bahlow ließ die Repetieruhr anschlagen, sechs Uhr, Blutfluss, der Himmel begann sich zu verfärben.
«Ich sammele auch Insekten», wiederholte Janensch.
«Ach», sagte Bahlow, suchte nach Worten, fand keine. «Sie müssen mich entschuldigen. Haben Sie bitte Nachsicht mit mir! Ich bin sehr müde.»
«Verzeihen Sie unsere Unhöflichkeit. Ich zeige Ihnen Ihre Hütte.» Hennig hielt ihm den Arm hin, damit er sich darauf stützen konnte, doch Bahlow wollte alleine gehen.
«Morgen bekommen Sie einen eigenen Boy.»
«Einen Boy?» Bahlow sah Janensch verständnislos an.
«Jeder hat hier einen Boy. Wir sind die bwana mkubas.»
Bahlow quittierte die Behauptung mit einem zögerlichen Nicken. Wie gerne hätte er sich in einem weichen Bett ausgestreckt, einen munter tickenden Wecker auf dem Nachttisch, die Pantoffeln auf dem flauschigen Vorleger, die Stiefel vor der Zimmertür, damit sie ein geisterhaftes Hotelpersonal nachts blitzblank wienerte – halt! Eine Angelegenheit musste noch geklärt werden, ehe er sich in Valdskys Bett legte. «Wie verhält es sich hier mit der Post?»
«So!» Hennig zog ein Bündel Briefe aus der Jackentasche. «Die Post kommt mit dem Küstendampfer nach Dar es Salaam. Üblicherweise holt sie ein Bote ab, aber da ich in Lindi war, um Sie abzuholen …»
«Wie lange braucht ein Brief von, sagen wir, Kiel nach Lindi?» Nicht ohne Stolz vermerkte Bahlow, dass er trotz Müdigkeit noch zu detektivischem Vorgehen in der Lage war. Nick Carter wäre stolz auf ihn! Sie saßen sich an einem kleinen runden Tisch gegenüber. Aber weshalb sah Nick Carter auf einmal aus wie ein alter Mann? Bahlow gab dem Kellner ein diskretes Zeichen. Ein bis zwei Monate. Hennig, der seit der Ankunft im Lager kein einziges Mal James Cook erwähnt hatte, reichte Janensch einige der Briefe, die dieser, ohne sie zu betrachten, in der Innentasche der Jacke versenkte, eine Geste, die Bahlow von seinem Vater kannte. Nach dem Frühstück hatte dieser an einer Hälfte eines aufgeschnittenen Brötchens das Messer gesäubert, damit die Post geöffnet und sie sich in die Jacke gesteckt, ohne zuvor in die Umschläge hineingesehen zu haben. Dann hatte er eine Tasse Kaffee im Stehen geleert (wobei er bei jedem Schluck den Kopf in den Nacken legte wie ein trinkendes Huhn) und mit fliegenden Rockschößen das Speisezimmer verlassen. Vater war auf der Straße gestorben. Als man ihn zu Hause entkleidete, sahen selbst die Dienstboten, dass im Augenblick des Todes eine umfängliche Darmentleerung stattgefunden hatte, ein Umstand, der schlagartig die wenigen schönen Kindheitserinnerungen einschwärzte, die Bahlow verblieben waren. Jahre später beging er den Fehler, Nägele von dieser Angelegenheit zu erzählen (in einem Anfall weinseligen Selbstmitleids auf dem Dachboden des Schlaftraktes), und bald danach wusste es das ganze Internat.






