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alles schnell in der weltmaschine
alle welt in der schnellmaschine
von dr. nussig aus der tube
Eines der größten Probleme bei Lesungen war mein zwanghaftes Bedürfnis, ins Publikum zu schauen, obwohl mich jedes bekannte Gesicht in höchste Beunruhigung versetzte. Neben dem Erlebnis auf der Herrentoilette bekümmerte mich vor allem die Anwesenheit Norbert Polkingers. Mit andächtig geschlossenen Augen saß der Assistent von Professor Capart in der letzten Reihe und lauschte der mond-schein-parade, ein gefährlicher Mann, denn er korrigierte und benotete alle Hausarbeiten. Ich sah ihn bereits wie Barlachs Rächer durch die Flure des Germanistischen Instituts eilen, um die Tür zu Caparts Büro mit einem süffisant beiläufigen «Ich war gestern übrigens bei der Lesung von diesem Fahlmann» aufzureißen. Hühnerprodukt mit zwei Buchstaben. Professor Capart blickt zweifelnd vom Kreuzworträtsel auf. Polkinger trabt derweil auf der Stelle, kräht: «Unfähig!» und seine Erregung entlädt sich in einem Luftsprung. «Fahlmann kann überhaupt nicht schreiben!» Er packt den Garderobenständer und führt ihn in den beschwingten Schritten einer Gigue durch den Raum, während ein zu Tode betrübter Capart den Kopf schüttelt und immer wieder händeringend ausruft: «Eine Null! Eine Niete! Was habe ich davon zu halten! Da ist mein guter Fahlmann also eine Niete!» Hinter dem Schreibtisch starrt Adorno grimmig aus dem Silberrahmen, und seine umwölkte Miene hellt sich erst auf, als Professor Capart keift: «Ich darf auf gar keinen Fall vergessen, Fahlmann durch die Magisterprüfung fallen zu lassen. Erinnern Sie mich gegebenenfalls daran, Polkinger, und stellen Sie endlich den Kleiderständer dahin, wo er hingehört! Wir sind hier doch nicht zu Besuch bei Arno Schmidt in Bargfeld!»
Caparts Assistent öffnete die Augen, ich senkte den Blick ins Buch, über dessen Seiten kleine, fast quadratische Textflöße schwammen. Warum er? Warum ausgerechnet er? Norbert Polkinger war einer dieser Wichtigtuer, die in der Mensa extralaut redeten, damit man noch drei Tische weiter ihren Scharfsinn und ihre Belesenheit andächtig zur Kenntnis nahm. In Seminarsitzungen führte er Adorno und Horkheimer im Munde, um sich bei seinem Doktorvater einzuschmeicheln, und hatte dabei stets (ein liebenswertes Detail) die Finger gespreizt, weil er an einer Hautflechte litt, die besonders gut in jenen feuchtwarmen Regionen des Körpers gedeiht, wo keine Frischluftzirkulation gewährleistet ist. Polkinger! Irgendwann bist du dran! Einen Ehrenplatz, ja, man könnte fast sagen, einen Logenplatz auf der Schwarzen Liste hatte ihm vor allem das gönnerhaft herablassende Verhalten eingebracht, das er mir gegenüber an den Tag legte. Vor Dritten betonte er unablässig, für wie überaus «begabt» und «talentiert» er mich halte, und begrüßte mich stets mit einem vermutlich ironisch gemeinten: «Na, wie gehts denn dem Herrn Dichter!» – in meinen Augen eine subtile Beleidigung. Dichter! Sofort sah ich einen verträumten blutarmen Schwärmer vor mir, der mit Leidensmiene über eine Blumenwiese schreitet. Im Gegensatz zum Poeten, einem ausgemergelten Stubengelehrten, der alles mit dem Mond vergleicht, hat der Dichter einen Degen umgegürtet; aber eine Frau bekommt trotzdem keiner von beiden ab. Autor: ein nichtssagendes, konnotationsarmes Wort, allerdings tausendmal besser als die freche Verhöhnung Buchautor, die bei Fernsehshows eingeblendet wird, wenn Oma Kruse einem staunenden Moderator ihren Klimakterialreiseführer vorstellt. Schriftsteller klang in meinen Ohren relativ harmlos.
Schriftsteller leben im Winter in den nostalgischen Pensionen britischer Seebäder, und alle Gäste tun so, als fürchteten sie unsäglich, in dem Großen Roman verewigt zu werden, an dem der charmante Gesellschafter nachts arbeitet, wenn er sich nach einem letzten Gläschen Portwein auf sein Zimmer zurück gezogen hat. Erzähler gefiel mir eigentlich am besten, aber da ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte, trat ich heute als Lyriker auf. Treten Sie näher! Treten Sie heran! Hier sehen Sie die Praxis des Lyrikers, Tür an Tür mit einem armenischen Gynäkologen, und während dieser seinen buschigen Schnauzer zwischen den gespreizten Schenkeln einer rassigen Französin versenkt, hört man nebenan Wasser rauschen und zaghaftes Gezupfe auf der verstimmten Leier; dann wird es still (bis auf das Stöhnen von Valerie), denn der Lyriker hat sich im Badezimmer eingeschlossen, um seinen Namen in Wasser zu schreiben. Als Kinder hatten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen versucht. Wir riefen: «Erster!», riefen: «Schnellster!», und behauptete einer, «Bester Tormann!» oder «Bester Kletterer!» zu sein, stach ihn nur ein Ausruf aus: ein unschlagbares, ein unbesiegbares, ein ultimatives «Bester Alles!» Polkinger hält mich bestimmt nicht für den Besten Alles. Distanz! Ich darf nicht so begeistert lesen. Ich muss wesentlich distanzierter klingen. Der Beste Alles gab sich von nun an redlich Mühe, und prompt erklärte Professor Capart dem anerkennend nickenden Adorno: «Georg Fahlmann karikiert ironisch den Literaturbetrieb. Eine Ausnahmebegabung. Ich werde ihn die Magisterprüfung bestehen lassen, auch wenn er nichts weiß, haha, ich geb ihm sogar ne Eins, wenn er einen Chiasmus mit einem, ach, Sie wissen schon, verwechselt.» Zwo, drei, vier …
oberst viss im nacken
nack-tack-tack so dunkel
zwei flaschen brause &
komm mal mit mein kleines
eulenkidnapping im schmackelwald
oh, nein, peter vogel!
Wie konnte ein Erwachsener solche Gedichte lesen oder hören, nack-tack-tack so dunkel, ohne den Verfasser für einen totalen Blödian zu halten? Draußen wurde es tatsächlich dunkel, nack-tack-tack, ich knipste die Lampe an und badete das zitternde Buch im Lichtsee. Jens hätte Spaß an der Lesung gehabt. Wahrscheinlich feilschte er gerade mit Mutter, wie lange er noch aufbleiben durfte. Und Susanne? Was sie wohl gerade – nein darüber darf ich nicht nachdenken! Webspitzeinsatz. Nicht jetzt! Wäre Jens hier, er hätte jedenfalls seinen Spaß. Und wahrscheinlich all seine Freunde …
oma kruse und h. c. knolle
im kurhotel «thoelke»
und brühwarm im oberstübchen
shaffery & genossen
duseln nattern durch krummbüsche
krebsen nacktschnecken den hang hoch
plätten maulwurfshügel maulwurfshügel
heh, kellner! mehr zucker!
kaffeetasse johann zirpt im kaltbach
– armer johann
Sprach ich «Thoelke» aus, wie es Wum tat, der heimliche Held meiner Kindheit, waren mir einige zaghafte Lacher sicher. Aber um welchen Preis! Der Lederjackenknarzer sprang vom Sitz, riss einen Fotoapparat in die Höhe, hüllte mein Gesicht in ein Blitzlichtinferno und verließ den Raum auf quietschenden Gummisohlen. Alle sahen ihm nach. Alle bis auf Großvater. Der sah mich an. Aber das merkte ich erst, nachdem ich Inge lange angesehen hatte. Ich spürte, wie ich rot wurde. Die Quietschsohlen schlossen die Tür von außen. Übermorgen würden mir zwei bis drei Textsäulen verraten (auf denen das grobgerasterte Tympanon meines verdutzten Gesichts thronte), ich sei ein «Klangkünstler», ein «Wortartist» – etwas anderes fiel den Ärschen nicht ein! Natürlich beruhigte es mich, dass keiner merkte, was für einen Unfug ich hier zum Besten gab, aber irgendwie kränkte es auch mein Selbstverständnis als Schriftsteller – für den Bruchteil einer Sekunde flaniere ich die Strandpromenade eines britischen Seebades entlang. Noch einmal zum Mitschreiben: Einerseits genoss ich es, öffentlich lesen zu dürfen und sogar Geld dafür zu bekommen, andererseits hasste ich es, das öffentlich zu lesen, was ich lesen musste: kurhotel «thoelke» und Konsorten. Und noch einmal zum Auswendiglernen: Selbstverständlich erfüllte es mich mit Stolz und Genugtuung, dass man mich für einen Schriftsteller (Seebad! Seebad!) hielt, aber doch nicht wegen eulenkidnapping im schmackelwald! Die ganze Chose wird noch vertrackter, wenn man bedenkt, dass meine guten Texte allesamt ungelesen zurückkamen. Schickte ich sie an einen Verlag, wartete ich monatelang auf Post. Das Warten machte mich derart wahnsinnig, dass ich die Absagen regelrecht herbeisehnte. Ja, Sie haben richtig gehört! Ich hoffte auf Absagen, damit diese dem fürchterlichen Warten ein Ende bereiteten. Einmal hatte ich ein Haar von Susanne ins Manuskript gelegt, und als es zurückkam, lag das Haar noch immer zwischen den Seiten zehn und elf. Formbriefe!
Ich bekam fast nur Formbriefe. Seltener, aber das war weitaus schlimmer, lag ein persönliches Anschreiben bei. Die Schwäche Ihrer Erzählungen ist, dass sie zu schwer beladen sind. Wie viele junge Debütanten bemühen Sie sich … der Text scheint mir über weite Strecken hinweg sprachlich noch nicht ausgereift … leider sehen wir keine Möglichkeit … haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot. Wir haben Ihr Manuskript sorgfältig geprüft, konnten uns aber leider … Reibekäse … wünschen Ihnen in einem anderen Verlag den erhofften Erfolg … entschuldigen Sie die späte Antwort … passt nicht ins Programm … habe Ihr Manuskript selbstverständlich gründlichst gelesen … bitte Sie um Verständnis, dass ich bei der großen Anzahl von Einsendungen … Reibekäse, Reibekäse, Reibekäse … in anrührender Unbeholfenheit versuchen die kreisrunden Glasabdrücke die olympischen Ringe nachzubilden … Molli knallt zwei Humpen auf den Kneipentisch … über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen hatten Achim und ich ein ganzes Notizbuch vollgesaut. Die Mehrzahl der Einträge war beschämend pubertär, aber einiges schien mir hinreichend witzig zu sein, also überarbeitete ich die Texte und tippte sie ab. Achim bekam eine Kopie zum Geburtstag, dann verlor ich das Interesse an den Gedichten, die sich daraufhin, lichtscheu, wie unernste Gedichte nun einmal sind, in den letzten Winkel der Nachttischschublade zurückzogen. Ich verlor das Interesse, bis ich eines Abends die Originale kurzentschlossen in einen Umschlag stopfte und mit einem größenwahnsinnigen Begleitbrief an den elitärsten Verlag schickte, der mir in den Sinn kam. Brächte Achim das Gespräch auf unsere Scherzgedichte, könnte ich nun amüsiert behaupten: «Die Gedichte? Achim, du glaubst es nicht! Die hab ich an einen Verlag geschickt, und die Dümmlinge haben alles für bare Münze genommen!» Aber nicht genug, dass die Dümmlinge alles für bare Münze nahmen, sie waren auch ganz versessen darauf, ein Buch daraus zu machen, ein lustiges Taschenbuch, aus dem ich jetzt all den ernsten «Onkel» Richards und «Tante» Monikas das nächste Gedicht der mond-schein-parade vorlesen musste:
im untersten rausch
durch den eierwald taumeln
bei rümmelsborn (hurra!)
kreuzt die spur des fischhufers
hep! schwammenwald, steh kopf!
steh kopf, schwammenwald!
très joli! pierre oiseau:
chanteur de blues
(carte visite)
Mit verklärtem Gesichtsausdruck improvisierte ich:
und von nun an war er bester alles
Ich machte eine Pause und setzte noch einen drauf:
seltsam aber so steht es geschrieben
Bezaubernd, die Kleine in der dritten Reihe, aber Inge ist auch nicht übel, und bedeutungsschwer:
– – – in der weltmaschine!
Außer mir wussten nur drei Menschen, wie schWEINe-essIG entstanden war: Susanne, Großvater und natürlich Achim, der seinen Wunsch, nicht als Co-Autor genannt zu werden, längst bereute. Wir wären sehr daran interessiert, Ihr Buchprojekt in Angriff zu nehmen. Den Brief in Händen kam ich ins Schlafzimmer gestürzt und hatte Susanne geweckt, die samstags immer bis in die Mittagsstunden schlief, um sich von der durchtanzten Freitagnacht zu erholen. «Das hast du nun davon!», sagte sie, nachdem ich ihr den Sachverhalt in groben Zügen erläutert hatte. «Ich muss es veröffentlichen», sagte ich. Susanne umfasste ihre bloßen Knie. «Du wirst dich mit diesem Quatsch lächerlich machen!» – «Ich weiß nicht, wer sich lächerlicher machen wird, der Verfasser, die Leser oder der Verlag. Ich denke nur, dass es sehr dumm von mir wäre, ein Angebot dieses Verlags auszuschlagen.» – «Sie werden sich alle schlapplachen!» – «Lies dir doch erst einmal den Brief durch!» Susanne überflog die Zusage. «Was sind das für Menschen?», fragte sie. Ich hob die Arme in einer Geste fröhlicher Resignation, die ich mir von Stan Laurel abgekuckt hatte. «Was», fragte sie, «verstehen die unter metatextuellen Kondensaten?» – «Das wissen nur die Götter!»
Am selben Nachmittag war ich zu Großvater gefahren. «Da habt ihr ihnen ja», lachte er, «ein gigantisches Kuckucksei ins Nest gelegt.» Freudlos bemerkte ich: «Aber es wird kein Kuckuck schlüpfen.» Großvater widersprach heftig: «Du hast zumindest einen Fuß in der Tür, und da dieser Verlag, völlig zu Unrecht, wie ich finde, hierzulande ein großes Ansehen genießt, handelt es sich um einen mächtig großen Fuß! Aber auch», fügte er munter hinzu, «um eine mächtig große Tür.» Ich schätzte seine schrulligen Bemerkungen. Hatte ich als Kind das Wochenende bei ihm verbracht, standen wir vorm Schlafengehen oft auf dem Balkon, bewunderten den Nachthimmel, und ich ließ mir erklären, dass manche Sterne leuchteten, obwohl sie schon vor Jahrzehnten verglüht seien. «Und du wirst auch erst in einigen Jahren wissen», schloss Großvater heiter, «ob ich heute Nacht wirklich neben dir auf dem Balkon gestanden habe.» Darüber lachte ich als Kind, aber heute war Großvater immerhin einundachtzig. Irgendwann würde ich tatsächlich feststellen, dass er nicht mehr da war und sich unbemerkt zurückgezogen hatte. Erst würden die Erinnerungen an ihn schwächer werden, und dann würde ich es nicht einmal mehr merken, dass ich ihn vergessen hatte: Dann wäre er einfach fort. Zusammengesunken hockte er auf dem Stuhl, den Kopf gesenkt. Es bedeutete mir viel, dass er die Strapaze auf sich genommen hatte, zur Lesung zu kommen. Im Gegensatz zu Winkler, den meine Lesungen nicht interessierten. Auch Vater hätte niemals eine Lesung von mir besucht. Er hatte ja nicht einmal zur Abifeier mitkommen wollen. «Da sind zu viele Leute, die ich nicht kenne», meinte er, und so hatte Großvater meine Mutter begleitet. Sie im Abendkleid, er in seinem besten Anzug, und noch heute schäme ich mich für die peinigende Furcht, meine Klassenkameraden könnten in dem alten Mann meinen Vater vermuten. Um Großvater eine Freude zu machen, begann ich das nächste Gedicht mit einem flotten:
struebing struebing struebing
Und los gings:
im wartezimmer des dottore
riskator einer dicken lippe
dann einen ausgehöhlten kürbis als hut
am steuer des edeka-lkws
the kindheit’s gone
where’s the kindheit hin
schwester inge! ihr busen!
oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst
– – – where’s the kindheit hin
Klammheimlich hatte sich in diese Zeilen eine gehörige Portion Ernsthaftigkeit eingeschlichen. Ich sah mich in meinem ehemaligen Kinderzimmer auf dem Bett liegen, the kindheit’s gone, ich rauche eine melancholische Zigarette, asche in den Bettkasten, aha, dort hinten sitzt Achim, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er in eine Zitrone gebissen, aber der Feigling hat ja darauf bestanden, nicht als Co-Autor genannt zu werden … schwester inge! ihr busen! … ich bemühte mich, das bezieht sie jetzt natürlich auf sich, die wirkliche Inge im Publikum nicht anzusehen … ihr busen! … scheiße … das machte meinen schönen Plan zunichte … schwester inge! … ihre Hand auf meinem Oberschenkel … ihr busen! … graue Adern marmorieren die blasse Haut ihres zerkratzten Handrückens … schwester inge! … man denkt sich nichts Böses, und scha-matz! steht man bis zum Hals im Fett … zügig:
toodeln wir monde – – – padam!
den nachthimmel in flammen
hinauf und hinab (zoosh dich, marie!)
pompoms seid ihr am cheerleader-bürzel
hussa! kreuzt die quere!
rauscht die nacht!
ich bin nur ein mond auf der walz
deine kleine raupe
Der Schwung des Vortrags riss mich mit. Wie auf Schlittschuhen glitt ich über eine Eisfläche, an deren Unterseite sich leidende Tiefseefische mit geplatzten Lungen pressten. Risse überzogen das Eis, ich wich in eleganten Hopsern nashorngroßen Löchern aus, doch da kippte die Eisplatte, die an einem Scharnier befestigt war, und ich raste kopfüber an der zur Unterseite gewordenen Oberseite entlang, die Lungen voller Eiswasser, die Augen brennend vom Salz. Nach der mond-schein-parade blätterte ich in willkürlicher Betriebsamkeit durch das Buch, machte fünfzig Minuten voll und las zum Abschluss einen Text aus dem Zyklus um Walg Nastranz, einem Zyklus, der in jenen quälenden Stunden entstand, wenn ich am Schreibtisch saß und nichts Brauchbares zustande brachte …
Brahnet obs, Walg Nastranz!
Glinko fretsch parantz nobbicht, emblus kalber, norrigt: «Wolpriert Nastranz, waha, fin gräbbt ober dens sockelt – irf wahlperint nog brobbart.»
«Quanu?», Ertzpil nagrat.
«Ohkars fretsch, Nastranz fretsch», wahat Glinko glibbil.
«Dakat», Ertzpil fropft urf bem kambil nogit.
Glinko nurrbig fralt; Nastranz sembelg tiskut.
Angespannte Gesichter. Niemand lachte.
«Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!»
Und dann kamen die Fragen …
«Wo bekommen Sie Ihre Ideen her?»
Die lass ich mir von einem Versandhaus aus den Staaten schicken, grölte eine erschreckend vulgäre Stimme in meinem Inneren, aber ich antwortete brav: «Das fällt mir einfach so ein.»
«Was ist die Botschaft Ihrer Gedichte?»
Pro Rohkost, contra Hitler! «Die Texte sind die Botschaft», sagte ich.
«Also beziehen Sie sich auf Marshall McLuhan?»
«Ja.» Ich hörte den Namen zum ersten Mal.
«Arbeiten Sie an einem neuen Buch?»
Scheiße, Scheiße, Scheiße … «Ja.»
«Handelt es sich wieder um Gedichte?»
Gott bewahre! «Nein.»
In dieser Art ging es weiter, bis Großvater sich erhob und ein ostentatives Ächzen von sich gab, für das ich ihn hätte umarmen können. Man griff nach Jacken und Handtaschen, in der letzten Reihe erhoben sich zwei ältere Damen, ich steckte Brahnet obs, Walg Nastranz! in die Brusttasche des Flanellhemds, versenkte schWEINe-essIG in der Jutetasche, Feierabend. Nach einer Lesung sind die ersten Schritte in den Raum hinein die schlimmsten: Der Schüler, der sich an der Tafel zum Gespött der Klasse gemacht hat, geht an seinen Platz zurück. Freundliche Menschen verwandelten in einer faszinierend spielerischen Choreographie meinen Tisch in eine Theke und erklärten: «Wir dürfen Ihnen die Flasche leider nicht mitgeben.» Also schlenderte ich mit einem durchsichtigen Plastikbecher hinaus in den Flur zur kniehohen Metallsäule des Aschenbechers, trank warmes Bier, rauchte, hielt nach offenen Hosenläden Ausschau, wären Sie so freundlich, eine Dame mit lilagetöntem Haar wollte mein Buch signiert haben, ich ließ sie mein Bier halten und schenkte ihr einen zitternden Fahlmann. Achim war unauffindbar, die hübsche Vierzehnjährige war verschwunden, andere Frauen, Frauen, wo sind bloß die ganzen anderen Frauen hin, Polkinger beschallte die Anwesenden mit einer kritischen Beurteilung der deutschen Gegenwartsliteratur, wieso muss der Künstler überhaupt zahlen, ich erstand ein zweites Bier, Sauladen, Inge kam auf mich zu, lächelnd, einen Becher Sekt in der Hand.
Sie trug ein verwaschenes, schulterfreies Sweatshirt, Sommersprossen sprenkelten die helle, milchig weiße Haut der Schultern, schwester inge! ihr busen! – bei jeder Bewegung schlingerten ihre, verzeihen Sie mir die Offenheit, geilen Möpse unter dem Stoff. Die Uni, Professor Capart, wir tauschten Belanglosigkeiten aus, Inge ist zu aufgeräumt, um die Busen-Passage auf sich bezogen zu haben, dachte ich erleichtert und fing gerade an, mir Hoffnungen auf einen großartigen Abend zu machen, ich bin verheiratet, wir müssen deshalb zu dir gehen, da gesellte sich der Kerl mit dem Dreitagebart zu uns, der während der Lesung neben ihr gesessen hatte, und legte den Arm besitzergreifend um ihre Taille. Der Angeber hatte die Hemdsärmel bis zur Mitte des Bizeps hochgekrempelt. Sein Hosenladen stand nicht offen. Wieso schaut er mich so merkwürdig an? Darf man denn hier niemandem auf den Latz kucken? Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier. Ich musste seine Stimme hören. «Wie fandst du die Gedichte?», fragte ich beiläufig. Er zuckte mit den Achseln. «Nicht so toll?», kombinierte ich beherzt. Inge bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln.
Danach lief ich in unbeholfenen Achtern zwischen den Leuten umher (Mein Publikum! Mein Publikum!), kippte ein drittes Bier, rauchte weitere Zigaretten und fühlte mich ähnlich verloren wie Onkel Jörg, als er mich zur Verleihung der Van-Hoddis-Medaille nach Berlin begleitet hatte. Ich gab unverfängliche Antworten auf dumme Fragen, begrüßte Bekannte meiner Mutter, wieso ist sie eigentlich nicht, als wären wir allerbeste Freunde, hätte ruhig kommen können, Großvater, wenigstens einem hats gefallen, bedankte sich für den «dreifachen Struebing» und fragte: «Wie fühlst du dich jetzt? Nach der Lesung?»
Ich antwortete: «Spitzbergen.»
Moment, Moment, lassen Sie mich weitermachen! Das wollte ich gerade erklären! Im Wohnungsflur, gegenüber des Garderobenspiegels (Afrika und Europa verschwanden, wenn man sich Mitesser ausdrückte), hing eine Weltkarte. Ich hatte sie ursprünglich für Jens aufgehängt, aber eines Tages begann ich, jedes Land, das eine vertrauenswürdige Person bereist hatte (womit der Beweis für die Existenz glaubwürdig erbracht war), mit einem Kreuz zu versehen. Mutter flog mit einem Bekannten nach La Palma, brachte Fotografien mit, ein Fläschchen Sand – ich malte ein Kreuz auf die Islas Canarias (Esp.). Länder, die ich selbst bereist hatte, z. B. Frankreich oder Schweden, versah ich mit zwei Kreuzen. Mein Problem hieß Spitzbergen. Schon als ich die Weltkarte an die Wand geheftet hatte, war mir Spitzbergen zu groß erschienen. Es lag zu weit nördlich. Selbst die Form war fragwürdig, unpassend, und bald war mein Zweifel an der Existenz Spitzbergens ein Familienscherz geworden. Bestärkt in diesem künstlich erzeugten Spleen hatte mich ein Interview mit Philip K. Dick, worin dieser behauptet: Sie bauen nur so viel von der Welt auf, wie sie brauchen, um einen zu überzeugen, dass es sie (die Welt nämlich) auch gibt. Wissen Sie, das ist wie bei einer Low-Budget-Produktion: diese Länder, von denen man immer liest, wie Japan oder Australien (oder Spitzbergen! ganz besonders Spitzbergen!), die existieren gar nicht wirklich.
Da draußen ist gar nichts. Außer man entschließt sich, dorthin zu fahren, und in diesem Fall bauen sie alles schnell auf, die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen, gerade noch rechtzeitig, dass man sie (die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen nämlich) sehen kann. Sie (ignorieren sie den Falschbezug!) müssen wirklich sehr schnell arbeiten. Der Interviewer weiß nicht, ob ihn Dick auf den Arm nimmt, aber ich vermute, dass Dick das selbst nicht wusste. Das Publikum soll genauso wenig wissen wie ich selbst, ob ich Spaß mache oder es ernst meine, offenbarte Salvador Dalí einmal, und ich glaube heute, dass es sich mit meinem Spitzbergen-Tick ähnlich verhielt. Natürlich zweifelte ich nie wirklich daran, dass sich dort oben im Polarmeer ein Archipel befand, das aus den vier großen Inseln Spitzbergen, Nordostland, Edgeinsel und Barentsinsel sowie zahlr. kleineren Inseln bestand, auch zweifelte ich nicht im geringsten daran, dass dieses Archipel 1194 von Wikingern entdeckt und 1596 von W. Barentsz wiederentdeckt wurde (im Unterschied zu diesem niederländischen Seefahrer und Kartographen fand ich mein Spitzbergen zwischen Spitzahorn [Acer platanoides] und Spitzbogen), aber gerade weil Spitzbergen (zus. mit der Bäreninsel das norweg. Verw.-Geb. Svalbard) in keinem Lexikon fehlte, gefiel ich mir in der Rolle des Mittelpunkts einer geographischen Verschwörung. Richtig, Euer Ehren! Spitzbergen ist eine Metapher für die, geschwollen ausgedrückt, Vergeblichkeit allen menschlichen Trachtens.
«So schlimm war es doch gar nicht», meinte Großvater.
«Ich hab im Keller lesen müssen. Und keiner hat gelacht.»
«Ich habe gelacht. Was macht eigentlich dein Roman?»
«Der schneckt so vor sich hin.»
Großvater nahm die Brille ab, um damit in der Luft herumzufuchteln, was er nur tat, wenn ihm etwas besonders zu Herzen ging. «Das Tempo spielt doch keine Rolle! Das einzige, was zählt, ist, ob das Buch gut oder schlecht wird.» Er setzte die Brille wieder auf. «Wird es denn gut?»
«Da fragst du den Falschen. Mal halte ich es für extrem schlecht, dann wieder erfüllt mich ein fast peinlicher Stolz. Vielleicht liegt das daran, dass ich viel zu gut über meine eigenen Tricks und Schwächen Bescheid weiß, um mich noch selbst täuschen oder begeistern zu können. Ich finde das, was ich schreibe, weder spannend noch überraschend, obwohl ich die Leser damit fesseln und überraschen will. Ich schreibe eine Passage, die witzig sein soll, aber bereits beim Überarbeiten geht sie mir auf den Keks und kommt mir dumpf und abgeschmackt vor. Und ich wiederhole mich! Ich sage nur: Lieblingswörter! Manche verwende ich so exzessiv, dass ich das Knochenkotzen kriegen könnte. Und der Satzbau! Der ähnelt sich immer. Schreiben ist ein Herumpuzzeln mit Teilen, die man nur undeutlich sieht, ein Jonglieren mit glitschigen Puzzlestücken, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Aber ich übertreibe. Ein überschätzter SF-Autor hat den Schriftsteller mal mit einem Tänzer in einem chinesischen Papierdrachen verglichen. Alle sehen einen wunderschönen Drachen durch die Straßen ziehen, aber der Tänzer im Inneren des Drachens sieht lediglich das Holzgestänge, das unbemalte Papier, das Pappmaché und den Arsch des Vordermanns.» Mister Mundgeruch steuerte auf uns zu, ich lächelte mild und drückte ihm, ehe er Verdacht schöpfen konnte, mein Tütchen hosentaschenwarmer Eukalyptusbonbons in die Hand. Abermals bewegten sich alle durch den Raum wie die allegorischen Figuren einer barocken Rathausuhr. Großvater trieb davon. Polkinger schob sich mir in den Weg und erklärte, mein größtes Talent sei das ironische Zitat. Es gibt außer dem Motto kein einziges Zitat in dem Gedichtband, du Kretin! «Mir hat Ihre Lesung gut gefallen.» Suuuper! «Wie schade, dass ich nicht kommen konnte», hörte ich Professor Capart ausrufen, und wieder geriet der Raum in Bewegung. Mein Publikum glitt wie auf Schienen dahin – and I awoke and found me here on the cold hill’s side.





