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Im Flur klingelte das Telefon, hartnäckig, mit prahlerischem Dudeln. Früher haben Telefone wenigstens noch richtig geläutet, aber das hört man leider nur noch in alten Filmen. Hier gibt es kein Telefon. Wozu auch? Ich sitze an einem – nein, ich muss weitermachen, muss mich weiter erinnern, das Telefon läutet, ich muss mich erinnern, wie ich die Kaffeetasse auf die Fensterbank stellte, in den Flur ging, muss mich genau erinnern, wie ich den Hörer abhob …
«Spreche ich mit Herrn Georg Fahlmann?»
Ich kannte die Stimme. «Ja», sagte ich.
«Es geht um Ihren Großvater.»
«Wer spricht dort, bitte?»
«Buchhandlung Struebing. Struebing mein Name.»
Vorsichtig, um mich nicht im Telefonkabel zu verheddern, ging ich zurück in die Küche, schob das Frühstücksgeschirr beiseite und parkte das Telefon zwischen Tellern und Marmeladengläsern. Jens hatte seinen Kakao nicht ausgetrunken, aber wir waren froh, wenn er überhaupt frühstückte. «Ein halbes Brötchen», drängten wir und werteten es als Erfolg, wenn er zwei Drittel davon aß. Ein Pausenbrot brauchte man ihm gar nicht erst zu schmieren, da der Hausmeister der Grundschule, ein gewisser Herr Sattler, einen florierenden Handel mit aufgeschnittenen Brötchen unterhielt, zwischen deren Hälften er Mohrenköpfe plattdrückte; für Jens gab es nichts Köstlicheres.
«Was kann ich für Sie tun, Herr Struebing?»
«Er ist wieder da.»
«Und?»
«Er lässt sich nichts sagen.»
Ich ließ ihn zappeln.
«Wäre es möglich, dass Sie mit ihm …?»
«Sie möchten, dass ich mit ihm spreche?»
«Genau», sagte Herr Struebing dankbar, und kurz darauf meldete sich mein Großvater mit einem skeptischen: «Roeder?»
«Na, wie gehts?»
«Georg! Hat er dich wieder angerufen?»
«Wer sonst? Wie gehts dir?»
«Bestens. Über die Stufen des Walds tanzt das silberne Herz.»
Zu sagen, dass Großvater die Literatur liebte, ist untertrieben. Im Unterschied zu üblichen Bibliophilen handelte es sich bei ihm jedoch, wie er gerne betonte, um einen philanthropischen Bibliophilen, einen, dessen Lebenssinn darin bestehe, jeden an seiner Liebe zum gedruckten Wort teilhaben zu lassen. Hatte er einen guten Tag, das heißt einen Tag, an dem er erwachte und sich mitteilsam fühlte, was ziemlich häufig vorkam, zog er den Sonntagsanzug an, fuhr mit dem Bus in die Innenstadt und beriet die Kunden in seinen zwei oder drei Lieblingsbuchhandlungen. Da diese aber erst nach neun Uhr öffneten, begann er die Runde notgedrungen in der Buchhandlung Struebing, wo man nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften, Geschenkpapier und Schulbedarf verhökerte, ein Umstand, den Großvater von ganzem Herzen verabscheute. Durch einen Zufall (Jens schrieb ein Diktat, konnte den Füller nirgends finden und brauchte einen neuen) hatte sich mir eines Tages die Gelegenheit geboten, Großvater bei der Arbeit zu beobachten. «Kann ich Ihnen behilflich sein?», fragte er, den Oberkörper leicht vorgebeugt, die Hände in Bauchhöhe verschränkt, eine zuvorkommende Haltung, die ihm im Zusammenspiel mit der scharf gebogenen Nase und dem wiedehopfartigen Haupthaar etwas Vogelähnliches gab. «Sie arbeiten nicht hier, Herr Roeder!», versuchte der Buchhändler einzuschreiten, und ich nahm mit Entzücken zur Kenntnis, dass man das Ärgernis beim Namen kannte. «Wenn das so weitergeht, werde ich mich in Bälde gezwungen sehen, die Polizei zu alarmieren!» Großvater lächelte entwaffnend freundlich. «Ach, für mich ist das doch keine Arbeit! Das mach ich gerne!» – «Es geht nicht darum, ob Sie es gern machen, Herr Roeder!» – «Ich denke, dass es ganz allein darum geht!» Mit einer höflichen Verbeugung beendete Großvater das Gespräch. Ich verstand nicht, wieso Struebing sich aufregte. Meiner Meinung nach sollten Leute wie er heilfroh sein, wenigstens einmal am Tag eine kompetente Kraft im Laden zu haben.
«Was empfiehlst du heute?», fragte ich Großvater.
«Ich habe zurzeit ein Faible für die Amerikaner.» Wir plauderten ein wenig, Großvater nahm mir das Versprechen ab, ihn bald besuchen zu kommen, er habe da ein Buch, das ich unbedingt – er lachte. «Struebing macht die ganze Zeit spitze Ohren. Ohren wie ein kleiner Elferich – ich muss Schluss machen, da kommt Kundschaft.» Hastig wünschte er mir viel Glück bei der Arbeit, Grüße an die Familie sowieso, ach ja, natürlich sei er gespannt auf meinen Roman, sehr gespannt sogar. Er legte auf und ließ mich allein in der Küche zurück. Mittlerweile war es acht Uhr fünfundfünfzig. Ich stellte mich wieder ans Fenster, trank eine weitere Tasse Kaffee, rauchte und genoss es, noch immer nicht arbeiten zu müssen. Unten kurvte Heinz auf der Vespa in den Hof, gab Gas wie ein Stuntman, schlitterte über den Schotter, feixte zu mir hoch, nahm den Helm ab und brüllte: «Alles klar?» Ich antwortete mit einem aufgerichteten Daumen. Heinz lehnte die Vespa an die Wand, hängte den Helm an den Lenker, schnippte die Zigarettenkippe fort und zeigte mir den steifen Mittelfinger, ehe er, eine frische Gauloises zwischen den Zähnen, im Lager verschwand. Dort, wo die Kippe aufgekommen war, stieg zwischen den Steinen ein Rauchfaden auf. Mein Vater war sechsundfünfzig, als er starb. Da blieben mir noch fünfundzwanzig Jahre, nicht dran denken, schreiben, muss schreiben, muss jetzt endlich mit dem Schreiben beginnen, nur noch fünfundzwanzig Jahre, muss endlich schreiben.
Es gelang mir, den Kaffee nach oben zu transportieren, ohne etwas zu verschütten. Der Trick ist denkbar einfach. Vater hat ihn mir verraten, und ich glaube, das ist das Einzige, was ich jemals von ihm gelernt habe. «Du darfst beim Laufen nie auf die Tasse schauen», hatte er mir erklärt. Das sei der ganze Trick, und es funktioniert tatsächlich. Ich stieg die Treppe hinauf zum Dachboden, versuchte zu vergessen, eine randvolle Tasse in der Hand zu halten, zwang mich stattdessen, schwipp-schwapp, starr geradeaus zu sehen, setzte mich an den Schreibtisch, stellte die Tasse auf ein Schmierblatt – und nun begannen die richtigen Probleme. Außerirdische nahm man mir nicht ab. Aber Außerirdische waren doch das Einzige, was zählte!
21644 West 54. Place war ein ausgedörrtes braunes Haus mit einem ausgedörrten braunen Rasen davor. «Mrs. Florian?», sagte ich. «Mrs. Jessie Florian? Sind Sie die Mrs. Florian, deren Mann mal ein Vergnügungslokal auf der Central Avenue betrieben hat?» Ich klappte das Buch zu und überlegte, wo die Nagelschere wohl sein mochte. Susanne in Sachen Ordnung etwas schlampig zu nennen, war untertrieben. Ihre getragenen Slips fanden sich im Bad unterm Waschbecken, neben dem Bett, unter ihrem Kopfkissen, und manchmal räkelte sich eines der Seidenhöschen sogar in prahlerischer Freizügigkeit auf der Lehne meines Lesesessel. Es überraschte mich längst nicht mehr, wenn sich auf dem Telefontisch eine halbgegessene Birne in eine bräunliche Scheußlichkeit verwandelte, oder mich beim Hochklappen des Klodeckels ein blassgelber Teich angrinste. Susannes Neigung zur Unordnung wurzelte tief in ihrem Wesen, und dieses Ärgernis zu bekämpfen, hatte sich bereits in den ersten Wochen unseres Zusammenlebens als ebenso aussichtslos erwiesen, wie, sagen wir mal, erfolgreich nach der Nagelschere zu fahnden. Ich versteckte die Zehen unter der Decke, kratzte mich an der Nase, gähnte. Dabei fiel mir ein, dass morgen Mittwoch war, ich nahm die Armbanduhr vom Nachttisch, heute war Mittwoch. Mittwoch hieß: Leichenwagen fahren. Mittwoch hieß: Tote wegpacken. Mittwoch hieß: schwarze Kleider anziehen. Mittwoch hieß: das Haus verlassen. Mittwoch hieß: unablässig den Anschein erwecken, gleichzeitig freundlich, mitfühlend und betroffen zu sein. Mittwoch hieß: abstumpfen. «Es ist, als ob mir jeder Tote, den ich sehe, etwas nimmt.» Heinz waren solche Überlegungen fremd. «Nimmt?», hatte er befangen gefragt. Ernste Gespräche machten ihn verlegen; am unangenehmsten war es für ihn, wenn ich vom Schreiben oder der Uni erzählte; das tat ich daher nur in Notfällen. «Was nimmt?», wiederholte er ratlos, und ich bereute, überhaupt damit angefangen zu haben. Ich murmelte: «Irgendwas verschwindet», ergänzte matt: «Hokos-pokus-verschwindibus!» und war heilfroh, dass keine weiteren Nachfragen kamen.
Susanne gegenüber gab ich vor, die Arbeit mit dem Tod ließe mich völlig kalt. Die Decke neben mir hob und senkte sich; Susanne hatte bereits geschlafen, als ich von zwei Bierchen aus Mollingers Eck zurückgekommen war. Sie schlief, wie üblich, auf dem Rücken, den Kopf in die Beuge des angewinkelten rechten Arms geschmiegt, das Kinn knapp über den Stoppeln der Achselhöhle. Ihr Gesicht sah friedlich aus, die Lippen glänzten leicht. Über die bloße Schulter und das Kissen ergoss sich langes dichtes Haar, ihre Haut roch nach Schlaf. Die Brüste, die sie für zu groß hielt, waren halb bedeckt, und über dem Saum der Sommerdecke erschien als mittelschwere erotische Versuchung dieser Nacht die bräunliche Rundung eines Warzenhofs. Ich legte das Buch auf den Nachttisch, bemühte mich, kein allzu schweres Beben zu erzeugen und beugte mich rüber zu Susanne. Feine kupferfarbene Härchen bedeckten ihren Körper, schimmerten im Licht der Nachttischlampe, vorsichtig zog ich an der Decke: Schwupp!, erschien die rechte Brustwarze, weiterziehen, schwupp!, sah ich die linke. Flache Höckerchen überzogen die Haut der Warzenhöfe, doch kaum traf sie der feine, feste Luftstrahl aus meinem angespitzten Mund, vergrößerten sie sich, schwollen an, die Höfe kontrahierten, ihr Durchmesser verringerte sich, und die Haut fältelte sich auf, bis sie in einer prallen, feucht glänzenden Form erstarrt war. Es fiel mir schwer, die Brustwarzen nicht zu berühren, aber da Susanne es nicht mochte, wenn man sie nachts weckte (und schon gar nicht aus erotischen Gründen), begnügte ich mich damit, sie ausgiebig zu betrachten. Bald schwollen die Brustwarzen wieder ab; Susannes Lippen öffneten sich mit einem klebrigen Schmatzen; ich griff nach einem Papiertaschentuch.
In Momenten wie diesem überstieg es mein Fassungsvermögen, dass eine so schöne Frau freiwillig mit mir zusammenlebte. Susanne war mit einundzwanzig trotz wütender Ermahnungen ihres Trainers aus der Handballmannschaft ausgetreten, hatte ihr Studium abgebrochen (dreieinhalb Semester Sport und Bio), ihr Kinderzimmer geräumt, ihre Heimatstadt verlassen, und zu dritt (Jens begleitete uns als blinde Lurchart) waren wir in den ersten Stock meines Elternhauses gezogen, während die Habseligkeiten der Bahlows noch in zwanglosen Grüppchen vor dem Haus zusammenstanden und auf den Möbelwagen warteten. Die Rückkehr ins Elternhaus war ein Vorschlag meines Vaters, der darin wohl die letzte Möglichkeit sah, mich aus der tödlichen Umklammerung einer Zweier-WG zu befreien, in der ich mich gemeinsam mit Achim langsam aber sicher ins Nirwana soff. Ich hätte übrigens nie mit Susanne zusammengelebt, schlimmer noch, sie wahrscheinlich niemals kennengelernt, hätte ihr Achim damals in Paris nicht so gut gefallen. «Heute doch nicht mehr!», hatte sie nach ihrem unbedachten Geständnis lachend beteuert. «Aber damals», sagte ich. – «Nur solange, bis ich mit dir allein im Hotelzimmer war.» Kalt und teilnahmslos sagte ich: «Ich bin also die zweite Wahl.» – «Nein, das bist du nicht, und du weißt das ganz genau! Mensch, du kannst mir doch keinen Strick draus drehen, dass mir vor Jahren jemand anderes mal ganz gut gefallen hat!» Mir behagte nicht, dass sie bewusst vermied, Achims Namen auszusprechen. «Wer hat dir vor Jahren mal ganz gut gefallen?», bohrte ich. «Wer hat dir damals in Paris mal ganz gut gefallen?» Ich wollte, dass sie Achims Namen aussprach, jetzt sofort, alles wollte ich wissen, alles wollte ich hören, sie musste Achims Namen in den Mund nehmen, musste sich zu ihrer Schuld bekennen, den Namen, den Namen, ich wollte sie den gottverdammten Namen aussprechen hören, und als ich meine Frage zum vierten Mal wiederholte, nun mit verstellter Stimme, stand Susanne auf und verließ das Wohnzimmer.
Dass solche Streitereien im Hause Fahlmann an der Tagesordnung waren, hätte Heinz’ Weltbild erschüttert: Für ihn war Susanne eine Göttin, und die Tatsache, dass ich mit ihr zusammenwohnte, was mich dazu berechtigte, sie nackt unter der Dusche zu sehen und mit ihr im selben Bett zu schlafen, erhob mich in den Rang eines Halbgotts, dem man so viel wie möglich über das Alltagsleben der Göttin entlocken musste; etwas, das Heinz in der entwaffnenden Unschuld des Ahnungslosen fortgesetzt versuchte, indem er unsere Gespräche mehr oder weniger geschickt in pikante Gewässer steuerte: Wer von uns zuerst ins Bad gehe, wer morgens als Erster wach werde, Geburten seien doch was Fürchterliches, Mann! Er wolle keine Frau sein! Die müssen der die Poperzel wieder zunähen! Und die Nachgeburt ist so ein Oschi! Ob ich eigentlich bei Jens’ Geburt zusehen durfte? Und war ich mal schlecht gelaunt, folgerte Heinz natürlich, Susanne habe ihre Tage, und lachte: «Dann ist wohl Handbetrieb angesagt!» Manchmal tat er mir mit seiner unbeholfenen Sehnsucht, Intimitäten über Susanne in Erfahrung zu bringen, so leid, dass ich kleine «Geheimnisse» preisgab. Etwa indem ich ihm berichtete, sie habe sich eine viel zu enge Jeans gekauft. Nach einer solchen Information konnte ich beobachten, wie hinter Heinz’ Stirn eine Maschinerie aus Bewunderung und Furcht zu werkeln begann. Furcht? Trifft es das? Hatte Heinz wirklich Angst vor Susanne? Ich denke schon. Er hatte zwar keine Probleme damit, ihr aus dem Wagen Zweideutigkeiten zuzugrölen, aber war er mit ihr allein im selben Zimmer, bekam er kalte Füße. Einmal hatte ich Großvater zum Augenarzt gefahren, während Heinz unseren Badezimmerboiler reparierte. Als ich zurückkam, empfing mich im zugequalmten Flur («Bei einer solchen Fummelei muss ich einfach fluppen!») eine verunsicherte Susanne: «Das war voll psycho! Der Heinz hat nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Ist der irgendwie sauer auf mich?» – «Wer weiß!», sagte ich und behielt die Wahrheit für mich.
Ich betrachtete die tief und fest schlafende Schöne nicht ohne Neid, denn in den meisten Nächten hatten meine Gedanken freie Fahrt auf allen Bahnen. Erst huschten sie über den Jahrmarkt, lungerten an den Buden rum, vertrieben sich die Zeit mit Dosenwerfen, Luftgewehren und Zuckerwatte, dann fuhren sie auf den Karussells, bis ihnen schlecht wurde, und am Ende zog es sie magnetisch, Wolfgang, in die Geisterbahn. Hinter jeder Kurve lauerte derzeit ein Wolfgang. Als Skelett, als Toilettenpapier-Mumie, als zottiger Yeti. Doch am unheimlichsten war er als er selbst. Dachte ich an Wolfgang, musste ich an Susannes Arbeit denken. Dachte ich an Susannes Arbeit, musste ich an Wolfgang denken. Ich musste in diesem Sommer viel zu oft an Wolfgang und Susannes Arbeit denken.
Meine Frau arbeitete fünf Tage die Woche im Edeka-Lager. Von acht bis zwölf fuhr sie dort eine elektrische Ameise, lud irgendwelche Waren auf und karrte sie in der Gegend rum. Spannte sie ihren Bizeps an, konnte ich trotz Sargtragens nicht mithalten: Zack!, macht es, Susanne presst meinen Unterarm auf die Tischplatte, und Jens gibt ein kränkendes Krähen von sich. Für die vier Stunden Ameise zahlte man Susanne knapp sechzig Mark, nicht gerade viel, aber wenn sie nach Hause kam, zauberte sie stets Schmuggelware wie Kaugummis oder Zahnpasta aus den Jackentaschen. «Täglich gehn so viele Sachen zu Bruch, das fällt gar nicht ins Gewicht.» Sie zuckte mit den Achseln. «Außerdem macht das dort jeder!»
Neben mir tastete Susanne nach der Decke, ich breitete sie über ihren Busen und zog mich auf meine Seite zurück. Meine Füße zeigten nach Westen. Dort schützte mich eine fensterlose Wand voller Bücherregale vor dem Anblick des Beerdigungsinstituts. Sagt er uns, welche Bücher im Schlafzimmer stehen? Ja, das tut er, aber er tut es nicht gern. Hier standen hauptsächlich Science-Fiction- und Kriminalromane, die nicht ins Wohnzimmer durften. Niemand brauchte zu wissen, was ich exzessiv las. Mein Kopf zeigte auf den begehbaren Einbauschrank; er nahm die Ostwand gänzlich ein; Schiebetüren, Mottenkugeln, Klamotten, langweilig. Nordnordwest erhob sich die glückliche Insel meines Lesesessels, hartnord spiegelte sich die Glühbirne der Nachttischlampe in einem vorhanglosen Fenster, südwestlich erstreckte sich das Geröllfeld von Susannes abgelegten Kleidern bis zur Schlafzimmertür. Totgeknüllte Blusen streichelten flugunfähige BHs, Hosen versuchten sich vergeblich aufzurichten, Socken krochen in verknotete Shorts, ich löschte das Licht, über der Wiese hinterm Haus formierten sich helle Punkte zu unbekannten Sternbildern, eine Wolke zerschnitt den Mond, Wolfgang, meine Gedanken entschlossen sich zu einer weiteren Fahrt in der Geisterbahn, ich knipste das Licht wieder an, nahm das Buch vom Nachttisch, war zu müde, um zu lesen, betrachtete das Titelbild. Mitchum sieht einfach nicht wie Philip Marlowe aus. Susanne mochte es ganz und gar nicht, wenn ich ihr solche Sachen erzählte. Das wäre klugscheißerisch. So ein Unfug! «Wenn du wissen willst, was klugscheißerisch ist», hatte ich mich einmal empört, «dann hör dir das an!» Und ich improvisierte: «Dass ich ein Frosch sei, / Behauptetest du. / Das mag wohl sein. / Ich sag nicht ja, / Ich sag nicht nein.» – Susanne dachte angestrengt nach, man konnte förmlich Rad in Rad greifen sehen, und sagte dann: «Du Vollidiot!» Ihre Arbeitskollegen hielten mich auch für einen Vollidioten, aber damit konnte ich leben, beruhte es doch auf Gegenseitigkeit. Ich verstand nicht, wieso Susanne Wert darauf legte, die Mittagspause mit ihren Kollegen zu verbringen. «Kümmer dich um deine Angelegenheiten», hatte sie gesagt, als ich mit ihr darüber reden wollte, «und komm bloß nicht wieder auf die Schnapsidee, mich auf der Arbeit zu überraschen!» Das hatte ich tatsächlich einmal getan – ein Fiasko! Wenige Minuten nach zwölf parkte ich den Leichenwagen unweit des Edeka-Lagers in einem Wendehammer und ging die letzten Meter zu Fuß. LKWs brausten vorbei, es gab keinen Bürgersteig, Steinchen spritzten. Als ich mich dem Schlagbaum näherte, hob er sich automatisch. Dahinter mündete die Zufahrtsstraße in eine rissige Betonfläche, wo Dutzende von LKWs die langgestreckte Rampe des Lagers umschwirrten. Befehle wurden gebrüllt, näher ran, noch näher, stopp, nicht zu nah, ich stieg eine steile Metalltreppe ohne Geländer hoch, öffnete eine Stahltür und befand mich in einer Vorhalle, von der zahllose Gänge abzweigten: Gänge mit Süßigkeiten, Gänge mit Getränkekästen, Gänge mit Dosenfisch, Klopapier und Scheuermilch.
Durch das verzweigte Labyrinth, das mich an die Szenarien erinnerte, mit denen Jens seinen Gameboy fütterte, huschten Ameisen; Gabelstapler kurvten auf den Linien unsichtbarer Schnittmuster durch die fensterlose Halle; Zombies sprangen ab, hetzten zur Rampe, beluden die LKWs. Zombies nannte Susanne diejenigen ihrer Kollegen, «die 150 % arbeiten», sie selbst kam meist «auf 110 %», außer an dem Tag, als sie sich «am Glasbruch» den Zeigefinger aufgeschnitten hatte. Das mit den Prozentzahlen habe ich nie richtig verstanden. Ist auch nicht weiter wichtig. Kann also getrost vergessen werden. «Ich suche eine Frau Susanne Fahlmann.» – «Kantine», sagte das leere Gesicht. «Macht Mittag.» Die Kantine erwies sich als schmaler Schlauch von Raum, der lediglich einer Selbstbedienungstheke und einer Reihe Biertische mitsamt Bänken Platz bot. Zusammen mit mir hatte eine dicke Frau den Raum betreten und füllte ihn nun dünstend aus. Waden wie Keulen, Brüste wie geplatzte Airbags, das Beinfett hing ihr als schlechtsitzender Fleischstrumpf über die Sandalen. Hier also verbrachte Susanne ihre Mittage! Ich sah feixende Gesichter, sah verlebte Gesichter, sah dumme Gesichter (leicht zu erkennen am stumpf vorgereckten Kinn), sah platte Nasen, sah trübe Augen, sah mittendrin meine Susanne.
Sie erschrak, als sie bemerkte, wer da hinter den Rückenfalten der Fetten hervorspähte, hatte sich jedoch gleich wieder im Griff und winkte mir zu. Mit eingezogenem Bauch quetschte ich mich an der lawinengleichen Erscheinung vorbei, grüßte tapfer in die Runde, setzte mich zu Susanne und schnorrte aus Verlegenheit eine Zigarette von einer der Plattnasen. Stille. Seit ich mich an den Tisch gesetzt hatte, redete keiner mehr. Susanne aß hastig ihren Tomatensalat, ohne den Blick vom Schälchen zu heben. Neben ihr saß ein junger Mann mit weißem Haar. Im Unterschied zu den übrigen Tischgenossen beobachtete er mich scharf, fast abschätzend. Das war wohl dieser Wolfgang, der immer bei uns anrief. Rief er an, klang Susannes Stimme anders als sonst. Sie lachte zu viel und zu laut, und kam sie danach zurück ins Wohnzimmer, machte sie ein Gesicht, als hätte sie etwas zu verbergen; aber weil es schon viele Gespräche über meine «krankhafte Eifersucht» gegeben hatte, riss ich mich zusammen, ließ den Albino weiterglotzen und schritt selbst dann nicht ein, als er meine Frau «Susi» nannte. Sein «Susi» klang nach Ehebruch. Ich drückte die Zigarette in einem Unterteller aus, setzte den Weißhaarigen an die Spitze der Schwarzen Liste und sagte kühl und beherrscht: «Schatz, wir müssen los!» Noch niemals zuvor hatte ich Susanne «Schatz» genannt.
Sie bewegte sich im Schlaf, drehte sich auf die rechte Seite, die Decke rutschte von der Schulter, und die unterbrochene Linie der Wirbeldornfortsätze straffte die Haut zwischen den Schulterblättern: eine Reminiszenz an unsere Sterblichkeit in Knochensprache. Ich deckte ihren Rücken zu. «Du bist noch wach?», fragte sie halb im Schlaf. Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte, und flüsterte: «Ja, aber ich mach jetzt das Licht aus.» Die Nachttischlampe erlosch, und während sich nordnordwest die beleibte Kontur des Lesesessels aus der Schwärze schälte, erinnerte sich das Schlafzimmer an die fürchterliche Heimfahrt. «Wenigstens bist du nicht mit diesem Ding vorgefahren», hatte Susanne gesagt, als sie sich auf den Beifahrersitz des Transits schwang. Ich verwandelte den Blinker in eine tickende Uhr, Rückspiegel, Seitenspiegel, ich fuhr an, beschleunigte, überholte einen LKW, schaltete in den zweiten Gang, fragte: «Was magst du an diesen Menschen?» – «Wie meinst du das?» – «Die nennen dich Susi.» – «Ja, und?» – «Was ist ein Susi?» – «Hahaha!», ärgerte sich Susanne, starrte aus dem Fenster. Ich musterte sie verstohlen von der Seite: Sie sah großartig aus. Tu es endlich! Jetzt mach schon, du Feigling! Und ich gab meiner Stimme diesen nachsichtig herablassenden Tonfall, den Susanne so hasste, und fragte: «Sag mal ehrlich! Würdest du auch gerne von mir Susi genannt werden?» – «Ach, halt die Klappe!»
Ihr Umgangston war merklich rauer, seit sie mit diesen Menschen zusammenarbeitete. Wie gerne hätte ich sie nun gefragt, ob sie allein wegen Jens bei mir bliebe – aber was, wenn sie ja sagte? «Es sollte eine Überraschung sein.» – «Klasse.» – «Das mach ich jetzt täglich.» – «Klasse.» – «Ich bring Heinz mit und wir tragen dich im Sarg raus.» – «Toll», sagte Susanne und versuchte sich an einem Lächeln. Ich akzeptierte das Friedensangebot und schlug in gespielter Begeisterung vor, Jens von der Schule abzuholen. Der habe nämlich keine solchen Schwierigkeiten mit Leichenwagen wie sie, und diese unbedachte Äußerung, Zigarette, brachte das Fass, Glas Milch, beinahe wieder zum Überlaufen, Glas Milch und Zigarette … jetzt. Vier tastende Schritte West. Vier zaghafte Schritte Süd. Umrunden Sie das Bett, ohne sich die Schienbeine zu prellen, und nehmen Sie Kurs auf die Tür im Südosten des Schlafzimmers! Ich hob die Füße kaum vom Boden, Spitzbergen, Spitzbergen, wir fahren nach Spitzbergen, meine Hausschuhe bahnten sich, kleine Eisbrecher, den Weg durch Susannes Krempel, im Flur harrte ich lauschend aus, Jens hatte einen leichten Schlaf, und erst als es im Kinderzimmer weiterhin still blieb, ließ ich mich vom fahlen Rechteck der offenen Küchentür verschlucken. Silberfischchen auf der Flucht, der Kühlschrank öffnete sich, übergoss den gekachelten Fußboden und die gestreiften Beine meiner Pyjamahose mit käsigem Licht, dem Türfach entschwebte eine Packung Milch, dann saugte die zufallende Tür das Licht zurück ins grönländische Innere. Erstarren. Lauschen. Leiser sein! Ich nahm ein verhalten klirrendes Glas aus dem Schrank über der Spüle, wunderte mich, dass beim Öffnen der Schranktür nicht ebenfalls ein Licht anging wie im Kühlschrank, schenkte das Glas voll, lehnte mich an die Leibung des Küchenfensters.
Dort rauchte ich eine milde Zigarette (die Senior Service spare ich für feierliche Momente auf), trank die Milch in kleinen Zügen, gut gegen Sodbrennen, unten ging die Klospülung. Mutter war noch wach. Oft hörten wir sie pinkeln: mit sattem, unverklemmtem Strahl. Susanne: «Das macht die extra!» Ich: «Quatsch. Das hat sie früher nie gemacht. Wahrscheinlich lässt sie die Klotür offen, seit sie allein lebt, und vergisst, dass sie dadurch den Wohnungsflur in einen Resonanzkörper verwandelt.» Das Rauschen erstarb in den Rohren, und das Knistern der Zigarette wurde zum einzigen Geräusch der Nacht. Gegenüber erfüllte bläuliches Flackern Onkel Jörgs Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Mutter hatte sich immer über «Onkel Jörgs Filme» aufgeregt. «Wir spielen nur Karten», rechtfertigte sich Vater. – «Von wegen!» Mutter lächelte anzüglich. «Ich weiß doch, was ihr treibt, wenn ihr drüben die Vorhänge zuzieht!» Es passte nicht zu Vater, dass er sich mit seinem Bruder Filme wie Das fröhliche Fotzentrio ansah. Der Titel ist keine Erfindung von mir. Ich hatte die Hülle dieses Films als Kind unter Onkel Jörgs Kommode entdeckt: Zwei splitternackte lächelnde Frauen zogen einer ebenfalls nackten Schwarzen, die sich spreizbeinig zwischen ihnen bückte und dem Betrachter zuvorkommenderweise das Hinterteil zukehrte, die Arschbacken auseinander.






