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«Bin mit meiner Anschütz-Kamera vollauf zufrieden!», sagte Hennig. «Erst glaubte … «
Bahlow unterbrach ihn ungeduldig: «Wie lange braucht nun der Brief?»
Hennig wirkte verlegen. «Ein bis zwei Monate.»
Oh, gut. Da bleibt noch Zeit. Vielleicht hat man sie noch nicht gefunden. Oder gehört das zum Plan? Von Herder verfügt durchaus über die Mittel, dafür Sorge zu tragen, dass Afrika mein Gefängnis wird – und hier stehe ich nun und plaudere mit meinen Wärtern. Janensch zog die Handschuhe aus und kratzte sich zwischen den Fingern, wo die Haut ekelhaft gerötet war. «Sie erwarten Post?», fragte er mit zweideutigem Grinsen. Bahlow senkte den Blick. «Na, da ist doch ganz bestimmt eine Dame im Spiel!» Als Bahlow sich wieder konzentrieren konnte, beklagte Janensch mit pathetischen Gebärden das Fehlen holder Weiblichkeit, wobei sein Gesicht bei «Weiblichkeit» einen faunischen Ausdruck annahm. «Es ist unverantwortlich, Weiber», heftiges Lippenlecken, «nach Afrika mitzunehmen. Ich weiß nicht, ob Sie vom traurigen Schicksal gehört, äh, ich meine, gelesen haben, das Krapfs Gattin ereilt hat. Er nahm sie mit, als er von Massaua einen Vorstoß in die Shoho-Wildnis machte, und die Strapazen waren so groß, dass sie eine Frühgeburt bekam. Das Kind starb binnen einer Stunde, und nach drei Tagen befahl Krapf den Weitermarsch. Ein Jahr später, ich denke, das war 1844 in Mombasa, raffte die Ärmste ein Fieber dahin. Natürlich war sie damals wieder schwanger. Sie sehen, wie unverantwortlich es ist, eine Frau mitzunehmen. Oder ein», Janensch kniff die Augen zusammen und sah Bahlow streng an, «Mädchen. Nehmen Sie regelmäßig Ihre Tabletten? Raus mit der Sprache, Käferologe! Sie erwarten Post von einer Dame?»
«Ja», schrie Bahlow. «Meine Braut will mir schreiben.»
Janensch brach in schallendes Gelächter aus.
«Um noch einmal auf die Post zurückzukommen», begann Bahlow zornig und verlor den Faden. Er glaubte sich daran zu erinnern, vor nicht allzu langer Zeit selbst einen Briefumschlag in die Innentasche der Jacke gesteckt zu haben. Aber weshalb sollte er das getan haben? Bahlows Hand tastete durch die Schwärze, fand den Faden und packte ihn. «Ich kann also davon ausgehen», heftige Lenkbewegungen vollführend wandte er sich an Hennig, «dass ein Brief, der, nehmen wir einmal an, heute in Kiel abgeschickt wird, etwa in ein oder zwei Monaten hier am Tendaguru ankommt?»
«In der Regel verhält es sich ganz so, wie Sie meinen», sagte Hennig, «aber zur Zeit des Süd-Monsuns kann es zu schweren Verspätungen kommen.»
Ihr Verbündeter ist der Süd-Monsun. Bahlow baute sich schwankend vor Janenschs Kiste auf. «Und wann weht dieser Süd-Monsun?» Kuiders Bemerkung gewann überraschend Sinn.
«Man höre und staune!», rief Janensch. «Auf einmal wird er wieder munter, unser müder Krieger! Vive la femme!»
Ohne den Scherzreden Beachtung zu schenken, antwortete Hennig errötend: «Von Juli bis Oktober.» Rascher Überschlag, Juli, August, September, Oktober, sehr gut, mit etwas Glück bleiben mir vier Monate, starker Seegang, der Boden des Pavillons neigte sich, glitt in die Schräge wie ein Schiffsdeck, versetzte Bahlow einen heftigen Schwinger. Blutet er? Ich glaube nicht. Kommen Sie! Hennig half dem Entomologen auf. Janensch zog die Glacéhandschuhe an und fragte in berechnender Beiläufigkeit: «Wen, sagten Sie, haben Sie in Marseille getroffen?»
Eiskalt: «Ich habe niemanden getroffen.»
«Ach so, ich dachte, Sie hätten vorhin einen Namen genannt.»
«Nein, habe ich nicht. Um Himmels Willen! Hören Sie endlich auf, mich zu quälen!» Blinzelnde Vogelpunkte über der rotglühenden Ebene, Gesang umwehte den Pavillon: Im Dorf der Arbeiter wurde gefeiert. Hennig zupfte an Bahlows Ärmel wie eine lästige Meerkatze, Janensch nahm die Brille ab, und sein Gesicht zog sich in die Länge, als er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Tränensäcke massierte. «Sie müssen mich entschuldigen», stammelte Bahlow. «Ich kann kaum mehr klar denken.» Und endlich führte man ihn zu seiner Unterkunft, einer Bambushütte mit lehmverstärkten Wänden und strohgedecktem Dach. Nachdem er eine gute Stunde geruht hatte, machte er sich mit kühlem Kopf daran, das Gepäck zu verstauen. An der Wand hing ein geschmackloses Bild, ein vorwurfsvolles Echo Valdskys: Der Heiland lässt schmale, weibische Hände segnend über den Köpfen von glücklichen Schafen schweben. Ansonsten deutete bis auf eine Sicherheitsnadel, die Bahlow unter dem Feldbett fand, nichts darauf hin, dass die fensterlose Hütte jemals bewohnt gewesen war. Er steckte die Sicherheitsnadel in die Hosentasche. Feldbett, Tisch, dreibeiniger Hocker, aber es gab wenigstens Regale. Diese füllten sich rasch mit entomologischen Gerätschaften, die Kleider blieben in Seesack und Reisetasche, die Bücher wanderten unsortiert in ein Regal über dem Kopfende des Feldbettes. Einige Bände von Charles Oberthürs Etudes d’Entomologie waren darunter, die bahnbrechenden Arbeiten von John Head, Jakow Andrejitsch und Hans Pähp, Der Große Bobert natürlich und die üblichen Bestimmungsbücher, dicke Folianten mit Seidenpapier zwischen den Farbseiten. Bahlow, der es schon als Heranwachsender vorgezogen hatte, sich auf dem Dachboden des Internats zu verbergen, anstatt mit den Mitschülern im Aufenthaltsraum zu sitzen, genoss es, zum ersten Mal seit Tagen mit seinen Gedanken alleine sein zu dürfen.
Aber als er im Liegestuhl vor der Hütte im siebten Band von Jean-Henri Fabres Souvenirs entomologiques blätterte, um das letzte Licht des Tages auszunutzen, gesellte sich Salinski zu ihm, ein korpulenter Herr mit gerötetem, feuchtem Gesicht, platter Nase und dichtem, rotem Vollbart. Er war arglos und freundlich wie ein Marienkäfer. Sie plauderten über Fabre und das kleine Tischlein in Sérignan, an dem dieser seine Werke verfasst hatte, Salinski malte mit dem Spazierstock gedankenverlorene Krakel in den Sand. Der Dschungel, in dessen schwarz-grünem Meer der Tendaguru trieb, zirpte und klopfte und bereitete sich auf eine wilde Nacht vor. Plötzlich lachte der Pavillon auf dem Gipfel mit Janenschs Stimme und prustete etwas, das entfernt nach «baba kufa, mama kufa» klang, nein, das kann nicht sein, Bahlow nickte aufmunternd: «Fahren Sie bitte fort!»
August Salinski arbeitete, wie er aus dem Dossier wusste, für Adalbert Seitz, einen Mediziner und Lepidopterologen, der von 1893 bis 1908 Direktor des Frankfurter Zoos gewesen war und seit 1909 als Privatgelehrter in Darmstadt lebte, um sich der Herausgabe des mehrbändigen Die Groß-Schmetterlinge der Erde zu widmen. Salinski kannte bestimmt diese wunderbaren Spiele der Jugend. Ein Nachtfalter mit einer Nähnadel durch den Leib, der durch die Kammer flog. Oder man betäubte eine Fliege mit einem sanften Schlag der Klatsche, umwickelte ihren leblosen Körper mit einem Bindfaden und ließ sie steigen, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, einen kleinen, pelzigen Drachen. «Und Sie arbeiten für Staudinger & Bang-Haas?», fragte der Marienkäfer. «Sie sind Außenagent der Firma?»
«Außenagent», bestätigte Bahlow. Alle sprachen dieses Wort aus, als hätte es etwas anderes zu bedeuten, als beinhaltete es wie eine verschlossene Schatulle etwas Seltsames, etwas Geheimnisvolles. Nun, er würde mitspielen! «Ich arbeite auch auf eigene Faust. So suche ich Käfer, um sie nach mir zu benennen», improvisierte er ins Blaue hinein. «Stellen Sie sich das vor! Ein afrikanischer Käfer, der meinen Namen trägt!» Bahlow sah seinen Namen durch das hohe Gras huschen und mit mächtigen Mandibeln eine fette Made packen. Der gefährliche Bahlow! Achtet auf den gefährlichen Bahlow, Mädchen, wenn ihr im Dschungel spazieren geht! Seine Zähne sind spitz, seine Zunge ist schnell!
«Welcher Käfer dürfte Ihren Namen tragen?», fragte Salinski.
«Nun … vielleicht am ehesten ein Käferpendant zum Attacus atlas Linné …»
«Zum was?»
«Zum Atlasspinner», erklärte Bahlow, ohne Verdacht zu schöpfen.
Im Lager der Arbeiter brüllte jemand wie ein Berserker.
«Von Geinitz ist zurück», sagte Salinski.
Das Geschrei hielt eine Weile an, Kisuaheli, Bahlow bewegte sich unbehaglich auf dem Liegestuhl, hörte wieder den abknickenden Aufschrei des Heizers, den satten Aufschlag des Körpers im glitzernden Wasser des Suezkanals, das der Dampfer durchschnitt wie das heimkehrende Volk der Israeliten. «Schlafen Sie wohl!» Nachdem sich der Lepidopterologe derart verabschiedet hatte, erhob Bahlow sich und sah, was jener neben seinem Liegestuhl in den Sand gemalt hatte: einen Kreis, den ein X in gleiche Viertel schnitt; ein dummer Zufall. In der Welt gibt es Zufälle, überlegte Bahlow, denn es gibt keinen Gott. Aber in einem Buch ist der Zufall ausgeschlossen: Hier hat alles Bedeutung. Er weigerte sich, weitere Schlussfolgerungen aus dieser Überlegung zu ziehen und betrat sein neues Zuhause. Die Repetieruhr gab acht Schläge von sich, metallisch hallend, als befände sich eine winzige Stadt in dem flachen Gehäuse, ein kleines mittelalterliches Städtchen, auf dessen bevölkerten Marktplatz sich das Miniaturläuten der Turmuhr senkte.
Bahlow entzündete die Petroleumlampe, verriegelte die Tür, lud sicherheitshalber die Luger, umwickelte sie mit dem öligen Zeitungspapier und schob das Bündel unter die Bettdecke. Den idiotischen Brief, den ihm der Pockennarbige in Lindi gegeben hatte, würde er erst morgen von Geinitz aushändigen. Sie müssen ein offenes Pentagramm gehen. Sie beginnen am linken Fuß des Pentagramms und marschieren Richtung Kopf. Wenn Sie vom linken Arm zum rechten emporstoßen, sind Sie da. Ich gebe Ihnen diese Information nur, weil ich erwarte, dass Sie sich in gleichem Maße erkenntlich zeigen werden. Sehen Sie sich satt, und reisen Sie unverzüglich ab! Oder schlagen Sie sich auf unsere Seite! Der Brief war mit einem schlichten B. unterzeichnet. Unverständlich. Völlig unverständlich. Vielleicht ein Ulk? Ja, das war gut möglich. Bahlow würde sich auch einen Ulk erlauben, würde diesem von Geinitz einfach sagen, er habe den Brief bereits geöffnet erhalten. So einfach war das!
Er löschte die Lampe, kroch unter das Moskitonetz, spürte den Lauf der Luger unter dem linken Schulterblatt, und wie so oft in den letzten Nächten erwartete sie ihn hinter den geschlossenen Lidern. Bilderbecks Tochter trug ein gewagtes Reformkleid, er legte ihre Schultern frei, küsste feuchte Pentagramme den Rücken hinab, glitt davon. Danach lief Bahlow ziellos durch die kleine Stadt in seiner Uhr. Vor einer Konditorei blieb er stehen, die Luft roch nach Vanille, auf einmal strömte Hitze durch alle Gassen und aus dem zersplitternden Schaufenster stieg der fürchterliche Konditor, in den sich sein Lateinlehrer verwandelt hatte, und flüsterte mit glasierter Stimme: «Ich bin der Dschungel, und ich gebe dir deinen wahren Namen.»
Wimmernd wälzte sich Bahlow auf die rechte Seite.
ENDE DES ERSTEN BaNDES
1Zumindest für einen Brief endete damals die postale Odyssee in (wenn schon klugscheißen, dann richtig!) Ithaka, dem Briefkasten der Familie Fahlmann: Sehr geehrter Herr Fahlmann, ich fürchte, wir sind der falsche Verlag für Ihre Erzählungen. Wir haben nichts Vergleichbares im Programm, und Ihnen wäre mit einer Veröffentlichung letztlich nur ein Bärendienst erwiesen. Mit der Bitte um Nachsicht, Ihre unleserliche Unterschrift. Ich warf die Rätselbotschaften, zu denen ich die Absage zerfetzt hatte – leichbar, Bärend, chsi – in die Mülltonne und machte mich auf den Weg zur Uni.
Da es immer unwahrscheinlicher schien, jemals vom Schreiben leben zu können, hatte ich vor einigen Semestern beschlossen, mein Studium so rasch wie möglich zu beenden. Die Betonung liegt hierbei auf «möglich», denn der Umstand, dass ich an zwei Tagen der Woche nicht zur Uni konnte, weil ich Särge von hier nach dort schleppte, wirkte sich nicht gerade vorteilhaft auf die Geschwindigkeit aus, mit der ich mich auf die Magisterprüfung zubewegte, eine hinterhältige Rätselfragen ausheckende Eissphinx, die drohend am intellektuellen Horizont aufragte; schwarze Wolken verhüllten ihr imbeziles Antlitz.
Bei unseren zufälligen Begegnungen im Hausflur wollte Mutter oft wissen, wie lange ich noch zu studieren gedächte. Ich beruhigte sie stets mit vagen Hinweisen auf die nahende Prüfung und stolperte geschäftig zur fragensicheren Wohnung hinauf. Mutter hatte ihr Studium genossen. Sie würde nie verstehen, wie sehr mich die Inkompetenz meiner Professoren ängstigte, die ihren vermutlich verhängnisvollsten Niederschlag in der ausgelassenen Willkür der Prüfungsfragen finden würde. Aber was war schon von Schlafmützen zu erwarten, die ihre langweiligen Vorlesungen aus überholten Nachschlagewerken zusammenkopierten! Weitaus unangenehmer als die Professoren waren jedoch die Kommilitonen, ungern lesende, sich am Hochdeutsch die Zunge brechende, Deutsch auf Lehramt studierende Kretins. Später würden sie Jens unterrichten, keinen Deut fähiger als die Lehrer, die mich während der Gymnasialzeit geplagt hatten: In jedem Kafkatext fanden sie den Herrn Papa, und der Vaterkonflikt prangte ehrfurchtgebietend an der Tafel, bis ihn das nicht weniger törichte Geformel des Mathematiklehrers umnebelte: a = p : (f + el). Bei Trakl musste regelmäßig das großnasige Schwesterchen herhalten, bei Benn waren es die Nazis und die arme Else. Der Ich-Erzähler wurde dummdreist mit dem wehrlosen Schriftsteller gleichgesetzt, und was nicht im Lehrerhandbuch steht, ist natürlich falsch. «Hallo! Bitte mal aufpassen! Das kommt in der Arbeit dran! Hört mir mal kurz zu – auch ihr da hinten in der letzten Reihe! Trochäus hat zuerst die – Moment mal, nein, das ist ein Jambus, Fah-re mit der Ei-sen-bahn, nein, verflixt noch eins, irgendwie ist das beides.» Und während man in mehrstündigen Kursarbeiten die alleridiotischsten Fragen beantwortete, raschelte der überforderte Dussel am Lehrerpult legasthenisch mit der Tageszeitung. Das alles war mir nicht erspart geblieben; das alles würde Jens nicht erspart bleiben.
Bereits in der Grundschule tyrannisierten sie ihn mit ihren wahnhaften Primitivallüren und ihrer Spannerneugierde. So hatte er einmal als Hausaufgabe für den Sachkundeunterricht seine Eltern «in Ausübung ihres Berufs» (was für mich wie «in flagranti» klang) malen müssen. Susanne setzte er auf einen Gabelstapler und ließ sie gesichtsbreit grinsend und busenlos an einem Regal mit Waschmitteln vorbeidüsen, deren bunte Packungen «Omo», «Dash» und «Weißer Riese» schrien. Mit mir hatte es Jens leider nicht so einfach, und das Bild, das er uns schließlich präsentierte, zeigte mich untätig am Küchenfenster, eine lange, traurige Bohnenstange neben einem Kaffeebecher, der auf dem frei im Raum schwebenden Strich der Fensterbank stand (die Entdeckung der Zentralperspektive stand Jens noch bevor). «Am Fenster!», stöhnte ich, nachdem wir ihn spielen geschickt hatten. Ich legte beide Bilder nebeneinander auf den Wohnzimmertisch. «Er weiß nicht, was ich mache!» – «Woher soll er das denn wissen?» – «Er muss doch wissen, dass ich schreibe!» – «Vielleicht hält er das für keine richtige Arbeit. Die Väter seiner Freunde …» – «Jaja! Schon verstanden! Die sind natürlich Baggerfahrer, Polizisten, Tierärzte, Dompteure oder Was-weiß-ich! Alles gut zu malen. Aber mit mir hat er den oberschwarzen Peter gezogen.» – «Ich werd mal mit ihm sprechen. Er kann dich ja an der Uni malen.» – Und so saß ich einige Tage später hinter einer Schulbank, die an eine aufrecht stehende Schnellhefterklammer erinnerte. Meine Arme lagen brav auf dem Tischstrich, und in der rechten Hand hielt ich ein phänomenal großes Schreibgerät. Ich sah sehr aufmerksam aus. In Wahrheit hat mich die krampfhafte Akademisierung von Literatur nie interessiert.
Meiner Meinung nach ticken Leute nicht mehr richtig, die das Vorkommen von «und» oder «Huhn» in Goethes Liebeslyrik untersuchen oder umfangreiche Monographien über Neufundländer im Romanwerk Fontanes vorlegen. Auch wenn es ausnahmsweise mal nicht um unds, Hühner oder den blöden Rollo ging, waren die Vorlesungen und Seminare, die ich besuchte, ein lästiges, zeitraubendes Ärgernis, das einem nichts vermittelte, was man sich nicht mit Hilfe eines quergelesenen Fachbuchs binnen weniger Minuten angeeignet hätte. Doch, um nun im Ton versöhnlicher und eine Spur sachlicher zu werden, in diesem Sommersemester besuchte ich meine Seminare (Thomas Manns Romane, Hausarbeit; De Saussure und die Folgen, Sitzschein) mit bewundernswerter Regelmäßigkeit, denn der Weg zur Bushaltestelle führte an der Bäckerei Gallinger vorbei.
Ich räusperte mich, bestellte eine beklommene Schnecke, hielt dem selbstsicheren, fast abschätzigen Blick tapfer stand, murmelte: «Das ist alles!» und malte mir dabei detailreich aus, dass sie längst, «ich wusste es von Anfang an», in mir, «Sie sehen so gebildet aus», den mysteriösen Verehrer, «und jetzt bitte von hinten», vermutete, der sie mit geistreich-romantischen Briefen beglückte. Unwahrscheinlich. Sie weiß ja nicht einmal, dass ich ihren Namen kenne! Jasmins Kuchenschere biss in eine rosinengespickte Schnecke, hob sie aus der Theke und versenkte sie in einer Papiertüte, die ein leises, altjüngferliches Hüsteln von sich gab, als sie mit einigen geübten Handbewegungen zugefaltet wurde. Habe dich heute wieder gesehen, sieh, ich steige hinab, in deinem Schoß zu vergessen, vielleicht sollte ich ihr einen dritten Brief schreiben, vergessen? Nur nicht! Jetzt nur nichts vergessen! Schleunigst versuchte ich, mir Jasmins Aussehen einzuprägen (vielleicht für einen Gastauftritt in meinem Roman, vielleicht für eine handlungsbegleitende Phantasie im Badezimmer), wusste aber, noch während ich es versuchte, dass als Frucht dieser Anstrengung lediglich gebräunte, kräftige Arme, ein flacher Bauch und grüne Augen Bestand haben würden. Ich lächelte, sie lächelte, sie lachte, ich zitterte, sie legte die Tüte auf die Theke, blies mit einem kecken Vorschieben der Unterlippe ein Haar aus der rechten Wimper und fragte: «Machen Sie eine Diät?»
«Nein, nein!», antwortete ich schnell und sagte dann etwas sehr Dummes: «Ich bin alleine hier.» Ein Blinder tastet sich durch einen Raum. Von der Decke baumeln Seile. Er muss an einem ziehen. Neunundneunzig Seile sind Attrappen, aber das Hundertste ist an einer Falltür befestigt, auf der ein Amboss steht. Ich zog mit aller Kraft am hundertsten Seil. «Normalerweise», fuhr ich betäubt fort, «komm ich mit Heinz.» Diese Bemerkung ließ mich so viel Boden unter den Füßen verlieren, dass es kaum schlimmer kommen konnte. Doch es kam schlimmer. «Heinz Brenner», hörte ich mich nämlich erläutern, «ein Arbeitskollege. Der wartet sonst immer draußen im …» Hoppsa! «… Auto.» Beinahe «Leichenwagen» gesagt! «Er behauptet zwar immer, dass er nichts wolle …» Stimmt hier der Konjunktiv? Großer Gott! Und wenn er stimmte, käme ihr das nicht reichlich behämmert vor? Wolle? Wollte? «… aber ich bring ihm immer was Süßes mit, und er, der Heinz, meine ich, freut sich wie … wie …» Wie was? Wie wer? Wie wer oder was freut sich Heinz? Nanu? Was mag denn wohl an diesem Seil hängen? Noch ein Amboss? Ich riss an dem herabbaumelnden Seil wie ein betrunkener Glöckner, und mir stürzte, jetzt tot umfallen bitte-bitte, ein heiseres «wie Oskar» in den Mund.
Probleme mit der Tüte, Wiedersehen, ich hob die Tüte vom Boden auf, Probleme mit dem Geldbeutel, ohweh, ich hob den Geldbeutel vom Boden auf, klemmte die Tüte unter den Arm, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche, Probleme mit der Tür, fester drücken, ting, lassen Sie sie ruhig auf, dann kommt frische Luft rein, ting, Wiedersehen, danke für die Schnecke, ich erreichte die Bushaltestelle verschwitzt und beschämt.
Ich trat in der Bäckerei Gallinger auf wie ein sprachlicher Vollspastiker. Normalerweise brachte nur Susannes Mutter das Kunststück fertig, die Bildwelten zweier oder mehrerer umgangssprachlicher Redewendungen aufs Allerdümmste miteinander zu verschmelzen. Doch ihr legendärer Ausspruch «fit wie Nachbars Turnschuh» stand meinem Bäckereigestammel in nichts nach. Ob es nicht einfacher wäre, Jasmin alles zu gestehen? Ich kaufe die Schnecke nur wegen dir, ich werfe sie an der Bushaltestelle in die Tonne, denn nachher kaufe ich mir mindestens eine helle Nussecke beim Teuren Arthur, supergute Nussecken gibts bei dem, da kann man alle Schnecken vergessen, die ihr Gallinger euch so zusammenbackt …
Schnaubend hielt der Bus auf dem Campus. Die Türen zischelten, legten sich mächtig ins Zeug, schließlich teilten sich die dicklippigen Gummiwülste und gebaren eine Wolke junger, wissensdurstiger, lachender Menschen und ein bedrücktes, reichlich ramponiertes Exemplar der Gattung Georg fahlmanniensis L. Der hatte sich als Junge regelmäßig eine eingeschweißte Zeitschrift namens Yps gekauft, unter deren Folie ein kurzlebiges Plastikspielzeug klemmte, das den mysteriösen Namen «Gimmick» trug. Typische Gimmicks waren das Um-die-Ecke-kuck-Fernrohr, die Mondmaske oder der Zauberbumerang, unnötiger Plastikkram, den man selbst oder mit väterlicher Hilfe zusammenbaute und der längst kaputt war, wenn das nächste Yps erschien. Worauf will ich hinaus? Sie ahnen es nicht! Wetten? Nehmen wir einmal an, die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft wäre ein Ypsheftchen. Was wäre dann die Sprachwissenschaft? Richtig, sie wäre das Schwarze Gimmick, ein lästiges, sich von Schlaftabletten nährendes Nebenfach, das einem, ohne dass man sich dagegen wehren kann, mitgeliefert wird. Zum Glück machte ich bei Frau Professor Bangmann nur einen Sitzschein. Sie war eine traurige, triefäugige Koryphäe im Verschriften mundartlicher Alltagsgespräche, die ihrer Jahre als Feldforscherin (schiefes Hütchen, Tonbandgerät) mit Wehmut und leidender Flüsterstimme gedachte. Mir grauste es vor dem Seminar, vor neunzig Minuten einschläferndem Wortgeplätscher. Unweit der Haltestelle überquerte ich ein schmales Sträßlein und wurde zu einem Wellenkamm des Studentenstroms, der sich zwischen frisch gestutzten Hecken in südliche Richtung ergoss, um auf Höhe des grauen Betonturms, der so geheimnisvolle Fächer wie Experimentalphysik und Elektrotechnik beherbergte, in ein Delta der tausend Möglichkeiten zu münden, dessen dünne Arme auf staubigen Parkplätzen, vor der Buchhandlung, der Bank, dem Lädchen und den gläsernen Eingangstüren zahlreicher Gebäude versiegten.
BsssSSS (die freundliche Attacke) – SSSssSSS (um den Kopf herum) – SSSssss (in Richtung ein Uhr davon). Unerschrocken hielt der Käfer auf Bau 31 zu (Rechtswissenschaft) und wurde zu einem taumelnden Punkt vor den Betonwänden der traditionslosen, nach dem Zweiten Weltkrieg in gedankenloser Windeseile aus dem Boden gestampften Universität. Mit einem Mal erschien mir alles unwirklich. Mir war, als hätte ich die wirkliche Welt auf dem Dachboden zurückgelassen. Allein am Tisch mit der mürrischen Schreibmaschine fühlte ich mich sicher; hier auf dem Campus dagegen war ich ein ältlicher, verlegener Geist, unsichtbar für diese grauenhaft jungen Mädels in ihren bauchfreien Shirts und knappen Shorts. Jetzt, wo ich das alles wahrheitsgetreu niederschreibe, wird mir schmerzhaft bewusst, dass das Wichtigste und Erinnerungswürdigste meines Studiums die hellen Nussecken des Teuren Arthur waren. Lausche ich in mich hinein, höre ich noch immer den semitheatralischen Seufzer, mit dem er meine klingelnde Handvoll Kleingeld entgegennahm. Dienstags waren die Nussecken noch weich und köstlich, doch je näher das Wochenende rückte, desto härter wurden sie. Bevor ich jedoch an diesem Tag dem miesepetrigen Edeka-Verkäufer achtzehn Zehnpfennigstücke aus der Kleingeldtasse in die hohle Hand zählte, schlug ich in der Universitätsbuchhandlung meinen Namen im VLB nach, um mich zu vergewissern, dass es mich noch gab, obwohl mich niemand wahr-, geschweige denn ernstnahm. Danach kaufte ich ein Taschenbuch (den Chandler hatte ich letzte Nacht ausgelesen) und kuckte dabei einer Studentin in die Bluse, die sich neben der Kasse nach Philosophischem bückte.
«Don Juan war Analphabet», hatte Winkler einmal behauptet (oder zitiert?), um, ehe ich widersprechen konnte, mit einem triumphierenden Schlenker des Zigarillos fortzufahren (fortzuzitieren?): «Allein dem Voyeur, diesem Don Juan des Geistes, ist als göttliches Geschenk die Gabe des Schreibens gegeben.» Als Gegenargumente fielen mir damals leider nur ein halbes (Casanova schrieb seine Memoiren erst im Alter – also nach den Frauen) und ein gänzlich indiskutables ein, nämlich eine erfolgreiche, längst verstorbene belgische Romanfabrik, die angeblich von den Autoren, die sie bewunderten (Maugham, Gide, sie selbst), keine Bücher lesen konnte, weil diese ihr viel zu langweilig waren. Freundliche, kleine Brüste, die Studentin richtete sich auf und sah mich böse an, der un-sichtbar Seiende verliert sein un-sichtbares Sein durch das anwesende, weibliche Gewahrwerden seines ihn sichtbarmachenden Beobachtens, vielleicht sehe ich heute Viola, ich hatte sie dienstags schon einmal vor der IB getroffen, lange, rote Haare, Zahnspange, bezauberndes Lächeln, Bärendienst, was für ein Schwachsinn, ich sollte das Skript morgen gleich wieder wegschicken, guten Arsch hat sie auch, hoffentlich wird Jens nicht so wie ich, der biologische Stempel, wenigstens stehe ich im VLB, hat uns allen die Sau ins Fleisch gedrückt, bück dich nochmal, bück dich, bück dich, besucht bestimmt das Seminar über Existentialismus, glotz nicht so, du Bumskuh, wohin mit dem Buch, braucht keiner zu sehen, was ich lese, Inge, vielleicht läuft mir Inge, hat viel größere Titten, übern Weg, und jetzt nichts wie ab nach Nussecktopia.






