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Kaum vorstellbar, dass mein verklemmter Vater sich so etwas ansah! Normalerweise machten ihn bereits Kussszenen verlegen: Er verließ das Wohnzimmer, wenn ich mit Mutter Drei Engel für Charlie ansah (hier wurde lange und ausgiebig geküsst) – und dann heimlich rüber zu Onkel Jörg, fröhliches Fotzentrio und hoch die Tassen! Unten klapperte Katzentür Nummer Eins. Kam Vater aus dem Bad, hatte er – im Gegensatz zu Mutter – ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Katzentür Nummer Zwei klapperte auf unserer Etage, und sofort schnurrte Om um meine Beine und rieb den Kopf mit berechnender Zärtlichkeit an den Waden, bis ich mich seiner erbarmte und einen Schluck der Milch in eine Untertasse gab. Kaum stand sie vor dem Kater, verlor er das Interesse daran und begann stattdessen seinen Schnurrbart zu putzen. Wegen dieses auffällig buschigen Barts hatte ich ihn Albert Schweitzer nennen wollen. Das schien mir passend. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, dass sich mit dieser Namenswahl die Wiese hinterm Haus in Lambaréné verwandeln würde, Regionshauptstadt in Gabun, 26.300 Einwohner, Moschee, modernes staatl. Krankenhaus, Flughafen. Aber Susanne hatte natürlich was dagegen gehabt, die blöde Kuh!
Der Kater unterbrach das große Reinemachen, um mich hinter einem hochgereckten Hinterbein hervor argwöhnisch zu mustern. «Milch», erklärte ich geduldig auf die Untertasse zeigend. «Feine Milch. Das mögen Katzen.» Ich nahm einen tiefen Zug, löschte die Glut im Aschenbecher. Die Augen des Katers reflektierten das schwache Licht in der Küche. Dann senkte er den Blick, die Pupillen wurden groß und dunkel, und mit einem zum Fragezeichen gekrümmten Schwanz stolzierte er Richtung Kinderzimmer davon, wo er, wenn er nicht auswärts schlief, seine Nächte verbrachte. Er weckte Jens nie auf. Selbst morgens ließ er ihn weiterschlafen und machte vor unserer Schlafzimmertür solange Rabatz, bis der gute alte Onkel Dosenöffner, der auch sehr zäh sein konnte, endlich aufstand, um dem Pelzwecker eine stinkende Büchse Katzenfutter zu öffnen. Lassen Sie sich nicht von der Munterkeit des Stils täuschen. Erst später entdeckt man im Anfang den Plan. Sagen die, die es wissen müssen. Hoffen wir, sie sind ehrlicher, als ich es bin.
Fahlmann stellte das Glas auf einen Stapel schmutzigen Geschirrs, leerte den Aschenbecher, nahm sich vor, morgen den Müll runterzubringen, Mittwoch, im Flur stand der Kater und starrte. Fahlmann, Mittwoch, starrte zurück. Mit einem empörten Maunzen verschwand Om in Jens’ Zimmer. Mittwoch. «Sie sind Philip Marlowe, ein Privatdetektiv?» – «Sehn Sie nach.» Als ich Montemar Vista erreichte und es in dem Kriminalroman bereits zu dämmern begann, hielt ich das für einen guten Anlass, das Licht zu löschen und mir meinen Tod vorzustellen. Heinz stehen die Tränen in den Augen. «Oh, Gott!» Er wendet sich ab und legt Onkel Jörg den Kopf auf die Schulter. «Wieso er? Wieso ausgerechnet er?»
Sogar im Halbschlaf merkte ich, dass die Dialoge eine Spur zu pathetisch ausfielen, hatte aber weder Zeit noch Lust, mich um solche Bagatellen zu kümmern, denn schon wirft sich eine weinende Susanne über den Sarg. Vater (das Gesetz von Zeit und Raum hat längst seine Gültigkeit verloren) nimmt Mutter in den Arm: «Er war ein guter Junge!», die Sonne verfinstert sich, eloi, eloi, lema sabachtani, und lässig auf einen Grabstein gestützt prahlt Winkler vor den versammelten Reportern: «Naturellement, mesdames et messieurs! Natürlich hat er mich autorisiert, seine Werkausgabe herauszugeben.» Aber das ist noch gar nichts! Während meiner Schulzeit hatte mich meine überschwängliche Begeisterung fürs Dramatische zu weitaus gewagteren Szenen hingerissen. Klassenarbeit Erdkunde, splitternd fliegt die Tür auf, ein Polizist mit vernarbtem Gesicht hechtet ins Klassenzimmer der 8a, rollt sich geschickt ab und lässt die Mündung seiner Waffe über die Bankreihen streichen. Hinter ihm erscheinen weitere Polizisten. «Wer von Ihnen ist Georg Fahlmann?» Ein hagerer, finster dreinschauender Kommissar im Trenchcoat tritt vor. – «Wer will das wissen?», frage ich. – «Wir brauchen Ihre Hilfe, Fahlmann!» Plötzlich fährt er herum und schnappt: «Wer ist dieser Knilch?» – «Das ist Herr Schöppke.» Ich mache eine abfällige Handbewegung. «Ein Erdkundelehrer.» Urkunden werden überreicht, Handgranaten detonieren, Maschinengewehrgarben zerfetzen meine Mitschüler, ich steige in den wartenden Jeep. Bereits auf dem Lehrerparkplatz fallen die ersten Schüsse. «Das ist ein Hinterhalt. Sie hat ihnen alles verraten. Man darf niemals – Papa?» Ich schaltete das Licht an. Es war Jens.
«Was gibts?»
«Om stinkt.»
«Aha.» Wieso steht er auf meiner Bettseite, obwohl sich Susannes Seite näher an der Tür befindet? «Nach was stinkt er denn?» Jens kicherte vielsagend, und ich brachte erst ihn ins Bett, packte dann Om im Genick, trug ihn ins Bad und duschte sein Hinterteil mit lauwarmem Wasser ab. «Was warn los?», fragte Susanne, als ich mich wieder hinlegte.
«Schlaf weiter!», sagte ich.
«Gute Nacht!», sagte ich.
Pause. «Gute Nacht!», sagte ich etwas lauter.
«Gute Nacht!», sagte Susanne.
«Haben Sie Interesse, für das FBI zu arbeiten?», fragte der hagere Kommissar und sah mich abwartend an.
3Ich bin der einzige Mensch, über den ich nie einen Roman schreiben könnte, bekannte ich in jenem Sommer meinem Notizbuch. Ich habe keinen hervorstechenden Charakterzug, nichts, bei dem der Leser sagen würde: «Aha, das ist Georg Fahlmann!» Ich bestehe aus unverbundenen Taten, Gedanken, Ängsten und einem dürren aber leidlich gesunden Körper. Ich stehe morgens am Fenster und werde nicht wach, ich schlafe abends schlecht ein und stelle mir meine Beerdigung vor. Ich habe nicht einmal einen Tic wie jede siebte Figur bei Thomas Mann, und oft weiß ich nicht, wer oder was ich eigentlich bin. Ich verschwende viel Zeit meines ereignislosen Lebens, mich an ereignislose Zeiten zu erinnern und mir etwa zu überlegen, wieso es mich belastet, dass ich im Sportunterricht nie die Kletterstange hochgekommen bin. Nachtrag: Eben ist mir noch jemand eingefallen, über den ich nie einen Roman schreiben könnte: unser neuer Briefträger.
Das letzte Wort erhebt sich in Großbuchstaben über die zittrigen Krakel meiner Handschrift. Und dass es mit zornigen Strichen eingekästelt ist, zeigt mir, wie schwer mir der Mann damals zusetzte. Heute erinnere ich mich der Gefühle und Empfindungen meines früheren Ichs mit gewisser Wehmut, obiger Notiz, nebenbei bemerkt, mit ungläubiger Scham: Die Klage, ein ereignisloses Leben zu führen, erscheint mir leichtfertig, denn nach allem, was mir inzwischen widerfahren ist, hat die Verknüpfung der Worte «ereignislos» und «Leben» einen fast idyllischen Beigeschmack. Eigentlich ist es unerheblich für mein Vorhaben, aber da ich den Briefträger nun aus den Kellern der Erinnerung hinauf ins Parterre gezerrt habe, will ich ihn da nicht verloren stehen lassen – inmitten der abgedeckten Sessel und Stühle. Anfangs hatte ich gedacht: Der lernts noch, aber als Wochen und Monate ins Land gingen und ich meine Briefe weiterhin in der Nachbarschaft zusammensuchen musste, weil er meine Post nach mysteriösen Kriterien auf fremde Briefkästen verteilte, platzte mir der Kragen. Ich wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, um ihm die Leviten zu lesen, und als ich ihn einige Tage später die Straße entlangwatscheln sah (ich kam mit dem Leichenwagen vom Getränkemarkt Zarth zurück), dachte ich: So Freundchen, jetzt bist du fällig! Ich fuhr an ihm vorbei, parkte zehn Meter weiter. Ein Dackel, der vor der Metzgerei Kundel an einem Laternenmast festgebunden war, wir müssen draußen bleiben, mahnte das Schild auf der Glastür, Wurst, Wurst, Schinken, lockte das Innere des Ladens, beobachtete, wie ich ausstieg und mich in Halbstarkenmanier an die geöffnete Wagentür lehnte. Der Bauch des Dackels hing durch, einige Häuser straßab verschwand der Briefträger hinter einem Zaun, tauchte wieder auf, bog in einen Gartenweg, seine Mütze schwamm auf einer Hagebuttenhecke, und schon saß sie wieder auf seinem Kopf. Ich überlegte, was ich sagen sollte. Ohne stehen zu bleiben, wühlte der Briefträger in seiner schweren Tasche. Ein Ausspruch Philip Marlowes geisterte mir durch den Kopf: Ich hör die Parzen mit den Scheren klappern, aber bestimmt wusste der Briefträger nicht, was Parzen sind. «Die was?», würde er fragen und damit alles ruinieren. Es gab andere Möglichkeiten. «Ab heute können Sie Ihre Briefe in der Hölle austragen.» Schrotflinte unter die Nase und abgedrückt. Hurra, Aufregung, das Dackel-Frauchen verließ die Metzgerei, hurra, wuff, hurra, jetzt fessle ich mich mal mit meiner Leine, Wurst, Wurst, Schinken, «halt mal bitte still», Wurst, sie band den Köter los, Schinken, wuff, prima Schinken, ist das etwa Fleischwurst, «hier, mein Schatz», sie hielt ihm ein Stück Wurst unter die Schnauze, und endlich näherte sich der Briefträger, links die lederne Posttasche, rechts eine böse Schlagseite.
«Entschuldigen Sie», begann ich zaghaft, «ich muss mir die Post immer in der Nachbarschaft zusammensuchen.» Das Ärgernis schnaufte, es war sehr jung, es war sehr fett, es sah mich verständnislos an. Frau Kundel glotzte aus dem Schaufenster der Metzgerei; ich nickte ihr freundlich zu. Dem Briefträger hing hellblondes, verschwitztes Haar in die Stirn, über seiner dicken Oberlippe spross das schüttere Bärtchen eines Dreizehnjährigen, und dass er trotz akuter Atemnot eine Zigarette rauchte, machte mich betroffen. Ebenfalls milde stimmte mich sein kränkliches Aussehen: Unter den Fischaugen glänzten feuchte Ränder, das bartlose Fleisch der Wangen und des Halses war leicht gerötet. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und fragte: «Ihre Post zusammensuchen?» Ich würde ihn gar nicht erst auf die Schwarze Liste setzen. «Bei den Nachbarn», erklärte ich. «Die Post ist nicht in meinem Briefkasten.» – «Ah, ich mach was falsch.» Er seufzte so ausgiebig, dass sich seinem Doppelkinn die Gelegenheit bot, nach dem Krawattenknoten zu schnappen. «Sie ahnen nicht, wie oft mir so was passiert. Tut mir sehr leid. Ist mein Fehler. Ich versprech Ihnen, es wird nie wieder vorkommen!» – «So schlimm ist es auch nicht. Ich wollte nur …» – «Es wird nie wieder vorkommen! Wie war Ihr Name, sagten Sie?» – «Fahlmann. Georg Fahlmann.» – «Fahlmann», er schaute an mir vorbei, «vom», er las die Beschriftung des Transits: «Beerdigungsinstitut Georg Fahlmann.» Erst amüsierte es mich, dass er Gebr. für eine Abkürzung meines Vornamens hielt, aber dann begriff ich die Tragweite dieser Fehlleistung. Ich hätte ihn nie mit dem Transit abfangen dürfen! Nun hatte sich nämlich der durchaus klug kombinierte Zusammenhang Georg-Fahlmann-fährt-einen-Leichenwagen-auf-dem-sein-Name-steht in den Windungen seines Gehirns verhakt. Rasch versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.
«Das mit dem Auto hat nichts zu sagen. Ich wohne zwar neben dem Beerdigungsinstitut Gebrüder Fahlmann», hierbei zeigte ich auf den Transit, «habe dieses Auto», ich zeigte wieder auf den Transit, «aber nur geliehen. Fahlmann. Das ist mein Name. Georg Fahlmann. Nebenan. Ich wohne ne-ben-an. Neben dem Institut. Also die Post bitte ne-ben-an in den Briefkasten werfen!» Der Briefträger quittierte den Dammbruch des Stausees von Informationistan mit einem Kopfnicken. Dann meinte er ernst: «Ich habe Post für Sie, Herr Georg Fahlmann», wobei es ihm in rührender Weise misslang, seiner Stimme einen amtlichen Tonfall zu geben. Er kramte in der Umhängetasche. Wieso benutzt er kein Wägelchen wie alle Briefträger? Die Tasche war vollgestopft. Außerdem stand eine Flasche Sprudel darin. Waldquelle. Mit wenig Kohlensäure. Der Anblick dieser Flasche erschütterte mich so sehr, dass ich mit einem harschen «Werfen Sie mir die Post doch einfach in den Briefkasten!» in den Transit stieg.
Am Nachmittag holte ich die Post bei Onkel Jörg ab.
«Über was regst du dich eigentlich so auf?», fragte Susanne.
«Ich rege mich darüber auf, dass ich mich nicht mehr über etwas aufregen kann, über das man sich eigentlich aufregen müsste. Aus irgendwelchen sentimentalen Gründen …»
«Wer ist man?»
«Man bin immer ich.» Man stand am Küchenfenster, sah aber nicht hinaus, sondern Susanne und Jens an, die frühstückten. «Ich rege mich darüber auf, dass die Post nicht kommt.»
«Aber du regst dich nicht mehr über den Briefträger auf.»
«Nein. Irgendwie tut er mir leid.»
«Weil er so fett ist?», fragte Jens aufgeregt.
«Auch deshalb», sagte ich.
«Und die Sprudelflasche?», hakte er nach.
«Die hat dem Fass die Krone ins Gesicht geschlagen.»
Jens lachte übertrieben, um zu zeigen, dass er sich auskannte. Sie quälten ihn seit einigen Wochen mit Sprichwörtern. Wer im Glashaus sitzt, fragte die linke Spalte, und in der rechten musste mein Sohn unter so verlockend blöden Angeboten wie ist seines Glückes Schmied oder hat Gold im Mund die richtige (aber ernüchternd langweilige) Satzhälfte aufspüren. Seine Lehrerin strengte sich mächtig an, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verblöden. Wie konnte sie einem Siebenjährigen Unfug vom Kaliber eines einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul beibringen, ohne ihm zu erklären, dass es sich bei einem Gaul um ein Pferd handelt, dass man das Alter eines Pferds am Gebiss bestimmen kann, dass man also nicht schauen darf, wie alt das Pferd ist, das man geschenkt bekommt, um den Schenker nicht zu kränken, und so weiter, und so weiter, und so weiter.
«Einem geschenkten Barsch», sagte ich, «schaut man nicht in den …»
«Georg!», sagte Susanne.
«Arsch!», brüllte Jens. Kakaogetränkte Krümel flogen aus seinem Mund.
«Nicht mit vollem Mund sprechen!», rief Susanne.
«Glashaus währt am längsten», ergänzte ich selbstgefällig und zwinkerte Jens dabei zu.
Ich hätte damals gerne mehr Zeit mit ihm verbracht, aber morgens musste er in die Schule, und sie brachten ihm Blödsinn bei, nachmittags machte er mit «Oma Marianne» blödsinnige Hausaufgaben, um den vormittäglichen Blödsinn zu vertiefen, und danach spielte er draußen mit Florian, bis um sechs Uhr die Glocken läuteten. Abends hingegen las ich ihm vor oder bemühte mich, ihm das beizubringen, was seine Lehrerin nicht wusste oder für unwichtig hielt. Zum Ereifern gab es für mich kein besseres Thema als Jens’ Hausaufgaben. Susanne regten andere Dinge auf. Drei Häuser weiter hielten sie Hühner. Kurz nach seiner Einschulung hatte Jens herausgefunden, dass er den Hahn zum Krähen bringen konnte, indem er mit meiner Faschingstrompete trötete, und eines Morgens ließ er sich von mir wecken, und wir schlichen um vier Uhr dreißig zum Flurfenster, Jens trötete, und kurz darauf hörten wir ein fassungsloses Krähen. Der Hahn gab keine Ruhe mehr, bis es hell wurde. Susanne hatte es unverantwortlich gefunden, dass ich «solche Aktionen» förderte, aber wie oft im Leben bietet sich einem schon die Gelegenheit, einen Hahn zu wecken?
«Irgendwann werde ich es ihm beigebracht haben.»
«Wem was?», fragte Susanne.
«Dem Briefträger», sagte ich, «das mit der Post.»
«Deine Probleme möchte ich haben.»
«Und ich deine.» Ich trat hinter sie, hob ihr Haar an und küsste sie ins Genick: Ihre Haut war zart und roch gut. Jens kicherte, wie immer, wenn sich seine Eltern küssten. Susanne lächelte, ich stellte mich wieder ans Fenster, drüben rannte eine nackte Gestalt durch die Wohnung. Die Etage über dem Beerdigungsinstitut hatte beide Augen weit aufgerissen: Onkel Jörg lüftete gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer. Das linke Fenster zeigte mir Couch und Fernseher, das rechte ein zerwühltes Doppelbett. Die nackte Gestalt hatte das Schlafzimmer verlassen, doch leider war sie nicht mehr im Flur hinter der offenen Wohnzimmertür erschienen: Das Badezimmer (von dessen Existenz nur der rostnasige Propeller eines Ventilators zwischen den Fensteraugen kündete) hatte sie verschluckt.
«Onkel Jörg läuft nackt durch die Wohnung!», sagte ich.
«Wo?» Jens presste die Nase an die Scheibe.
«Im Schlafzimmer. Vielleicht sieht man ihn gleich wieder.»
Doch leider blieb Onkel Jörg verschwunden. Nach einer Weile setzte Jens sich wieder enttäuscht an den Frühstückstisch und erweckte den Anschein, das letzte Drittel des Brötchens aufzuessen.
Heinz kurvte in den Hof. «Heinz ist da», sagte ich.
«Nackt?», fragte Jens hoffnungsvoll.
«Nein. Viel zu früh. Ich hab erst zwei Tassen Kaffee intus.»
Heinz nahm den Helm ab, brüllte etwas zu mir hoch.
Ich öffnete das Fenster. «Was ist denn los?»
«Früher Termin im Evangelischen. In einer halben Stunde will ich dich im verfickten Büro sehen. Und zieh dir was an, du fauler Sack! Im Schlafanzug nehm ich dich nicht mit.»
«Das Schildchen schaut aus deinem T-Shirt», sagte Susanne.
«Macht nix», sagte Jens. «Hast du gehört? Heinz hat ein schlimmes Wort …»
«Das macht wohl was», sagte Susanne.
«Was heißt ‹intus›?», fragte Jens.
Ich sah wieder aus dem Fenster. Mein Roman machte mich wahnsinnig. Es war eine solche Tortur, berühmt werden zu wollen. Allein deshalb verkniff ich mir heldenhaft dümmliche Ideen und alberne Scherze und verzichtete sogar auf lustige Lieder und Gedichte: Das harte Los desjenigen, der endlich ernst genommen werden will, aber nicht weiß, ob es sich überhaupt lohnt, ernst genommen zu werden. Jens zupfte an meinem Ärmel. «Hast du ihn nochmal gesehen?»
«Nein. Onkel Jörg ist jetzt bestimmt schon angezogen.»
«Bad ist frei!», rief Susanne.
Ich checkte mit Jens noch flott den Inhalt des Ranzens, dann betrat ich das Badezimmer, ein Schemen im beschlagenen Spiegel, feuchte warme Luft, das Pappröhrchen einer Klopapierrolle am Halter, Haare, überall Haare, ich zog die Spülung, man konnte Susannes Haare wie Tang aus der Badewanne fischen, ein nasses Handtuch in der Ecke, ich hob es auf und hängte es an den Haken. Es ist noch ein Tasten, aber ich verfolge ein Ziel, ja, zum ersten Mal seit langer Zeit verfolge ich ein Ziel. Kleine Pause. So, hier bin ich wieder. Machen wir weiter! Seit diesem Mittwochmorgen nahm mein Leben zunehmend groteskere und beunruhigendere Formen an. Der zaghafte Auftakt meiner Schwierigkeiten, den ich vor der gläsernen Theke einer Bäckerei zu lokalisieren glaube, ist dem Lösen der Leinen eines Hochseeschiffs vergleichbar, und mit gedrosselter Geschwindigkeit verlässt es den Hafen, um in tieferen, fast schwarzen Gewässern allmählich Fahrt aufzunehmen.
Natürlich weiß ich, dass es unmöglich ist, einen dermaßen vagen Zeitpunkt wie den «Auftakt meiner Schwierigkeiten» zu bestimmen (sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht), aber jedes Mal, wenn ich über den steil absteigenden Zickzackpfad nachdenke, den mein Leben seither eingeschlagen hat, fällt mir dieser Mittwochvormittag ein, an dem wir so ungewohnt früh mit der Arbeit begannen. Denken heißt vereinfachen, behauptet Strigaljow, und ich glaube in seinem Sinne zu sprechen, wenn ich daraus folgere: Erinnern heißt noch mehr vereinfachen. Im wirklichen Leben gibt es keine Schlüsselerlebnisse. Ein Kind kauft seinem Vater ein rotes Plastikfeuerzeug zum Geburtstag, findet aber erst als Erwachsener heraus, dass sich dieses Geschenk unmerklich in die Drehscheibe eines Sackbahnhofs verwandelt hat, eine dieser Plattformen, auf der die Lokomotive mal in diese, mal in jene Richtung geschwenkt wird. Oder beginnt die Drehscheibe erst im Moment des Erinnerns zu rotieren? Ich weiß es nicht. Feste Meinungen lösen in mir ein gewisses Unbehagen aus, vor allem, wenn sie mit meiner Person verknüpft sind. Letzten Endes weiß ich nur, dass dieser Mittwoch ein gewöhnlicher Arbeitstag war. Vielleicht fing alles früher an?
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr verstricke ich mich, Schiffe, Drehscheiben, Lokomotiven, wahrscheinlich ist es sinn- und ergebnislos, überhaupt einen Anfang finden zu wollen (einen Anfang für was auch immer), werfen doch alle Geschehnisse ihre Angelleinen weit in die Vergangenheit zurück: Es handelt sich um dicke, straff gespannte Schnüre, die sich in der Zeit verlieren. Ihre Haken sind fest verankert, und auch dieser eine Mittwochmorgen baumelt an einem Haken, den ich mir gerne rostig und vom Salzwasser zerfressen vorstelle. Ich tauche am Seil entlang die Zeit hinab, Heinz hupte, ich band die Schnürsenkel, mit jedem Schwimmstoß erinnere ich mich genauer, rieche die Abgase des Transits, dessen Motor schon seit einigen Minuten läuft, tauche tiefer, das Wasser wird kühler, noch tiefer, und schon höre ich das Knirschen des Schotters unter den Sohlen, hörte es laut und ganz nah.
Heinz hupte erneut, ich stieg zu ihm in den Transit und schnallte mich an. «Wegen mir», sagte ich, «kanns losgehen, Keule.» Er mochte, wenn ich ihn «Keule» nannte (das erinnerte ihn an seine Zeiten als Kraftdreikämpfer). Er hieb mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, trat das Gaspedal durch, ließ gleichzeitig den ersten Gang kommen. Reifen schleuderten Schotter auf, der Transit rumpelte über den Bürgersteig, legte sich quietschend in eine Rechtskurve: Wir waren unterwegs. Heinz hielt mir seine Zigaretten hin. Bei dieser Geste handelte es sich um einen in Ehren ergrauten Scherz. Ich hatte nur ein einziges Mal von seinen Filterlosen geraucht, und Heinz freute sich noch heute über meinen Hustenanfall. Ich tat so, als dächte ich über das Angebot nach (auch das gehörte zum Ritual) und lehnte dankend ab. «Na, nimm dir schon eine», drängte er.
«Für mich ist es noch zu früh zum Rauchen.»
«Ach, Quatsch!» Heinz hielt die rotglühenden Drahtkreise des Zigarettenanzünders an die Spitze der Gauloises. «Zum Rauchen isses nie zu früh!» Aschezähne fraßen sich ins weiße Papier, Heinz inhalierte, behielt den Rauch lange in der Lunge und ließ ihn mit einem wohligen Seufzen aus den haarigen Nasenlöchern strömen. «Du weißt gar nicht, was dir entgeht, Kleiner!» Maulfaul zuckte der Kleine mit den Achseln, Heinz schaltete das Radio an, fluchte unflätig, schaltete es wieder aus, langweilte sich demonstrativ und bedachte mich mit vorwurfsvollen Seitenblicken.
Aber ich war weder wach noch gesprächsbereit.
«Halt mal kurz an der Bäckerei.»
«Yup!» Heinz warf einen Blick in den Rückspiegel, trat auf die Bremse. «Na, da glotzt ihr blöd, ihr Mistböcke!» Der Transit kam mit tickender Warnblinkanlage mitten auf der Straße zum Stehen. «Is nich mein Bier, wenn irgendwelche Scheißkerle das Trottoir zuparken!» Heinz zog die Handbremse; den Motor ließ er weiterlaufen. Zwei ältere Damen unterbrachen ihr Schwätzchen und spähten zu dem lauernden Leichenwagen hinüber.
«Willst du auch was?», fragte ich.
«Nö», sagte Heinz. «Bin fett genug.»
«Wie du meinst.» Ich schlug die Wagentür zu, schlüpfte zwischen Stoßstangen durch, und endlich setzte der Kopf der Autoschlange, die sich hinter dem Transit gebildet hatte, zu einem halbherzigen Überholmanöver an. Niemand bedachte uns mit obszönen Gesten, niemand hupte, keiner lamentierte – am Steuer eines Leichenwagens darf man sich alles erlauben. Bürgersteig, Stufe eins, bereits auf der Treppe der Bäckerei Gallinger, Stufe zwei, begannen rosinengespickte, mandelbestäubte Monde mein Denken zu umkreisen. Ich nehme, Stufe drei, eine Schnecke, Ting, ein Schweinsohr, ein … ich starrte die neue Verkäuferin an.
«Eine Schnecke», stammelte ich, «ein Schweinsohr, ein …»
«Ja?»
«Zwei Schnecken, ein Puddingstückchen …»
Sie half mir: «Und ein Schweinsohr?»
Dankbares Nicken, schöne Brüste, die Kuchenzange griff viermal zu, das Mädchen hatte einen schlanken, sportlichen Körper, nascht bestimmt nie vom Teig, dachte ich verzaubert von der Anmut, mit der sie die Kaffeestückchen in die Papiertüte packte, höchstens achtzehn, schätzte ich, sie hatte die kräftigen, sonnengebräunten Unterarme einer Tennisspielerin. Wie zufällig berührten meine Fingerspitzen beim Zahlen ihre Handfläche, ein verwegenes Geldstück sprang auf die Glastheke, schwebte über den Kuchen, den Zöpfen und rollte davon, als ich danach griff. Verwirrt steckte ich mein ganzes Wechselgeld in eine verplombte Sammelbüchse. «Die armen Kinder», bemerkte ich. «Wenn man dieses Elend sieht», ich tippte an die Büchse, «weiß man erst, wie gut es einem selbst geht.» Die Verkäuferin sah mich befremdet an, und da ich keinen blassen Schimmer hatte, über was ich mit ihr reden sollte, verbreitete ich einige Dummheiten über das Wetter, und als meine Fähigkeiten, charmant über die Wetterlage zu dozieren, erschöpft waren, bezog ich die Kleine kurzerhand ein. «Sie freuen sich wahrscheinlich nicht annähernd so über gutes Wetter wie ich.»
Hinter ihr konnte ich in die Backstube sehen: Der Propeller eines Knetarms über der Metallwanne der Knetmaschine; Siebe und Brotschieber an der gekachelten Wand; ein weiß gekleideter Jemand, der nicht gerade aussah, als hätte er das Rad erfunden, machte die Tür von innen zu. Die Verkäuferin schluckte schwer. «Wieso kann ich mich nicht über gutes Wetter freuen?»






