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Der Teure Arthur seufzte herzerweichend, ließ meine Zehner auf das klebrige Gummi des Warenbands fallen, und ein zählender Finger stieß auf jede einzelne Münze nieder, um sie ungläubig anzutippen, «Bon brauch ich nicht», sagte der Mensch, der ich an der Uni war (und den ich nicht sonderlich mochte), und nahm die backfrische Dienstags-Nussecke aus der Tüte. Draußen, unter der gelb-blauen, das Schaufenster horizontal teilenden Edeka-Banderole überquerte Professor Capart den Parkplatz. Unverkennbar der abgehackte Gang, der beständig aus dem Takt zu fallen drohte. Unverkennbar auch die breit aufgefächerten Hände, die auf Hüfthöhe glattstreichende Bewegungen in der Luft vollführten. Ich trödelte aus dem Laden, verzehrte die Nussecke in der Deckung einer Vogelbeerhecke und steuerte erst auf den Eingang zu, nachdem Capart schon einige Minuten lang in Bau 35 verschwunden war. Doch kaum hatte ich das Gebäude betreten, sah ich ihn im Bilderrahmen der Aufzugskabine. Eine Hand blockierte die Lichtschranke, die andere winkte mir zu. Oh, wie ich diese verhängnisvollen Begegnungen hasste! Einmal hatte Capart urplötzlich am Urinal neben mir gestanden (in Bau 12, wenn ich mich recht entsinne). Krampfhaft hielt ich den Blick gesenkt, drückte, presste und schwieg dabei so verbissen wie ein Sprengmeister bei der Entschärfung einer Nitroglycerinbombe in einem Erdbebengebiet. Vielleicht, hoffte ich in den Tagen nach diesem peinlichen Rendezvous, hat er mich nicht erkannt, denn wir hatten schweigend und versagend nebeneinander gestanden, bis ich kapitulierte, ein Erfolg vortäuschendes Tröpfchenschütteln andeutete, den Spatz wegpackte, die Spülung betätigte und mich davonstahl, um meine Lieblingstoilette in der Musikwissenschaft aufzusuchen. Bäuchel, ein Zechkumpan von Heinz, pflegte fast alles, was er erzählte (und das war nicht viel), mit der Frage «Und was lernen wir daraus?» und der prompten Antwort «Nichts!» zu beschließen, und mit einem ähnlichen Resümee (Wie weit darf eine Metapher gehen?) sollte ich diesen anekdotischen Fussel von der Weste meiner Erinnerung (so weit?) zupfen, und sofort stehe ich wieder, Spannungsmusik, Grabesstimme, im blutbespritzen Aufzug des Todes.
Professor Capart begrüßt mich herzlich (meine Veröffentlichung in einem angesehenen Verlag imponiert ihm), der Leuchtpunkt der Lichtschranke verlässt seinen braun gesprenkelten Handrücken, wird unsichtbar, und die zugleitende Tür beschert uns eine unerträgliche Intimität. Ich schnüffele verhalten. Die Flügel von Caparts fleischiger, an der Spitze gespaltener Nase überzieht ein Heer schwarzer Mitesser; im rechten Mundwinkel baumelt ein kleiner, trockener Krümel; das linke Auge wirkt ungewöhnlich feucht. Worüber soll ich mit ihm reden, mit diesem unentwegt Horaz zitierenden Langweiler, dieser tragischen Gestalt, die darunter leidet, dass ihre großen Jahre in Tübingen und Brüssel vorbei sind, diese glanzvolle Zeit, in der die Fachwelt ihre Publikationen noch raunend zur Kenntnis nahm? Seit vielen Jahren hat Capart keinen Satz mehr veröffentlicht. Mit stockendem Staunen trägt er seine alten Vorlesungen vor und katapultiert damit die nichtsahnenden Studenten zurück in die siebziger Jahre. Alle ernstzunehmenden Arbeiten bürdet er Polkinger auf. Der würde meine Magisterarbeit zwar als einziger Erdbewohner lesen, recht begabt, und die Ränder mit seinen ahnungslosen Anmerkungen verzieren, stilistisch schwach, ungenauer Ausdruck, schwerer logischer Fehler, aber wie ein greiser römischer Imperator, der schon bessere Zeiten gesehen hat, behält Capart sich das Recht vor, die alles entscheidende Endnote zu vergeben. Am besten unterhalte ich mich mit ihm übers Wetter. Der Aufzug löst sich mit einem motivationsarmen Ruck. «Jetzt gehts los, Herr Fahlmann!», sagt Capart aufgeräumt und gibt mir erneut Gelegenheit, Bekanntschaft mit seinem säuerlichen Mundgeruch zu machen, der sich heute mit einem mich melancholisch stimmenden Mottenkugelduft mischt, der aus dem Sommeranzug aufsteigt. «Na», der Krümel springt auf den Hemdkragen, wo er sich sichtlich wohlfühlt und es sich bequem macht, «was macht die Wissenschaft?»
«Gut», sage ich. «Trotz», und jetzt ist es soweit, «des Wetters.» Ich bemühe mich, ein intelligentes Gesicht zu machen, Doppelnullnummern, das um Tage verspätete Echo eines James-Bond-Vortrags von Winkler scheppert mir durch den Kopf, nur die Doppelnullnummern, aber Capart will leider nicht, haben die Lizenz, übers Wetter reden, zum Töten.
Stattdessen erkundigt sich die freundliche Doppelnull, die den jungen Dichter ins Herz geschlossen hat, leutselig: «Und was macht die Literatur, Herr Fahlmann?»
«Wie meinen Sie das?», frage ich unschuldig.
«Ihre Literatur. Das, was Sie so schreiben.»
Der Aufzug hält im Verteilergeschoss, öffnet sich, wartet, niemand steigt zu. «Ich werde demnächst wieder was veröffentlichen», gestehe ich. Die Tür schließt sich, schließt sich jedoch nur halb, denn Caparts linkes Hosenbein hat die Lichtschranke erschreckt. Überglücklich gleitet die Tür wieder auf, um den Aufzug einige peinigende Sekunden länger als zuvor warten zu lassen.
«Und was gedenken Sie demnächst zu publizieren, wenn ich fragen darf?»
Die Tür schließt sich. «Zwei Gedichte in einer Anthologie.»
«Kennen Sie sie auswendig?»
Was für eine saublöde Frage! «Nein, leider nicht.»
«Darf man die Titel der Gedichte erfahren?»
Der Aufzug setzt sich in Bewegung. «erste worte. letzte worte.»
«Aha», Capart denkt nach und verkündet dann mit selbstgefälligem Kopfgewackel: «Geburt, Adoleszenz und Tod.»
Peng! Ich bin abhängig von jemandem, den ich für einen völligen Trottel halte.
Natürlich steige ich in Caparts Auto, wenn er mir anbietet, mich in die Innenstadt mitzunehmen, auch wenn ich dort nichts verloren habe. Am Rathausplatz bedanke ich mich dann artig, sehe dem Volvo nach, bis er außer Sicht ist, und nehme den nächsten Bus zurück zur Uni. Aber im Gegensatz zu Marsitzky ist Capart weder gemein noch hinterhältig, und genau genommen fürchte ich auch nicht ihn, sondern seine Willkür, die, wie ich ahne, die Folge einer unbeschreibbaren Inkompetenz ist. So muss ich jederzeit damit rechnen, dass mir ein gruseliger Zufall (Polkinger, ein Missverständnis, üble Nachrede, eine unvorsichtige Veröffentlichung) Caparts Gunst und die Eins für die Magisterarbeit entzieht. Heute weiß ich, dass ich Capart damals mochte; ansonsten hätte mich der Mottenkugelgeruch seines altmodischen Sommeranzugs nie anrühren können, doch dieses Wissen ändert nichts; es macht alles bloß schlimmer. «Sie beschreiten da einen mutigen Bogen, wie er nicht selten begangen (…) vom ersten Gestammel des Kindes, das beglückt die Welt begrüßt (…) Ihr lyrisches Philosophieren von der Wiege bis zur Bahre sozusagen (…) wissen sicherlich, Herr Fahlmann, was der Dichterfürst (…) rief mit ersterbender Stimme: Mehr Licht!»
Endlich hat der Aufzug die Zieletage erreicht und macht die Saumseligkeit der Fahrt mit einem energischen Aufreißen der Tür wett. Er hat nicht nach der Hausarbeit gefragt, denke ich erleichtert. Ich hätte sie bereits vor fünf Wochen abgeben müssen. Oder vor neun? «Ach, Herr Fahlmann, ich wollte Sie was fragen! Da habe ich gestern schon … Etwas Dringendes. Was war es denn nochmal gleich? Ach, ja … Waren Sie mit Ihrer Lesung zufrieden?»
«Ja …» Ich hole in Gedanken aus, gleite dabei aber so heillos in geist- und sternlosen Weiten davon, den Kescher verloren, den Kompass verlegt, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als den Vokal unbarmherzig in die Länge zu ziehen. Manchmal vermittelt gerade diese Form ohnmächtiger Sangeskunst den Eindruck besonnener, selbstkritischer Distanz. Kaum ist mein schier endloses «a» verhallt, schieße ich, ohne etwas dagegen tun zu können, ein heiter-gelassenes «durchaus zufrieden» nach, um ein Höchstmaß tiefer Bedeutung in der Tradition Fontanes vorzutäuschen.
«Herr Polkinger hat mir davon berichtet. Ich höre dann bald von Ihnen?»
«Bitte?»
Er tritt aus dem Aufzug. «Ihre Hausarbeit. Sie können Sie ja in mein Fach legen.»
Ich versichere Capart, das tun zu können, bald tun zu werden, voraussichtlich nächste, nein, schon diese Woche, vielleicht nächsten Montag, ähm, da arbeite ich, also Dienstag, ich zupfe das klebende Hemd vom Rücken, nein, alles in Ordnung, danke der Nachfrage, auf Wiedersehen.
Dabei hatte die Sache mit der Hausarbeit ganz harmlos angefangen! Nach der ersten Sitzung des Thomas-Mann-Hauptseminars hatte ich Professor Capart das abgeschmackte Thema Personennamen bei Thomas Mann vorgeschlagen, weil mir das der einfachste Weg zu sein schien, locker an einen Hauptseminarschein zu kommen. Keine umfangreiche Primärlektüre, kaum brauchbare Sekundärliteratur, keine Schinderei. Capart hatte nichts gegen die Personennamen einzuwenden und freute sich sogar über das «ungewöhnliche und ambitionierte» Thema. «Möchten Sie übernächste Woche referieren?» – «Kein Problem!», sagte ich, las in der Nacht vor dem Referatstermin einige Mann-Romane quer, kritzelte die Namen der darin auftauchenden Personen auf ein Schmierblatt, schmiss am folgenden Tag eine Fenetyllin ein, betrat den Seminarraum kaum verspätet und improvisierte fast fünfzig Minuten über Figuren wie Doktor Grabow, Pastor Pringsheim, den Speicherarbeiter Grobleben, Herrn Permaneder, Hofbräu, Herrn Nachbohr und Mamsell Jungmann. Bei Hofbräu und Herrn Nachbohr handelte es sich, wie ich Tage später herausfand, um Fehlgeburten des Querlesens, denn auf den Seiten 329 f der Buddenbrooks heißt es lediglich:
«Es ist nicht gerade Hofbräu, Herr Permaneder, aber immerhin genießbarer als unser einheimisches Gebräu.» Und der Konsul schenkte ihm von dem braun schäumenden Porter ein, den er selbst um diese Zeit zu trinken pflegte.
«I donk scheen, Herr Nachbohr!» sagte Herr Permaneder kauend und merkte nichts von dem entsetzten Blick, den Mamsell Jungmann ihm zuwarf.
Und was hatte ich so schön über die beiden gesprochen! Ich konnte von Glück sagen, dass ich nicht auch noch über die Herren Porter und Zeit oder den chinesischen Rikschafahrer Donk Scheen referiert hatte, aber auch dann wäre Capart wahrscheinlich entzückt gewesen. Ja, er war dermaßen aus dem Häuschen, dass er mir nach der Sitzung vorschlug, meinen «glänzenden Vortrag» zum Fundament einer bahnbrechenden Magisterarbeit zu machen, beziehungsweise gleich über dieses «hochinteressante und ergiebige Thema» zu promovieren. Zuerst brauche er jedoch die verschriftlichte Fassung des Vortrags. «Das bedeutet keine Mühe für Sie. Sie müssen bloß alles niederschreiben, und Ihre Hausarbeit ist in trockenen Tüchern!» Thomas Manns letzte Tagebucheintragung vom 29. VII. 1955 endet abgeklärt: Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Soll heute etwas im Stuhl sitzen. – Verdauungssorgen und Plagen. Mir ging es seinerzeit kaum anders: Ich saß am Schreibtisch, hatte Darmdrücken und es erwies sich als schlichtweg unmöglich, das Referat zu rekonstruieren. Ich hatte alles vergessen. Langsam wird es sich lichten. Ich experimentierte mit Fenetyllin, mit Bier, mit guter und mit schlechter Laune, doch die Mosaikstückchen, die ich aus den Fenetyllinsümpfen zerrte, waren größtenteils unbrauchbar. Kurz streckte der Pastorensohn Grünlich den Arm aus dem Morast, winkte mir kraftlos zu, heiratete Tony und versank mit einem gellenden Aufschrei in der schwarzen Brühe. War Christian Buddenbrook nun mit einer Dame zweifelhaften Rufs namens Puvogel – oder Puffvogel? oder Pufforgel? – befreundet, oder spielte mir da mein Gedächtnis einen Streich? Vielleicht sollte ich mit Müller-Rosé aus dem Krull beginnen.
Manns große Kunst der Namensgebung, schrieb ich zögernd, zeigt sich am Deutlichsten, fuhr ich Mut fassend fort, in der Figur des schäbigen Schauspielers Müller-Rosé, den Felix Krull mit seinem Vater in der Garderobe des Theaters (Namen des Theaters nachschlagen!) aufsucht. Dadurch dass Mann den deutschen Allerweltsnamen «Müller» (im Namenslexikon prüfen!) mit dem im Volksmund «Rosé» genannten Roséwein paart, erreicht er, Mann, einen komischen Kontrast von einer schalen Schäbigkeit, die auf den fetten, schwitzenden Träger dieses Namens zurückfällt. Langsam kam ich in Fahrt. Denn gerade beim Roséwein handelt es sich um ein Produkt zweifelhafter Güte. Für Roséweine, hastiges Blättern, bzw. Weißherbstweine werden die Rotweintrauben nach einigen Stunden von der Maische abgekeltert und anschließend wie weißer Most vergoren. Nach der Hauptgärung folgt meist eine gelindere Nachgärung, die einen biolog. Säureabbau usw. Ich schrieb den kompletten Eintrag aus Meyers Taschenlexikon ab und fühlte mich dabei noch schäbiger als der gute Müller-Rosé mit seinen entzündeten Pickeln und dem schlecht sitzenden Toupet. Und wie sollte ich mit Professor Kuckuck verfahren, der, wenn ich mich nicht täuschte, die letzten Seiten des Krull mit seiner beleibten (?) Anwesenheit erfüllt? Sollte ich etwa seitenweise ornithologischen Schwachsinn zum Besten geben? Kuckucke [niederdt.] (Cuculidae), weltweit verbreitete Fam. schlanker, vorwiegend braun und grau gezeichneter, sperling- bis hühnergroßer Vögel mit rd. 130 Arten, v. a. in Wäldern, Steppen, parkartigen Landschaften und bei Thomas Mann, dem ungekrönten Meister der Namensgebung, dem dornengekrönten Meister des geistreichen Tagebuchs.
Sie wollen Beispiele, Professor Capart? Nun gut, hier sind die Beispiele, aber sagen Sie hinterher nicht, man hätte Sie nicht gewarnt! – Gedünstete Zwiebelringe bei der Arbeit verzehrt. K. klagt über meine schweren Blähungen (undatiert). – Verblüffend frühzeitiger Samenerguss mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit (2. III. 45). – Gute Laune dank Frivol (5. IV. 32) – Ich riss das Blatt aus der Maschine. Dieser Planet kann nicht kolonisiert werden! Dieser Fall wird nicht übernommen! Dieses Haus hat weder Fenster noch Türen! Ja, es überstieg meine Kräfte, diese Arbeit zu schreiben. Das alles raubte mir die Lust am Leben. Keine Sekunde länger durfte ich über diese bescheuerten Namen nachdenken! Was trinken Sie zum Geburtstag? – Einen Müller-Rosé, Frau Nutte! Ich konnte nicht länger an meinem eigenen Roman weiterarbeiten, wenn sich neben dem Schreibtisch der schiefe Turm der Thomas-Mann-Bände erhob. Vorwurfsvoll. Lindgrün. Doof. Ich brachte die Bücher zurück in die Universitätsbibliothek, wo sie hingehörten. Tage später verlegte ich den Zettel mit der amüsanten Namensliste. Zwei Wochen später erinnerte mich Polkinger lautstark daran (die tüteligen Damen von der Institutsbibliothek bekamen alles mit), dass ich den Abgabetermin der Hausarbeit längst überschritten hätte. Ich faselte etwas von plötzlichen Sterbefällen in der Familie und rief am selben Abend Professor Capart unter seiner Privatnummer an. «Die Arbeit ufert aus. Es war unumgänglich, einen langen Exkurs einzuschieben, zu dem größere Recherchen in der UB notwendig waren.» – Verwundert: «Einen Exkurs?» – «Ja, einen Exkurs über …» Fontane fiel mir ein. Und Reuter. – «Einverstanden. Reichen Ihnen drei Wochen?» – «Selbstverständlich.» – «Hat er dir noch Zeit gegeben?», rief Susanne aus dem Wohnzimmer.
«Drei Wochen», sagte ich. «Das schaff ich nie!» Susanne lag auf der Couch und studierte die Fernsehzeitung. Unter dem Minirock konnte ich (erlaubter Voyeurismus) den weißen Keil ihres Höschens sehen. «Du sagst doch immer, das Studium wär so einfach. Zieh die Sache durch, dann hast dus hinter dir!» – «Ja, es ist einfach, aber ich kanns nicht!» Ich ließ mich in den Sessel fallen, auf den ihre Beine zeigten: noch mehr erlaubter Voyeurismus. Die Freibadbesuche mit Anja hatten Susannes Haut gebräunt und feine Härchen sichtbar gemacht. Sie sah gut aus, sie durfte ins Schwimmbad, und an mir ging das Leben vorüber wie ein dicker, reicher Mann mit Smoking, Zylinder und Zigarre an einem Cartoonbettler. Capart, was für ein kranker Name! Thomas Mann hätte ihn sich nicht besser ausdenken können! «Und wieso kannst du das Ding nicht schreiben?» – «Ich kanns einfach nicht.» – Susanne legte die Fernsehzeitung auf den Wohnzimmertisch, wartete. – «Früher», gestand ich, «habe ich gerne Thomas Mann gelesen … wie er die Erdbeeren … das ist ja wirklich verdammt gut geschrieben … aber alles, womit man sich an der Uni beschäftigt, wird einem vergällt … als würden sie einem Drogen ins Trinkwasser … Kommt heute was im Fernsehen?» – «Der übliche Mist.» Pause. «Ich geh nachher sowieso noch weg.» – «Noch weg», bemerkte ich matt. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich um. «Ich … äh … wollt dir noch was sagen: Gut siehst du aus!» – «Danke», sagte Susanne und schlug die Fernsehzeitung auf.
Das nächste Telefonat mit Capart hatte ich vier Wochen später geführt. Nun ging ich aufs Ganze und verwickelte ihn in ein längeres Fachgespräch. «In einem literarischen Werk ist die Namensgebung nicht unproblematisch. Eine dicke Frau kann Dommel heißen, ein Luder nie Doose. Ein Bestattungsunternehmer darf nie Grahlmann heißen. Ein alter, dünner Herr mit Hermann-Hesse-Brille kann aber durchaus Grahl heißen. Ein Name wie Gotter ist eine dunkle falsche Fährte; Raumhuber kommt nie aus der Kneipe nach Hause; Kasbohn riecht; aber Karlinski geht schon wieder. Das war jetzt vielleicht ein wenig zu unsachlich …» Leise klappte mein Doppelgänger, den ich die ganze Zeit über im Flurspiegel mit reserviertem Ekel beobachtet hatte, das Telefonbuch zu. «Ein wenig zu unsachlich?», wiederholte ich fragend. – «Oh, das war keineswegs unsachlich!» – «Untersuchte man die Namen im Werk Thomas Manns unter ähnlichen Gesichtspunkten, käme vielleicht als Ergebnis heraus, dass sie strenggenommen gar nicht funktionieren dürften.» – «Aber sie tun es!», bemerkte Capart entzückt. «Jedenfalls fast immer, denn Namen wie Serenus Zeitblom, Adrian Leverkühn oder Hofbräu …» – «Ja, das ist zu dick. Viel zu dick! Äh, Hofbräu ist zu dick! Den Namen meine ich. In München da steht Hofbräus Haus!», rief ich und schämte mich über meine unterwürfige Euphorie.
Und nun, nach der fürchterlichen Begegnung im (s. o.) Aufzug des Todes, müsste ich Capart demnächst ein drittes Mal anrufen; Achim würde sich schlapplachen. Unversehens ist mein Leben zu einem langen, in der Sonne weiß glühenden Gleis geworden, auf dem ich eine Hausarbeitsdraisine durch Telefonanrufkraft wochenweise vor mir herschiebe, ohne jemals den Zielbahnhof zu erreichen, wo mich ein greiser, unartige Liedchen trällernder Capart auf einem Schrankkoffer voller Literaturlexika erwartet. Capart ist der einzige Professor in der Germanistik, der die Seminararbeiten schon während des Semesters haben will. Weshalb? Das hat doch überhaupt keinen Sinn! Aber vielleicht ist es doch zu bewältigen. Ich muss, ich muss, ich muss diese beschissene Arbeit schreiben! Dies hatte ich etwa einen Tag nach der Aufzugsfahrt mit Capart und etwa einen oder zwei Tage, bevor ich mich über den Schreibtisch beugte, um erneut über Namen nachzudenken, notiert.
Im wirklichen Leben (was auch immer das sein mag) schienen die Namen seltsamerweise immer zu passen. Alle Namen! Winkler konnte nur Winkler heißen, Marsitzky nur Marsitzky, und dass hinter der hübschen Jasmin der tumbe Nachname Rimbach hertrottete, passte auch irgendwie. Irgendwie, aber wie? Ich zerbrach mir nicht zum ersten Mal über dieses vertrackte Thema den Kopf, denn es war mir noch nie leichtgefallen, richtig klingende Namen für meine Protagonisten auszudenken, unaufdringliche Namen, die fest mit ihrem Wesen verschmelzen ohne ausgedacht zu wirken. Nie, aber auch wirklich nie, hätte ich eine meiner Figuren Capart genannt (außer vielleicht den langzahnigen Kutscher eines karpatischen Fürsten). In der Wirklichkeit hingegen ging dieser Name bedenkenlos durch. Komisch. Wieso sollte er dann nicht auch in einem literarischen Text funktionieren? Capart spürte das beruhigende Gewicht der Luger in der Hosentasche. Capart hatte den Berg schon oft zuvor erklommen, aber heute war ein besonderer Tag: Heute würde er Polkinger auf dem Gipfel treffen. Nur mit solchen Beispielsätzen gelang es mir, einen Namen auf Texttauglichkeit zu testen. Die Hauptperson meines Romans hatte ursprünglich heißen sollen: Eisler (zu kalt), dann Lindner (zu warm, zu wurmig), und erst nach mehreren Wochen und hunderter solcher Testsätze hatte ich einen wohltemperierten Namen gefunden, der passte, einen wunderbaren, zweisilbigen Namen, der gleichzeitig hart und dumpf klang. Vielleicht hätte ich meinen Helden auch Capart nennen können. Obwohl: Mein Held sah nicht wie ein Capart aus. Caparts waren dümmliche Greise, die sich darin gefielen, nett zu jungen Lyrikern zu sein, weil diese sie irrtümlicherweise an jüngere Versionen ihres Ichs erinnerten. Bestimmt hatte der junge Capart geschriftstellert, Selbstgereimtes im Stil Gottfried Benns, und heute schrie die Prostata. Namen. Weiter über Namen nachdenken!
Um seine charakterlosen Protagonisten zu benennen, arbeitete Winkler mit einem Namenslexikon, während ich meine Erinnerungen plünderte (ehemalige Nachbarn, Lehrer, Feinde), seltener Anagramme bastelte, noch seltener eigene Erfindungen verwendete oder, wenn gar nichts mehr ging, das Telefonbuch von Kiel bemühte. Von Kiel, damit ich nicht in Gefahr lief, den Leuten aus meinen Texten irgendwann einmal auf der Straße zu begegnen. Das Telefonbuch von Kiel, das damals immer auf meinem Schreibtisch lag, war ein wunderbares Buch voller enigmatischer Einträge wie: Mehmet Nuri Atabek, Mustafa Atak, Altanta Segelyacht, ATARI Fachhändler, Seydi Atas, Bahman Atashfeshan, Ahmet Atasoy. Nachdem Mehmet Nuri Atabek, Mustafa Atak, Atlanta Segelyacht und Ahmet Atasoy die Wüste Atas durchquert hatten, gelangten sie in eine kleine Stadt, und über den engen Gässchen und hinter dem sengenden Auge einer unbarmherzigen Sonne klappte ihr Schöpfer das Telefonbuch zu, beendete ihre Existenz, fand sich auf einem Dachboden in der süddeutschen Provinz wieder, es war später Nachmittag, und er wusste, dass er diese verfluchte Hausarbeit niemals schreiben würde. Ich zog der Schreibmaschine die Phrygiermütze (Gott, hatte ich mich bei der Lesung blamiert!) aus schwarzem Plastik über den Kopf und ging nach unten – Susanne hatte Herrenbesuch. Doch ich greife vor. Holzstufen knarrten; die Treppenhauswände waren untapeziert; den Abstieg begleiteten eine in Handhöhe angebrachte Zierleiste (links) und ein Geländer (rechts), dessen Handlauf sich rau wie die Haut eines Dickhäuters anfühlte. In unserer Wohnung lachte Susanne. Vielleicht ist Anja zu Besuch, dachte ich, aber da hörte ich ein Männerlachen. Ich setzte mich auf die Antrittsstufe, Susanne lachte, der Mann lachte, ich kniff mir ausgiebig in den Handrücken, stand endlich auf und steckte den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür.
Augenblicklich machte sich befangene Stille breit, kroch in sämtliche Ritzen und Winkel meines Zuhauses, kroch in die Taschen der sehnsüchtig auf den Winter wartenden Mäntel an der Garderobe, kroch sogar hinter Spiegel und Weltkarte.
«Schatz?», fragte ich halblaut, um sie zu ärgern.
«Hier!», rief Susanne. «Wir sind im Wohnzimmer.»
Neben ihr auf der Couch saß der weißhaarige Kerl, mit dem sie sich immer in der Edeka-Kantine traf. Vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch schaute ein mit Krümeln bedecktes Papptablett aus der Tüte einer mir wohlbekannten Bäckerei. Susanne stellte ihre Tasse neben den Untersetzer. Der Kerl starrte mich mit leerem Gesichtsausdruck an, abwartend, selbstsicher, ohne den leisesten Funken Neugierde, den ich ihm gnädig als Intelligenz ausgelegt hätte. Jemand wie ihm konnte man bestimmt erzählen, Käpten Nero habe bei Trafalgar die belgische Flotte besiegt. Der Schwachkopf sah aus, als käme er direkt aus Spitzbergen. Dort arbeitete er wahrscheinlich in einem Tante-Emma-Laden, denn seine grüblerisch vorstehende Unterlippe und das ausgeprägte Kinn machten es so gut wie unmöglich, nicht an altmodische Registrierkassen zu denken. Käpten Neptun, letterte ich für eine imaginäre Idiotengazette, steckt mit seinem Atom-U-Boot Naupilus im Krakianengraben fest. Von den Ohren sichelten sich schneeweiße Koteletten zu den Mundwinkeln; die Albinohaare hatte er in modischen Gustav-Gans-Wellen zurückgegelt; an eine solche Allerweltsvisage erinnert man sich nur, wenn einem der Besitzer mit einer Machete die Hand abgehackt hat. Ungeheuerlich, dass Susanne für einen solchen Blödmann ihr Haar hochsteckte (normalerweise tat sie das nur, wenn sie freitagabends mit Anja ausging). Aber noch ungeheuerlicher fand ich es, dass mein guter Freund, der sonst so menschenscheue Om, wohlig schnurrend und mit geschlossenen Augen auf dem Schoß des Scheißkerls saß. «Tach», sagte ich ansatzweise diplomatisch.
«Das ist der Wolfgang», Susannes Hand wedelte unbehaglich in seine Richtung, streckte sich aus, zeigte auf mich: «Der Georg.»






