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Ein ähnliches, wenn auch nicht so traumatisches Erlebnis hatte ich Jahre später, als ich mich mit der Métro verfuhr. Ich war unterwegs zur Station Jussieu, versuchte den Kulturteil einer französischen Zeitung zu lesen, malte Kreise und Schlaufen unter Paris, die Buchstaben einer außerirdischen Schrift, wir tauchten aus dem Boden auf, um eine überirdische Station anzulaufen, ein Moment kurzen Glücks, dann riss es uns wieder hinab in die Dunkelheit. Auf einmal hielt die Métro, und sämtliche Passagiere stiegen in einer beunruhigenden Gelassenheit aus, als wüssten sie alle etwas, das ich nicht einmal ahnte. Ich ließ die unverständliche Lektüre auf einem pflichtbewussten Sitz liegen, der nicht hochklappte, um nach dem sich entfernenden Hintern des Aufstehenden zu schnappen, und folgte der Menge. Ein Meer von Köpfen glitt auf einer langgezogenen Rolltreppe in eine tiefere Etage. Hier verkehrten richtige Züge, RER, stand an den Wänden, seltsame Pläne, seltsame Namen, eine Welt unter der Métro, Châtelet Les Halles, halt, das kenn ich doch, umherirren, Schilder, Rolltreppen, endlose Gänge, Spiegel, Schilder, Treppen hinauf, Treppen hinab, Schilder, ein Drehkreuz, ja, bestätigte mir ein deutscher Familienvater, die violette Linie fahre zum Porte de Clignancourt, bei Barbès-Rochechouart stieg ich aus (wie immer verkaufte der alte Araber Nüsse und Gewürze auf seiner umgedrehten Apfelsinenkiste, ich freute mich richtig, ihn zu sehen), quetschte mich in einen überfüllten Wagon, fuhr eine Station weiter in Richtung Porte Dauphine und hatte mich erst wieder halbwegs beruhigt, als ich die Station Anvers durch das vertraute Jugendstiltor verließ.
Achim, mit dem ich an unserem Stammplatz in Mollingers Eck saß, konnte ich meine beiden «Etagen-Erlebnisse» nicht erzählen. Er war nicht in Stimmung für ein ernsthaftes Gespräch. Ich hielt ihm mein Bierglas hin. Wir stießen an. Ich hatte mich eben an diese beiden Erlebnisse erinnert, weil Heinz behauptet hatte, er wäre vor einigen Jahren mit einigen Freunden durch die Kneipen gezogen und hätte Betrunkene aufgegabelt, um sie in anderen Städten auszusetzen. «‹Klar fahrn wir dich nach Hause!›, haben wir denen gesagt, und wenn wir gemerkt haben, dass sie so breit waren, dass sie nix mehr geschnallt haben, gings ab auf die Autobahn.» Heinz zauberte eine Zigarette hinter dem Ohr hervor, brach den Filter ab, sagte: «Hat mir Molli geschenkt», steckte sie an und sprach weiter, wobei er die Tabakfäden, die an der Lippe kleben blieben, trocken zur Seite spuckte. «Also stellt euch vor, ihr wankt durch die Stadt, thp, und wisst absolut nicht, wo ihr seid, thp, thp, und ihr orientiert euch am, thp, Karstadt, aber so wie hier hat das Karstadt noch nie ausgesehen, thp, tshp, Scheißzigarette!» Er zerquetschte sie im Aschenbecher. «Alles falsch, ihr kennt die Straßennamen nicht, kennt die Straßen nicht, auch wenn sie so heißen, wie sie sonst heißen, und wenn ihr dann zum Bahnhof geht …» – «Ist der Bahnhof ein unheimliches, ein fremdes Gebäude», ergänzte ich. Heinz nickte und zündete sich mit sichtlichem Behagen eine Gauloises an. «Gemein!», sagte Achim anerkennend, der seit seiner Bemerkung über Heinz’ «modische Kleidung» zu großen Respekt hatte, um auch nur eine Spur Skepsis an dessen Geschichte zu zeigen. – «Und das habt ihr wirklich gemacht?», fragte ich. – «Yup!» – «Wie oft?» – «Vier-, fünfmal war das bestimmt.» – «Klasse!», sagte ich. – «Jau!» Heinz stützte die Fäuste auf den Tisch, stand auf. «Ich geh dann mal zurück zu den Jungs am Tresen!» Achim sah Heinz’ breitem Rücken nach – und in diesem Augenblick biss die erste Erinnerung an. Schnell zog ich die Leine ein: Am Haken baumelte ein schreiender Junge in der leergeräumten Etage eines Mietshauses. Kaum hatte ich den Fang vom Haken gelöst und die Leine erneut ausgeworfen, fing ich die zweite Erinnerung: Ein verstörter Tourist mit erbärmlichen Französischkenntnissen, der inmitten routinierter Pendler eine steile Rolltreppe ins Unbekannte hinabfährt.
«Glaubst du ihm?», fragte Achim. «Es war eine gute Geschichte», sagte ich diplomatisch, bedeutete Molli mit einem zweifingrigen V, noch zwei Bier zu zapfen, und nach dem fünften legte der Abend ab, verließ den Hafen und glitt auf einer unbewegten, trüben See davon, die mein Kugelschreiber gegen Mitternacht in einem Strudel des Selbstmitleids aufrührte, als ich nämlich am Küchentisch obigen Etagen-Satz ins Notizbuch kritzelte, ehe ich zu Susanne ins Schlafzimmer schlich.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich mich am folgenden Montag wieder in der falschen Etage befinden und gleichzeitig eine Irrfahrt in einer verrückt gewordenen Métro machen würde, während mich böse Unbekannte sturzbesoffen in einer fremden Stadt ausgesetzt hatten. Das klingt übertrieben, vielleicht auch eine Spur zu originell, aber bei meiner Lesung in der Volkshochschule kam alles zusammen. Nach einer schlaflosen Nacht, in der mich der bevorstehende Auftritt mit Krakenarmen umklammert gehalten und mein Gehirn jedes Mal heftig zusammenpresst hatte, sobald es sich anschickte, im Watte-Reich des Schlafs zu versinken, kroch ich am Montagmorgen als verängstigter Schatten aus dem Bett. Bereits um neun Uhr kratzten wir das erste Unfallopfer von der Straße. Der Fahrer des blutverschmierten Mercedes saß auf einem Gartenmäuerchen; zwischen seinen Sandalen krümmten sich halbgerauchte Zigaretten; das Mädchen, entschuldigte er sich bei den Umstehenden, sei auf die Straße gerannt, einfach so, der Aufprall habe sie auf die andere Fahrbahn geschleudert, er schluckte, vor den Omnibus. Heinz hob die Decke an, die man über den kleinen Körper gebreitet hatte, kam fluchend zurück. Wortlos zog ich die Zinkwanne aus dem Transit und klappte sie auseinander. Die weiteren Termine waren weniger bedrückend: Krankenhäuser, Hausbesuche, die übliche Routine. Heinz philosophierte über seine Freunde, die good ol’ Totenwürmer, ich brütete düster vor mich hin, und als wir irgendwann nachmittags an einer roten Ampel standen, rammte mir Heinz den Finger in die Seite und fragte in kaum verhohlener Besorgnis: «Sag mal, willst du heute nicht in die Bäckerei?»
«Nein.»
«Was isn los?»
Ich erzählte ihm von der Lesung.
«Ich denk, das macht dir Spaß!»
«Macht es auch.»
Heinz sah mich fragend an.
«Ach, ich weiß ja auch nicht», seufzte ich und rührte den Tabakqualm im Inneren des Transits mit einer hilflos schöpfenden Handbewegung auf, «das ist eine komplizierte Angelegenheit.»
Danach versuchte mich Heinz bei einem eiskalten Feierabendbierchen in Sonjas Hähnchen Grill zu trösten, indem er mir einen Witz nach dem anderen erzählte. Frauen beim Arzt, Blondinen in der Badewanne, der Ameisenbär im Edelpuff. Laue Pointen umgaukelten die zerfranste Peripherie meines Bewusstseins, als mich Onkel Jörg gegen Abend zur Volkshochschule brachte. Er hatte Heinz zur Nachtbereitschaft verdonnert und freute sich vermutlich schon, dass sie binnen einer Stunde «sterngranatenvoll» im Büro sitzen würden. Onkel Jörg war ein Verführer in Sachen klarer Schnaps und Heinz ein willfähriges Opfer. Ich hätte mir auch lieber einige Kurze hinter die Binde gekippt, anstatt mich vor aller Welt lächerlich zu machen! «Nö, brauchst du nicht, ich nehm mir nachher ein Taxi. Sauft nicht zu viel. Und danke fürs Rumbringen!» Onkel Jörg hupte zum Abschied, ich winkte ihm nach, betrat die Volkshochschule und ließ mich von pfeilförmigen Pappschildern in den Keller leiten, dessen Wände irgendein Unbegabten-Workshop mit abstrakten Gemälden geschmückt hatte, zu denen Titel gepasst hätten wie Trauriges blaues Quadrat oder Alberner grüner Rhombus.
An der Rückwand des Seminarraums, in dem ich lesen sollte, hatte man mehrere Tische in einer pornographischen Assemblage versammelt: Sie kletterten übereinander, besprangen sich und reckten in wohliger Trägheit die nackten Metallbeine in die Luft. Nur ein einziger Tisch distanzierte sich von dem schamlosen Treiben, ein Tisch, den eine Leselampe und ein umgestülptes Glas als mein «Pult» kenntlich machten. Ich drehte das Glas um, stellte die mitgebrachte Wasserflasche, kohlensäurearm, rülpsfeindlich, so daneben, dass nur ich allein das Etikett lesen konnte, knipste die Lampe an, sie funktionierte, noch sechsundzwanzig Minuten, knipste sie aus und saß ähnlich ausgeknipst vor den leeren halbmondförmig aufgebauten Stuhlreihen. Aus dem Ranzen des Mädchens war ein Schulbuch auf die Straße gerutscht, Mathematik, viertes Schuljahr, ich zwang mich, an den Ameisenbären im Bordell zu denken, tap, tap, tadap, krebsten meine Finger in nervösen Märschen über die Tischplatte, noch zweiundzwanzig Minuten, dachte ich, eine nackte Frau sitzt in der Badewanne, dachte ich, Großvater kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten in den Raum geschlurft.
Ich stand auf, ging ihm entgegen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, bereitete ihm das Gehen größere Mühe. Lediglich seine Augen schienen nicht so rasch zu altern wie der Rest des Körpers; es waren verschmitzte Augen, seltsam vergrößert durch lupendicke Brillengläser.
«Aufgeregt?», fragte er mitfühlend.
«Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»
«Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.»
Ich sah ihn verständnislos an.
«Es wäre schlimm, wenn du nicht aufgeregt wärst.»
«Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie ist es absurd, wenn man – ach, wünsch mir doch einfach Glück!»
Er klopfte mir auf die Schulter und suchte sich einen Sitzplatz. Ich verdrückte mich, um im Flur eine Zigarette zu rauchen. Die ersten Besucher kamen. Ein Germanistikstudent, den ich vom Sehen kannte, grüßte mich, spähte in den Saal, entdeckte Großvater und wollte witzig sein.
«Der alte Sack», sagte er, «hat sich bestimmt im Raum geirrt»
«Das mag wohl sein», murmelte ich und ersann blitzschnell eine elegante und äußerst schmerzhafte Methode, Großvater zu rächen, eine Methode zudem, die jede Gewalttat an Heimtücke übertraf. «Ich hab dir was zu gestehen», sagte ich. Er näherte sich erwartungsvoll. Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. «Es handelt sich um etwas höchst Vertrauliches. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Kurz und gut», ich senkte die Stimme: «Du riechst unbeschreiblich aus dem Mund. Weißt du, wie sie dich nennen?»
«Wie?», schnappte er atemlos.
«Sie nennen dich Mister Mundgeruch.»
Mit belegter Stimme: «Wer?»
«Alle an der Uni nennen dich so. Weißt du noch, wie Professor Capart vor deinem Atem zurückgewichen ist, als du ihn mal nach einer Seminarsitzung was gefragt hast? Richtig zurückgezuckt ist der. Und ‹Puh!› hat er gesagt, ganz leise, aber wir habens alle gehört. Tja, seitdem nennen sie dich so. Wirklich alle. Sogar die Erstsemester nennen dich Mister Mundgeruch.»
Er bedankte sich für meine Ehrlichkeit, verstrickte sich in unzusammenhängenden Bemerkungen über unverträgliches Mensaessen und bitteren Automatenkaffee und betrat den Raum, in dem ich gleich lesen musste, um dort sichtlich angeschlagen zwischen den Stuhlreihen umherzuirren. Ich war beeindruckt. Er hatte sogar die Sache mit Capart geschluckt – und das, obwohl er kein bisschen aus dem Mund roch! Zufrieden rauchte ich eine zweite Zigarette, sitzt die Frau also splitterfasernackt in der Badewanne, klopf, klopf, klopf, kommt der Klempner rein, hallo Georg! «Wie schön, dass Sie gekommen sind.» Ich begrüßte eine von Mutters unsympathischen Herrenbekanntschaften mit Handschlag und flitzte danach zur Toilette, um weiterem Händeschütteln zu entgehen. Als Jens in den Kindergarten ging, erzählte er uns eines Tages, sie hätten den ganzen Vormittag damit zugebracht, «richtiges Handgeben» zu lernen, und er solle es jeden Tag mit seinen Eltern üben. Ich vermutete, dass er was ins falsche Ohr bekommen hatte, aber als ich einige Tage später eine gezielte Nachforschung im Katholischen Kindergarten anstellte, bestätigte seine Kindergärtnerin, eine Nonne, nicht nur den widersinnigen Bericht meines Sohnes, sondern belehrte mich darüber hinaus, dass viele Menschen die Wichtigkeit eines selbstbewussten Händedrucks unterschätzten. Dies tat sie nicht ohne versteckten Vorwurf, denn mein Händedruck ließ in ihren Augen offensichtlich sehr zu wünschen übrig. «Dabei ist gerade der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch der entscheidende», dozierte sie selig. «Ein fester, selbstsicherer Händedruck kann Berge versetzen.» Nonnen tun mir immer leid. Sie sehen aus wie Raben und können nicht fliegen. «Ich glaube nicht», widersprach ich höflich, «dass man schon im Kindergartenalter …» – «Doch!», sagte sie. «Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, Herr Fahlmann!» Vielleicht sollte ich Jens zu meiner nächsten Lesung mitnehmen, damit er das Publikum mit professionellem Händedruck begrüßte, hallende Stimmen im Korridor, nahendes Gelächter, ich durchquerte einen kleinen Vorraum (Waschbecken, Spiegel, Händetrockner), kam in einen weißgekachelten Würfel, linker Hand die Pissbecken, gegenüber zwei Toilettenkabinen, es roch vertrauenserweckend nach Sagrotan, ich belegte die rechte Kabine, ließ die Hosen runter, blätterte in meinem Buch, konnte mich nicht entscheiden, mit welchem Teil ich die Lesung beginnen wollte. Jemand betrat die Herrentoilette, Schritte endeten vor einem Urinal, ein Reißverschluss wurde runtergezogen, und nach einer Weile konzentrierten Schnaufens setzte ein zaghaftes Plätschern ein, das zunehmend an Intensität gewann.
Eine zweite Person betrat den Raum, sagte etwas zu der ersten, das ich nicht verstand, Schritte, erneut wurde ein Reißverschluss geöffnet, und als zu dem ersterbenden Plätschern ein kraftvoll sprudelndes hinzukam, wurde ich Zeuge eines beunruhigenden Gesprächs. «Ich konnte draußen nicht so deutlich werden, aber ich halte das, was er schreibt, für Scheiße, für absoluten Blödsinn.» – «Ich auch.» – «Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier.» – «Ja, die Frauen und die Literatur!» Beide lachten, ein Reißverschluss wurde energisch hochgezogen, dann gestand der zweite: «Ich bin auch nicht freiwillig hier. Mir hat», ein Name, den ich nicht verstand, «ne Freikarte geschenkt. Da konnte ich schlecht nein sagen. Außerdem kenn ich ihn», damit war wohl ich gemeint, «flüchtig.» Entschuldigend: «Von der Uni.» Im Geiste sprengte ich die Toilettentür mit einem Tritt auf, brüllte «Überraschung!» und hüllte sie in die lodernde Aureole eines Flammenwerfers. Ein Urinal gurgelte, Schritte, Tür auf, beide verließen die Herrentoilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, Tür zu, auf dem Schoß mein Buch, an der kühlen Klotür meine Stirn. Auch ein Erlebnis wie dieses, stellte ich fest, kann das Gefühl der Verunsicherung hervorrufen, dem ich mich vorhin in schwerfälliger Metaphorik zu nähern versuchte, indem ich von falschen Etagen, umherirrenden Métros und ausgesetzten Betrunkenen sprach. Was waren das für Menschen? Einer spülte nicht ab. Der andere zog seinen Reißverschluss nicht hoch. Eine lähmende Unsicherheit lag unter der Oberfläche der Welt wie eine straff gespannte Membran und ließ die Wirklichkeit vibrieren. Ruhig werden. Ich muss ruhig werden. «Guten Tag», sagte ich, «es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind.» Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Irgendwie heiser. Hätte heute nicht so viel rauchen dürfen! «Guten Tag», übte ich tapfer weiter, «eigentlich wollte ich ja auf der Toilette lesen, vor einem anonymen, aber nichtsdestotrotz kritischen Publikum …» Ich wischte mir den Arsch ab. Die beiden Kerle sitzen jetzt drüben und warten auf mich. Heiser. Wie ärgerlich! Ich rauche zu viel.
Hoffentlich versagt die Stimme nicht! Ich räusperte mich und steckte mir eines dieser extrastarken Eukalyptusbonbons in den Mund, die Susanne in Zehnerpackungen aus dem Edeka-Lager schmuggelte. Sie war nicht mitgekommen. Angeblich, weil sie meine Sachen «in- und auswendig» kenne. Von wegen! Ich hoffte nur, sie traf heute Abend eine ihrer Freundinnen in einem neonerleuchteten Szene-Café und nicht, wie ich insgeheim befürchtete, den weißhaarigen Wolfgang. Vorhin war sie nur mit einem Höschen bekleidet aus dem Bad gekommen, einem Seidenslip, den ich noch nicht kannte, mit schmetterlingsförmigem, erregend verdunkeltem Webspitzeinsatz, bestimmt trifft sie eine Freundin, Hose hochziehen, bestimmt, abspülen, noch eine Minute, ich zählte bis 60, bestimmt trifft sie eine Freundin, ich verließ die Toilettenkabine, 61, 62, verließ die Herrentoilette, 63, bestimmt, Gemurmel im Saal, 64, 65, sie trifft eine Freundin, alles kam mir unwirklich vor, verkehrt, Wolfgang, 66, sie trifft Wolfgang, 67, 68, den Raum pflasterten Hinterköpfe, natürlich trifft sie, 69, Wolfgang, 69, 70, alle betrachteten die Leselampe, Webspitzeinsatz, betrachteten die Sprudelflasche, 71, 72, es war, als sollte die Scham ihn überleben, mit diesem Satz endet Kafkas Proceß – und so begann meine Lesung, sie trifft sich mit Wolfgang und ich muss mich hier zum Larry machen! Vor mir lag das lächerliche Buch, dieses lächerliche Taschenbuch mit dem noch lächerlicheren Titel. Ich erschrak, wenn ich ihn auf Plakaten las oder in Rezensionen, zuckte zusammen, wenn ich im Radio hörte: Heute Abend liest der junge Autor Georg Fahlmann aus seinem vielbeachteten Gedichtband (und jetzt kommts mit Fanfaren und Paukenschlag) schWEINe-essIG. Das Publikum ignorierend, schlug ich das Buch auf, überblätterte die unvorteilhafte Fotografie, die mich auf einem Campingstuhl in Lambaréné zeigte: Angetan in kurzen Turnhosen und einem zu engen Polohemd starre ich die Daumenkuppe des Lesers an, die sich jenseits des linken Bildrands befindet.
«Wir brauchen das Foto morgen früh!», hatte mich Marsitzky mit überschlagender Stimme angerufen. «Das Buch geht nächste Woche in Druck. Um Himmels Willen, Sie müssen doch irgendein Bild von sich im Haus haben!» Ich wühlte mit wachsender Verzweiflung im Schuhkarton mit den Familienfotos. Auf einem trug ich einen doofen Hut, auf vielen schnitt ich Grimassen. «Sich Fotografien, auf denen man selbst drauf ist, zu betrachten», sagte ich, «ist fast so schlimm, wie sein Spiegelbild in der Sonnenbrille von jemandem zu sehen, den man nicht leiden kann und der nicht blind ist.» Nein, vergessen Sie das! Das habe ich nicht gesagt. Nie gesagt. «Ich sehe auf allen fürchterlich aus.» Das habe ich gesagt oder etwas in der Art. «Und was ist damit?», fragte Susanne und nahm einen Schnappschuss aus der Schachtel, den Jens im vorigen Sommer von mir gemacht hatte. «Das kannst du nehmen! Das ist gut!» – «Aber da sitze ich doch in Lambaréné», warf ich ein. – «Ist doch scheißegal», sagte sie. «Bild ist Bild.» – «Meinst du nicht, dass ich da etwas zu blöd aussehe?» – «An deiner Stelle würd ichs nehmen.» Ihr Haar wallte über meine Schulter, wir betrachteten das Foto, und da Om darauf um meine nackte Wade strich, fragte ich ihn, ob ich es nehmen sollte. Aber Katzen sehen keine Bilder. Katzen wollen nur wissen, was sich hinter den Dingen befindet, die man ihnen vor die Nase hält. «Om würds nicht wegschicken», vermutete ich. «Es ist ein gutes Bild», sagte Susanne. «Außerdem würdest du Jens damit eine große Freude machen.»
Dieses Argument gab den Ausschlag. Fotografie: Jens Fahlmann, stand nun im Impressum, Reinheit aus 124 Meter Brunnentiefe, jubelte das Etikett der Sprudelflasche, erwartungsvolle Stille kehrte ein, die letzten Huster verklangen, jemand knisterte kurz und energisch mit einer Plastiktüte. Ich würde, wusste ich auf einmal, die Lesung mit einem lange überfälligen Exkurs über die vermeintliche Ernsthaftigkeit meiner Lyrik eröffnen – aber hieß es nun «Seriosität» oder «Seriösität»? Um den drohenden Blackout zu überwinden, einen wildwuchernden Tintenfleck im Sprachzentrum, begann ich mit höflichem Gestammel. «Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Normalerweise gibt es eine Einführung, aber Frau Jeckel», erschrocken bemerkte ich, dass ich kicherte, «also Frau», ich riss mich zusammen, «Jeckel von der VHS hat heute noch eine andere Veranstaltung. Ähm … ja … Ich lese nun aus meinem Gedichtband», befangenes Räuspern, «schWEINe-essIG. Das Buch besteht aus fünf Teilen. Sie heißen: narrenbutter, schWEINe-essIG, fischmützencocktail, das FRATT und mond-schein-parade.» Ein Mann in der ersten Reihe knarzte mit seiner Lederjacke. Grimmiges Gesicht, schlaffe großporige Hamsterbacken, vor der Brust verschränkte Arme. Mein Blick strich übers Publikum, wurde hektischer, zuckte schließlich wie eine Flipperkugel hin und her, erstarrte, Inge. Inge! Inge saß neben mir im Thomas-Mann-Hauptseminar. Ihre Handrücken waren immer verkratzt. Sie musste sich mit ihrer Katze unglaubliche Gefechte liefern. Schwarze, fast blau glänzende Locken, Nasenring, gut, dass Susanne nicht hier ist, ich fühlte mich immer schuldig, wenn ich in ihrem Beisein mit einer schönen Frau plauderte. Das Schlimme daran war, dass ich mich im Bewusstsein einer mehr oder weniger grundlosen Schuld wirklich wie ein Schuldiger verhielt, so dass Susanne zunehmend skeptischer mich und meine Gesprächspartnerin musterte.
Kaum hatte ich Inge im Publikum ausgemacht, meldete sich der für Strategie zuständige Teil meines Gehirns zu Wort: Ich müsste sie morgens besuchen, abends wäre ungünstig, da könnte Susanne was mitbekommen, Dialoge wurden vorskizziert, ich hantierte mit unbekannten und bekannten Größen (Susanne), Inge kam im Seidenhöschen aus dem Badezimmer. Und wenn sie direkt nach der Lesung geht? Was dann? Neben Inge saß ein junger Mann mit Koteletten und Dreitagebart. Vielleicht war er nur wegen ihr hier? Stünde sein Hosenladen offen, würde das mein Toilettenrätsel zur Hälfte lösen. Einer kannte mich von der Uni (A), der andere (B) war mit seiner Freundin hier. Roch A nicht aus dem Mund? Wenn ja, dann kannte ich ihn. Legte B Inge flach? Wenn ja, wie oft? Und woher kannten sich A und B? Aus dem Georg-Fahlmann-wir-finden-dich-scheiße-kommen-aber-trotzdem-zu-deiner-Lesung-Club? In einem Kriminalroman der alten Schule hätte ich mich in der Klokabine auf den Boden gekniet, um unter der Tür hindurch einen Blick auf Schuhe und Hosenbeine der Unbekannten zu erhaschen, Wolfgang, Susanne trifft sich mit Wolfgang, ein Räuspern, das nach Großvater klang, riss mich aus meinen Gedanken, anfangen, da hat er recht, ich muss endlich anfangen, und im salbungsvollen Tonfall eines Laienpredigers las ich das erste Gedicht der mond-schein-parade:
unfug mit dem feuerlöscher
das ist der wahre jakob
und hip hip hurra
als klosteine durchs urinal «welt»
ich als algebraischer bürgermeister
du als ufologischer hase
dann grinsend im binsenanzug
sesam & co
Ich verlas mich mehrmals (besonders der algebraische Bürgermeister entpuppte sich als kapitaler Stolperstein), baute aber darauf, dass die Abnahme der Aufregung positiv mit der Abnahme der Patzer korrelieren würde. Ich sah auf, ein hübsches Mädchen in der dritten Reihe erwiderte meinen Blick, höchstens vierzehn, die Kleine. Ihr entzückend aufmerksames Gesicht gab mir die Kraft, das zweite Gedicht der mond-schein-parade im atemlos schnarrenden Tonfall eines Wochenschausprechers zu zelebrieren:
hühnereier verprassen
oben am jong bösch
über kekenheck
gott aufs nattsetzel locken
klebt da wie eine fliege
auf dem fliegenpapier
in der küche meiner großmutter
väterlicherseits
Niemand wagte zu lachen, schließlich war das Buch in einem angesehenen Verlag erschienen. Die Lederjacke in der ersten Reihe knarzte nachdenklich. Na, Freunde, wie viel haltet ihr aus, ohne zu lachen? Ich verspürte das verhängnisvolle Verlangen, zu improvisieren. Weltmaschine, dachte ich, Weltmaschine, doch zum Improvisieren war es zu früh. Dazu war ich noch viel zu aufgeregt!
dr. nussig der kandis oder zucker
hat tee in der tube (7 liter und mehr)
peilt gott lotrecht im eimer
verlegt sein hirn
verlegt seine seife
an bord von zeppelin «freud»
so lustig
Während des Vortrags erinnerte ich mich an die Gespenstercomics meiner Kindheit, die ich im Bettkasten versteckt hatte, damit Mutter sie mir nicht wegnahm. Seltsam, aber so steht es geschrieben. Mit diesem Satz endete jede Geschichte, und kaum hatte ich so lustig gelesen, dröhnte auch ich:
seltsam aber so steht es geschrieben
Immer noch lachte niemand. Wahrscheinlich denken alle, das gehört zum Gedicht, höhö, mir kochte das Adrenalin vollends über, zu früh! Gefahr! Viel zu früh! Aber schon hörte ich mich orakeln:
weltmaschine weltmaschine
Ich wusste nicht mehr weiter und murmelte betreten:
die weltmaschine … hat …
Ich goss mir Mineralwasser ein. «Nicht zu schnell lesen», hatte Frau Jeckel von der VHS gesagt, aber das Zeugs musste schnell gelesen werden. Schnell! Schnell! Eine vage Idee entrollte sich wie ein Feuerwehrschlauch, füllte sich mit kohlensäurearmem Wasser und schnellte prall aus meinem Mund:






