Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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Bettina Eiber
Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache
Ein französisch-italienischer Vergleich
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
www.narr.de • info@narr.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8233-8407-6 (Print)
ISBN 978-3-8233-0274-2 (ePub)
Das vorliegende Werk wurde im Herbst 2019 von der Philosophischen Fakultät der Universität Passau als Dissertationsschrift angenommen.
Mein besonderer Dank gilt der Betreuerin meiner Dissertationsschrift, Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Reutner. Sie begleitete konstant deren Entstehung und unterstützte mich maßgeblich durch ihre kritischen Nachfragen und ihren erfahrenen Blick fürs Detail. Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Rüdiger Harnisch für die Erstellung des Zweitgutachtens und auch dafür, dass er mich an seinem linguistischen Oberseminar teilhaben ließ. Ein herzlicher Dank gilt zudem Herrn Prof. Dr. Walter für die Erstellung des Drittgutachtens.
Bedanken möchte ich mich ebenfalls bei allen Freunden und Kollegen, die mich während der Promotion unterstützt haben. Ganz besonders gilt dieser Dank meiner Kollegin Hannelore Gillich, die fachlich und persönlich eine große Stütze während der Promotion war.
Während des gesamten Schreibprozesses und insbesondere in den letzten Wochen vor der Abgabe konnte ich zudem immer auf die Unterstützung meiner Familie vertrauen. Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen Eltern und meiner Schwester für die aufwändige Korrekturlektüre und den moralischen Beistand in der Abschlussphase bedanken.
Dem Gunter Narr-Verlag danke ich für die Aufnahme der Dissertationsschrift in die Reihe Tübinger Beiträge zur Linguistik. Ein herzlicher Dank gilt zudem der Axel Springer Stiftung und dem Graduiertenzentrum Passau für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuss.
Passau, im September 2020 Bettina Eiber
1 Einführung
Schon im Jahre 1962 postulierte der Medientheoretiker Marshall McLuhanMcLuhan, Marshall (1962: 278) das Ende der Gutenberg-GalaxisGutenberg-Galaxis durch die Einführung neuer Medien in die Gesellschaft. In der Folge scheint sich diese Annahme zu bewahrheiten und es ist die zunehmende Einstellung von gedruckten Büchern und Zeitungen zu beobachten, die durch digitale Ausgaben ersetzt werden. Besonders früh und ausgeprägt zeichnete sich diese Entwicklung bei EnzyklopädienEnzyklopädie ab. So erscheinen die Ausgaben der Encyclopædia Britannica (2020), des Brockhaus (2020), der Encyclopaedia Universalis (2020) und der Encyclopédie Larousse (2020) heutzutage ausschließlich online, die Enciclopedia Treccani (2020) existiert parallel als Online- und als Printausgabe. Diese Angebote reproduzieren in der Regel traditionelle EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel auf statischen Webseiten und bewirken deswegen nur geringe Veränderungen im Vergleich zu den gedruckten Vorläufern. Allerdings wird schon mit der Gründung der WikipediaWikipedia im Jahre 2001 dieses Modell weitgehend obsolet und die statischen, expertenbasierten EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel werden durch dynamische, kollaborativ im WikiWiki erstellte Artikel abgelöst (2.). Durch die weltweite Verbreitung und den schwindenden Qualitätsunterschied zwischen Print- und WikipediaartikelnWikipediaartikel (cf. Giles 2005) kann davon ausgegangen werden, dass kollaborativ in einem WikiWiki erstellte Artikel zunehmend Modellcharakter gewinnen, wodurch die DiskurstraditionDiskurstradition EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel transformiert wird.
Angesichts der skizzierten Entwicklungen stellt sich nun die Frage, inwiefern sich EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel verändern, wenn sie nicht mehr gedruckt, sondern als Wikipediaartikel vorliegen. Des Weiteren ist zu untersuchen, ob die verschiedenen Sprachversionen der WikipediaSprachversion (der Wikipedia) jeweils dieselben trägermedialen Anpassungen aufweisen und deswegen eine Homogenisierung zu beobachten ist oder ob sich sprach- und kulturspezifische Varianten von Wikipediaartikeln herausbilden. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, in welcher fachlichen Tradition ein EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel steht und ob diese im neuen Medium erhalten bleibt.
Dass der Wechsel des TrägermediumsTrägermedium das Potential besitzt, EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel tiefgreifend zu transformieren, legen theoretische Überlegungen nahe, die diese als Diskurstraditionen konzeptualisieren (3.1.1), die sich aufgrund von historischen Ereignissen, wie beispielsweise eines MedienwandelsMedienwandel, sukzessive verändern (3.1.2). Ein Teil dieser Veränderungen kann auf der Basis bisheriger Erkenntnisse zu gedruckten Enzyklopädieartikeln und zu Wikipediaartikeln nachvollzogen werden. Zu deutschen PrintartikelnPrintartikel sind insbesondere die Studien von Hoffmann (1988), Fandrych/Thurmair (2011), Augustin (2016), zu französischen PrintartikelnPrintartikel Mochet/O’Neil (2000) und zu gedruckten italienischen Artikeln d’Achille/Proietti (2011) zu nennen, welche sich mit dem Artikelaufbau und den sprachlich-stilistischen Merkmalen beschäftigen (3.2). Wikipediaartikel der englischen Sprachausgabe werden von Emigh/Herring (2005), Baron (2008), Elia (2008) und Tereszkiewicz (2010) untersucht. Emigh/Herring (2005) vergleichen ein Korpus englischer Wikipediaartikel mit Artikeln der PrintenzyklopädieEnzyklopädie– Print-~ Columbia Encyclopedia und mit denen der OnlineenzyklopädieEnzyklopädie– Online-~ Everything 2. Dabei ergibt der Vergleich zwischen Wikipedia und der Printenzyklopädie kaum Unterschiede, während Everything 2 einen geringeren Grad an sprachlicher FormalitätFormalität aufweist. Angesichts der unterschiedlichen KommunikationsbedingungenKommunikationsbedingungen in Printenzyklopädien und Wikipedia erscheint diese Tatsache erstaunlich, wird jedoch von Emigh/Herring (2005) so erklärt, dass die WikipediarichtlinienWikipediarichtlinien restringierend wirken und somit die Anpassung an die neue mediale Umgebung verhindern. Auf dieses Ergebnis bezieht sich auch die Darstellung der Wikipedia in Baron (2008). Ebenso konstatiert Elia (2008) in ihrem Vergleich englischer WikipediaartikelWikipediaartikel mit Artikeln der Encyclopædia Britannica nur einen etwas höheren Grad an sprachlicher FormalitätFormalität in der Printenzyklopädie. Gravierendere Unterschiede ergeben sich zwischen dem distanzsprachlichenDistanzsprache Charakter der WikilanguageWikilanguage in einem Artikel und der nähesprachlichennähesprachlich WikispeakWikispeak auf der dazugehörigen DiskussionsseiteDiskussionsseite. Zu einem etwas anderen Resultat kommt Tereskiewicz (2010) in ihrem Korpus aus Wikipediaartikeln zum Buchstaben U, das ein ganzes Kontinuum an Artikeln, von traditionellen über etwas abweichende bis hin zu antienzyklopädischen Artikeln, die die InformationsfunktionInformationsfunktion nicht mehr erfüllen, beinhaltet. Im Gegensatz zum Englischen existieren für andere Sprachausgaben der Wikipedia keine größeren Studien. Artikel der deutschen Wikipedia werden in den Aufsätzen von Fandrych/Thurmair (2011) und Augustin (2016) besprochen, die zu dem Urteil kommen, dass in Wikipedia eine etwas abweichende Variante der Diskurstradition entsteht. Studien zu romanischsprachigen Wikipediaversionen liegen von Reutner (2013a, 2013b, 2014a) und d’Achille/Proietti (2011) vor. Im Gegensatz zu Untersuchungen der englischen WikipediakorporaWikipediakorpus konstatieren sie durchaus auffällige Abweichungen der Wikipediaartikel von gleichsprachigen gedruckten Artikeln, was die KommunikationssituationKommunikationssituation sowie inhaltliche und sprachliche Merkmale betrifft (3.3).
Angesichts der Tatsache, dass die Charakteristika von englischsprachigen Wikipediaartikeln bereits an größeren Korpora untersucht wurden und für die romanischsprachigen Versionen lediglich einzelne kleinere Untersuchungen zur Verfügung stehen, setzt sich die vorliegende Studie zum Ziel, die bereits beobachteten Eigenschaften romanischsprachiger Wikipediaartikel an einem größeren Korpus zu überprüfen und mögliche Unterschiede zudem durch die systematische Gegenüberstellung der Artikel nach Fach, Medium und Sprachversion zu erklären (4.1). Zu diesem Zweck wird ein Korpus aus 120 vollständigen Enzyklopädieartikeln in CQPwebCQPweb aufgebaut. Dabei wird ein Korpus mit französischen und eines mit italienischen Artikeln erstellt. Artikel aus französischen Printenzyklopädien werden deswegen analysiert, weil die Kultur Frankreichs über eine bedeutende Tradition verfügt, mit der die gedruckten italienischen Werke verglichen werden. Ein intermedialer Vergleich stellt den gedruckten Enzyklopädieartikeln die gleichnamigen Einträge aus der französischen und der italienischen Wikipedia gegenüber. Die französische Wikipedia ist zudem die größte romanischsprachige Ausgabe, was die Bedeutung von Enzyklopädien für Frankreich auch im Zeitalter des Internets unterstreicht. Pro Sprache werden Artikel aus zwei Printenzyklopädien und der jeweiligen Sprachversion der WikipediaSprachversion (der Wikipedia) ausgewählt. Zudem stammen die Artikel aus den vier Bereichen Chemie, Geografie, Medizin und Wirtschaft, wobei die Artikel pro Fach ein übergeordnetes Konzept präsentieren. Im Chemiekorpus sind deswegen nur StoffnamenEigenname– Stoffname, im Geografiekorpus Ländernamen und im Medizinkorpus Bezeichnungen für Krankheiten ausgewählt worden. Etwas heterogener ist das Wirtschaftskorpus, das Artikel enthält, die mehrere unterschiedliche Konzepte aus dem Bereich der Wirtschaft beschreiben (4.2). Die Artikel werden mit korpuslinguistischen Verfahren wie der Auszählung von TokensToken, TypesType, LemmataLemma, POS-TagsPOS-Tag, der Analyse statistisch auffälliger KeywordsKeyword und KookkurrenzenKookkurrenz und der Interpretation von KonkordanzenKonkordanz analysiert, durch die eine quantitativ informierte Interpretation linguistischer Auffälligkeiten möglich wird. Diese wird durch manuelle Auswertungen und qualitative Interpretationen ergänzt (4.4).
Die InformationsfunktionInformationsfunktion der EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel legt es nahe, zunächst inhaltliche Unterschiede herauszuarbeiten (5.). Dazu werden jeweils dreißig Artikel zu den Konzepten „chemische Substanz“, „Land“, „Krankheit“ und „wirtschaftliches Konzept“ ausgewählt. Zu einem Konzept werden die in den Artikeln behandelten Aspekte identifiziert und die Verteilung nach Medium und Sprachausgabe ausgezählt (5.1.1–5.1.4). Zudem werden Anzahl und logische Anordnung der behandelten Aspekte in den Artikeln analysiert (5.1.5). Zusätzlich zu dieser relativ globalen Inhaltsanalyse werden SchlüsselwörterSchlüsselwort statistisch erhoben (5.2) und Kulturbezügekulturspezifischer Bezug im Korpus untersucht (5.3). Als Indikatoren für Kulturbezüge fungieren länderspezifische Kapitelüberschriften, Verweise auf Frankreich oder Italien, Anspielungen auf kulturelles Wissenkulturelles Wissen und standortabhängige Formulierungen (5.3.1–5.3.4).
Die folgenden drei Kapitel legen den Schwerpunkt auf die sprachliche Formulierung der ermittelten Inhalte. In Bezug auf die Tatsache, dass EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel dazu dienen, Fachwissen an Laien zu vermitteln, wird der Grad der FachsprachlichkeitFachsprachlichkeit und der Umgang mit FachausdrückenFachausdruck in den Artikeln untersucht (6.). Der Grad der Fachsprachlichkeit wird anhand der durchschnittlichen WortlängeWortlänge analysiert, da davon ausgegangen wird, dass Ausdrücke mit zunehmender Länge einen spezifischeren Inhalt versprachlichen (6.1). Zudem wird der prozentuale Anteil fachsprachlicher TokensToken– fachsprachliches und Lemmata an der Gesamtzahl der Tokens und Lemmata im Korpus bestimmt, wobei die Einschätzung eines Items als fachsprachlich auf der Basis von MarkierungsangabenMarkierungsangabe, lexikografische in Wörterbüchern und der konkreten Verwendung des betreffenden Ausdrucks im Korpus vorgenommen wird (6.2.1). Zu den identifizierten Ausdrücken werden die semantischen Bereiche angegeben, aus denen sie stammen, und es wird eine quantitative Auswertung dieser Bereichsangaben pro Korpus vorgenommen (6.2.2). Die ermittelten fachsprachlichen Ausdrücke werden zudem hinsichtlich gelehrter Wortbildungselementegelehrtes Wortbildungselement untersucht, da diese insbesondere zum Eindruck der Fachsprachlichkeit beitragen und bei Laien möglicherweise die Lektüre erschweren. Da nicht alle Fächer gelehrte Elementegelehrtes Wortbildungselement zur Bildung ihrer TerminologieTerminologie verwenden, werden fachsprachliche AnglizismenAnglizismus untersucht (6.3.2). Zuletzt wird analysiert, in welchem Maß Strategien zum Einsatz kommen, die FachausdrückeFachausdruck erläutern, wobei zwischen Erklärungen und der Angabe alternativer Ausdrücke unterschieden wird (6.4).
Aufgrund des sprachlichen Ideals moderner Enzyklopädien, Informationen sachlich-nüchtern und neutral zu präsentieren, ist zudem herauszuarbeiten, ob die sprachlichen Formulierungen in den Artikeln neutral gehalten sind oder ob sie einem Werturteil gleichkommen (7.). Obwohl die Einschätzung, ob eine Formulierung eine Tatsache beschreibt oder ob sie ein Werturteil vornimmt, auf einer letztendlich subjektiven Interpretation basiert, wird aufgrund der Bedeutung dieses Aspekts für die Diskurstradition eine Einschätzung anhand möglichst eindeutiger Fälle vorgenommen. Dabei werden positive und negative BewertungenBewertung durch ganze Kapitelüberschriften, aber auch auf der Mikroebene durch Adjektive, Substantive und MetaphernMetapher analysiert (7.1). Zudem wird eine übertreibende Darstellung durch den Einsatz der morphologischen SuperlativformSuperlativ, aber auch auf lexikalischer Ebene durch die Verwendung von HochwertwörternHochwertwort berücksichtigt (7.2). Ein weiterer Aspekt des Konzepts von NeutralitätNeutralität, insbesondere in Wikipedia, besteht darin, keine politische Position einzunehmen. Deswegen werden Ausdrücke untersucht, die eine politische Bewertung beinhalten (7.3.1). Nicht zuletzt ist es das Ziel von Wikipedia, eine sprachliche Präsentation zu gewährleisten, die keine gesellschaftlichen Gruppen verletzt, weswegen die Orientierung der Artikel an einer politisch korrekten Darstellung untersucht wird (7.3.2). Das Verständnis einer multiplen Neutralität in Wikipedia umfasst zudem die Möglichkeit, mehrere Positionen mit Angabe von Autoritäten nebeneinanderzustellen. Diese Strategie wird in 7.4 untersucht.
Ein weiterer Aspekt der sprachlichen Analyse sind nähesprachlichenähesprachlich Merkmale und deren Häufigkeit, weil diese darüber Aufschluss geben, ob WikipediaartikelWikipediaartikel stärker als gedruckte Artikel vom Pol der DistanzsprachlichkeitDistanzsprache abrücken (8.). Auffälligkeiten werden in OrthografieOrthografie und InterpunktionInterpunktion untersucht (8.1), weil Studien zur computervermittelten Kommunikationcomputervermittelte Kommunikation darauf hinweisen, dass dieser Bereich die auffälligsten Erscheinungen beinhaltet, und Abweichungen in der Grammatik weitaus geringer sind (Stark 2015; Strätz 2011; Reinkemeyer 2013). Ergänzend werden aus dem Bereich der Syntax korpusvergleichend die SatzlängeSatzlänge, Verstöße gegen die KongruenzKongruenzschwäche, unvollständige Sätze, AnakolutheAnakoluth und DislokationenLinksdislokation untersucht (8.2). Im Bereich der Morphosyntax wird im italienischen Korpus die Häufigkeit von gehobenen Pronomina und Konjunktionen ausgewertet (8.3.1 und 8.3.2). Sprachübergreifend wird der TempusgebrauchTempusgebrauch analysiert, wobei die Häufigkeit einzelner Tempora, aber auch das Zusammenspiel der einzelnen Formen zur Erzeugung einer kohärenten Darstellung untersucht wird (8.3.3). Im Bereich der Lexik wird die lexikalische Vielfaltlexikalische Vielfalt der Korpora mithilfe von Maßen wie dem MSTTRmean-segmental type-token-ratio (MSTTR) oder dem MTLDmeasure of textual lexical diversity (MTLD) berechnet. Es wird der semantisch adäquate Einsatz von Ausdrücken überprüft und umgangssprachlicheumgangssprachlich Ausdrücke werden analysiert (8.4).
Die genannten Merkmale werden pro Korpus ausgezählt. Dabei werden zum einen die Korpora der vier gewählten Fächer gegenübergestellt, um die Verteilung der Häufigkeiten nach Fach zu analysieren. Zudem werden die Häufigkeiten pro Sprache jeweils im Print- und im Wikipediakorpus ermittelt, um intermediale Vergleiche zu ermöglichen. Die Gegenüberstellung von Frequenzen im französischen und im italienischen Korpus erlaubt den interkulturellen Vergleich der beiden Sprachkorpora.
Die Ergebnisse dieses interfachlichen, intermedialen und interkulturellen Vergleichs werden in einer Zusammenfassung präsentiert und vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen und theoretischer Annahmen reflektiert. Abschließend wird herausgestellt, inwiefern Wikipediaartikel Merkmale einer Adaptation an das neue Medium aufweisen, aber auch welche fachlichen und kulturellen Merkmale aus den Printenzyklopädien übernommen und im neuen Medium unverändert fortgesetzt werden.
2 Die Geschichte der Enzyklopädie
Mit dem ersten Grundprinzip (fr. Wikipédia est une encyclopédie/it. Wikipedia è un’enciclopedia) stellt sich Wikipedia in die Tradition der Enzyklopädien und damit in eine historische Reihe von Werken wie der Encyclopédie ou Dictionnaire des sciences, des arts et des métiers von Denis DiderotDiderot, Denis und Jean le Rond d’Alembertd’Alembert, Jean le Rond, aber auch mit der Enciclopedia delle scienze, lettere ed arti von Giovanni TreccaniTreccani, Giovanni oder der Britannica. Was auf den ersten Blick als eine kontinuierliche Geschichte der Enzyklopädie erscheint, ist eine Vorstellung, die erst seit dem 19. Jahrhundert Bestand hat und eher auf einer Rekonstruktion als auf einer historischen Tatsache beruht (cf. Henningsen 1966: 327).
2.1 Wort- und Begriffsgeschichte
Sowohl die Bezeichnung Enzyklopädie (fr. encyclopédie/it. enciclopedia) als auch die Sache selbst unterliegen dem Wandel:
„Enzyklopädie“ ist eine dem historischen Wandel unterworfene Bezeichnung für eine Sache, die selbst in der Zeit sich wandelt, wobei einerseits die Bezeichnung das Bezeichnete vorprägt und damit eine gewisse Kontinuität der „Enzyklopädie“ […] gewährleistet, andererseits durch Umstrukturierung, Erweiterung und Einschränkung des Inhalts auch die Bedeutung des Wortes beeinflußt wird (Henningsen 1966: 274).
Deswegen ist zwischen der Geschichte der Bezeichnung Enzyklopädie und der Entwicklung einer außersprachlichen Vorstellung von EnzyklopädieEnzyklopädie zu unterscheiden und das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten zu berücksichtigen.
Den Ausgangspunkt stellt die Wortgeschichte von fr. encyclopédie/it. enciclopedia dar. Anders als in einigen WörterbüchernWörterbuch angegeben, lässt sich die Bezeichnung nicht auf ein griechisches oder lateinisches Etymon zurückführen: „Ein Substantiv enkyklopaideia ist antik nicht zu belegen“ (Vogelgsang 2004: 19). Es handelt sich vielmehr um eine Neuschöpfung der Humanisten, die auf einer fehlerhaften Überlieferung beruht:
Il termine […] nasce come corruzione dell’espressione greca enkuklios paideia, che troviamo usata in alcuni autori latini (Vitruvio, Plinio il Vecchio e Quintiliano), e che viene erroneamente riprodotta come parola unica, enkukliopaideia, in qualche manoscritto rinascimentale (Picone 1994: 15f.).
Die Belegstellen in der Naturalis Historia des PliniusPlinius der Ältere und der Institutio Orationis des QuinitilianQuinitilian, Marcus Fabius zeigen, dass die Wendung enkuklios paideia ein pädagogisches Programm bezeichnet, wobei die „innere Zusammengehörigkeit des Wissenskanons“ hervorgehoben wird (Henningsen 1966: 284). Diese Bedeutung lässt sich in den griechischen Quellen jedoch noch nicht feststellen. Die frühesten Belege finden sich ab dem 4. Jahrhundert bei ZenonZenon von Kition, außerdem etwas später bei Dionysius von HalikarnassosDionysius von Halikarnassos und PlutarchPlutarch. In den griechischen Quellen ist mit enkuklios paideia jedoch keine allumfassende Bildung gemeint, sondern eine Art Grundbildung, „die ein Erwachsener benötigt, um mitreden zu können“ (Henningsen 1966: 308):
Unsere modernen Vorstellungen von „Enzyklopädie“ im Sinne von „umfassendem Wissen bzw. „umfassender“ Bildung leiten sich nicht aus der antiken enkuklios paideia her. Die enkuklios paideia umfasste ursprünglich nur einen Teilbereich der zu lehrenden und zu lernenden Gegenstände (Henningsen 1966: 308).
Erst in den römischen Quellen wird vermehrt der innere Zusammenhang des Wissens betont und in eben dieser Bedeutung wird der Ausdruck von den Humanisten rezipiert:
Da man im 16. und 17. Jahrhundert, als das neue Wort sich in Europa verbreitete, vom Altertum vornehmlich durch die Römer und die Kirchenväter Kenntnis hatte, bei diesen aber schon die charakteristische Bedeutungswandlung von „landläufiger, gewöhnlicher (Vor-)Bildung“ zum „Kreis des Wissensinsgesamts“ sich vollzogen hatte, bot sich die Möglichkeit an, „encyclopaedia“ auf dem Umweg über „orbis doctrinarum“ auch direkt auf ὲγχύχλιος παιδεία zu beziehen (Henningsen 1966: 309).
Der älteste Beleg für den Ausdruck encyclopaedia ist in einem Brief aus dem Jahre 1490 zu finden, in dem Franciscus PucciusPuccius, Franciscus dem Grammatiker PolitianPolitian zu dessen neuem Werk gratuliert und dieses als encyclopaedia bezeichnet (cf. Henningsen 1966: 283). Ab diesem Zeitpunkt verbreitet sich der Ausdruck in Europa und findet auch Eingang in die VolkssprachenVolkssprache. Der Erstbeleg im Französischen findet sich bei RabelaisRabelais, François (1537), der damit in Pantagruel 2,20 ironisierend auf ein Bildungsprogramm verweist. Etwas später tritt der Ausdruck bei Christoffe de Savignyde Savigny, Christoffe in Tableaux accomplis de tous les arts libéraux (1587) auf und referiert auf die Verbindung einzelner Künste und Wissenschaften (cf. Henningsen 1966: 286). Die frühesten Belege zeigen, dass mit encyclopédie zunächst „ein Wissensinsgesamt, dessen hervorstechendes Merkmal eine innige Verknüpfung des unter ihm Begriffenen ist“, gemeint ist und der Ausdruck erst später „ein Buch, das dieses Insgesamt zum Inhalt hat und „enzyklopädisch“ darbietet“ bezeichnet (Henningsen 1966: 303). Als einer der ersten, der encyclopaedia in einem Werktitel verwendet, gilt AlstedAlsted, Johann Heinrich, der eine umfassende Theorie der EnzyklopädieEnzyklopädie entwirft. Bekannt ist auch seine knappe Definition: „Encyclopaedia est methodica comprehensio rerum omnium in hac vita homini discendarum“ (Alsted nach Herren 2016), die in humanistischer Tradition den Zusammenhang, aber auch den Totalitätsanspruch der enzyklopädischen Bildung herausstellt.
In der Folge werden auch Werke in die Tradition der Enzyklopädie gestellt, deren Titel zwar anders lauten, deren Konzeption aber dem etablierten Enzyklopädiebegriff entspricht:
Viele als enzyklopädisch aufzufassende Texte (aus der Vormoderne) tragen nicht den Titel “Enzyklopädie”, sondern zum Beispiel “Schatzhaus”, “Goldgrube” oder “Marktplatz”. Umgekehrt können sich unter dem Titel “Enzyklopädie” ganz andere Werke verstecken (Herren 2016).
Die zeitgenössische Vorstellung von einer Enzyklopädie ist in etwa durch die folgenden Merkmale geprägt: Das Werk enthält „eine geordnete Darstellung eines jeweils für wichtig erachteten und für einen grösseren Kreis von Wissbegierigen brauchbaren Gesamtwissens“ (Schenda 2002: 21). Zudem erhebt es den Anspruch, eine umfassende Darstellung des Wissens zu bieten (Totalitätsanspruch). Dabei kann dieses Wissen aus mehreren Gebieten stammen oder es wird ein Wissensgebiet vertieft dargestellt. Die Wissensinhalte werden in spezifischer Weise angeordnet. Dabei gibt es je nach Weltanschauung verschiedene Typen der DispositionDisposition, beispielsweise die Anordnung des Wissens nach der Schöpfungsgeschichte, in einem Wissensbaum oder nach dem Dewey-Dezimalsystem (cf. Michel 2002: 40–46). Enzyklopädien werden nicht als Ganzschrift gelesen, sondern konsultiert. Dieser Lesemodus wird über eine ZugriffsstrukturZugriffsstruktur auf die Inhalte, aber auch durch Register erleichtert. Enzyklopädien beziehen zudem Informationen aus zweiter Hand und stellen dieses zusammen (KompilationKompilation). Auf diese Weise wird das gespeicherte Wissen von der Wissensproduktion abgeschnitten. Jedoch versuchen andere Typen von Enzyklopädien an die Quelle der Wissensproduktion heranzuführen und stellen Plattformen des Diskurses dar (z.B. BayleBayle, Pierre, DiderotDiderot, Denis). In der OnlineenzyklopädieEnzyklopädie– Online-~ Wikipedia sind mit dem Artikel, der eine neutrale Darstellung der Information anstrebt, dessen DiskussionsseiteDiskussionsseite und VersionsgeschichteVersionsgeschichte verknüpft, die diskursive AushandlungsprozesseAushandlungsprozess zeigen. Im Gegensatz zu Wörterbüchern geben Enzyklopädien Informationen zu Sachverhalten, nicht zu Wörtern. Die Sachinformationen in Enzyklopädien werden häufig von ParatextenParatext begleitet, die das Werk präsentieren und inszenieren (Vorrede, Frontispiz) oder dessen Erschließung erlauben (taxonomische Ordnungsangaben, Marginalien, Inhaltsverzeichnis, Register) (cf. Herren 2016). Neben der vordergründigen InformationsfunktionInformationsfunktion spielen in Enzyklopädien auch weniger offensichtliche Ziele eine Rolle. Dazu gehören die systematische Anordnung kontingenter Inhalte und die Legitimierung dieser Ordnung, das Lob auf die göttliche Ordnung, oder das Lob auf den Fortschritt durch Erkenntnis und die Ermöglichung gesellschaftlicher Konversation durch die Bereitstellung salonfähiger Themen. Zudem können Enzyklopädien unterhalten, einen Ersatz für eine fehlende Bibliothek darstellen, Gegenständen Wertschätzung verleihen, Lebensweisheiten bestätigen, die allgemeine Bildung fördern, und nicht zuletzt dienen sie Kulturen dazu, sich ihrer selbst zu vergewissern (cf. Herren 2016).