Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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Weitere Beschreibungen zur sprachlich-stilistischen Gestaltung italienischer Wikipediaartikel liegen zudem mit d’Achille/Proietti (2011) und Tavosanis (2011: 129–134) vor. In ihrer korpusbasierten Studie weisen d’Achille/Proietti (2011) auf die Vollständigkeit der Definitionssätze in den untersuchten Wikipediaartikeln hin und auf die Regel, dass das Lemma im fortlaufenden Text nicht abgekürzt wird. Zudem ist es jedoch im Italienischen möglich, dass das Subjekt nicht ausgedrückt wird (soggetto sottointeso), was dazu führen kann, dass in italienischen Artikeln, rein sprachstrukturell bedingt, die wörtliche Wiederaufnahmewörtliche Wiederaufnahme des Lemmas, die diskurstraditionell ist, in einigen Sätzen entfallen kann. Des Weiteren stellen d’Achille/Proietti einen geringeren Grad an lexikalischer Dichtelexikalische Dichte und sprachlicher FormalitätFormalität fest (cf. d’Achille/Proietti 2011: 100). In dieses Bild passen die häufigen Wortwiederholungen und „stilemi propri del parlato“ wie beispielsweise der Ausdruck tipo + X (d’Achille/Proietti 2011: 104). Im Bereich der Syntax weisen die untersuchten Wikipediaartikel ebenso wie die gedruckten Artikel keine Ausrufe- und Fragesätze auf. HervorhebungskonstruktionenHervorhebungskonstruktion treten mit geringer Frequenz auf. Vom traditionellen Stilideal der Kürze und Präzision weichen in den italienischen Wikipediaartikeln Schachtelsätze ab, die nicht immer logisch präzise konstruiert sind. Zudem finden sich auch SatzabbrücheSatzabbruch (cf. d’Achille/Proietti 2011: 103). Desgleichen ist die Reihung mehrerer Relativsätze auffällig, wobei die Relativpronomina che und il quale alternieren. Anstelle von Nebensätzen werden auch Konstruktionen mit einem participio passato oder einem gerundio eingesetzt, die kondensierend wirken. Allerdings ist ebenso festzustellen, dass anstatt von ParenthesenParenthese, wie sie in gedruckten Artikeln verwendet werden, in den Wikipediaartikeln Hypotaxen bevorzugt werden (cf. d’Achille/Proietti 2011: 106). Von der Norm abweichend sind syntaktisch uneinheitliche Aufzählungen (cf. d’Achille/Proietti 2011: 102).5 Im Bereich der Tempusformen fallen der Einsatz des futuro storico sowie eine Unsicherheit in der Aspektunterscheidung auf, was in einer unpräzisen Verwendung des imperfetto, passato prossimo und presente storico (cf. d’Achille/Proietti 2011: 102) resultiert. In der Grafie sind ein verstärkter, von der Norm abweichender, Gebrauch der Großschreibung, eine schwankende Akzentsetzung und häufige TippfehlerTippfehler zu konstatieren. Zudem setzen die italienischen Wikipediaartikel im Unterschied zu PrintartikelnPrintartikel Konnektoren ein, selbst wenn teilweise nicht gänzlich passende Ausdrücke gewählt werden (cf. d’Achille/Proietti 2011: 103). Die beobachteten Abweichungen gegenüber dem Modell der PrintartikelPrintartikel fallen im italienischen Wikipediakorpus insgesamt stärker auf als in den ausgewählten Artikeln der französischen, englischen und deutschen Sprachversion:
dai sondaggi effettuati, però, ci sembra che le voci in francese, in inglese e in tedesco risultino meno lontane dalle caratteristiche canoniche della voce enciclopedica tradizionale, sia a livello testuale, sia per l’aderenza allo standard linguistico (d’Achille/Proietti 2011: 107).
Die vorgestellten Studien zeigen insgesamt, dass WikipediaartikelWikipediaartikel in ihren sprachlich-stilistischen Merkmalen einerseits an das Modell von PrintartikelnPrintartikel anknüpfen, andererseits auch abweichende Merkmale aufweisen, die durch die Kommunikationsform WikiWiki und die darin ausgehandelten sprachlichen Praktiken bedingt sind.
Die folgenden Ergebnisse aus den vorgestellten Studien untermauern die sprachlich-stilistischen Gemeinsamkeiten zwischen Print- und Wikipediaartikeln. In deutschen Wikipediaartikeln findet Augustin (2016: 14) beispielsweise einen Verzicht auf anaphorische Pronominaanaphorisches Pronomen, wie ihn auch Hoffmann (1988: 142) für gedruckte Artikel feststellt. Dies hängt mit der Fixierung des Themas auf das Artikelstichwort zusammen, das im Artikel permanent wiederholt wird. In den italienischen Wikipediaartikeln stellen d’Achille/Proietti (2011: 100) einen Verzicht auf Frage- und Ausrufesätze fest (nicht jedoch Reutner (2013b: 243), die auf rhetorische Fragenrhetorische Frage hinweist), der ebenfalls diskurstraditionell ist und mit der InformationsfunktionInformationsfunktion einhergeht. Zudem weisen d’Achille/Proietti (2011: 100–102) auf die syntaktische Komplexitätsyntaktische Komplexität in den Wikipediaartikeln hin, die durch PartizipialkonstruktionenPartizipialkonstruktion, aber auch verschiedene Nebensatztypen erzeugt wird. In ausführlicheren Printenzyklopädien spielt dieses Merkmal ebenfalls eine Rolle, denn Fandrych/Thurmair (2011: 91) betonen, dass die Diskurstradition LexikonartikelLexikonartikel teilweise ein erhebliches sprachliches Niveau des Lesers voraussetzt.
Die sprachlich-stilistischen Unterschiede zwischen Print- und Wikipediaartikeln lassen sich auf ein vermehrtes Platzangebot zurückführen, das zu einem weniger ökonomischen Einsatz sprachlicher Mittel führt und mit dem Ziel einhergeht, die Informationen für Laien verständlich aufzubereiten. So wird in der englischen, deutschen, französischen und italienischen Sprachversion ein vollständiger Definitionssatz mit KopulaverbKopulaverb verwendet, das in den Definitionen der Printenzyklopädien zumeist ausgespart wird. Zudem wird in vielen Sprachversionen das Stichwort im fortlaufenden Text zumeist ausgeschrieben wie auch auf weitere AbkürzungenAbkürzung häufig verzichtet wird (cf. Fandrych/Thurmair 2011: 107; Reutner 2013b: 245; d’Achille/Proietti 2011: 99; Augustin 2016: 14). Den Artikeln wird sprachübergreifend ein geringerer Grad an sprachlicher Verdichtungnominale Verdichtung zugeschrieben, die in deutschen PrintartikelnPrintartikel häufig durch erweiterte Nominalphrasen erreicht wird (cf. Fandrych/Thurmair 2011: 108–111). Das größere Platzangebot führt außerdem zu einer verstärkten Explizitheit. So stellen d’Achille/Proietti (2011: 103) einen vermehrten Gebrauch von KonnektorenKonnektor fest, welche die Sinnzusammenhänge verdeutlichen, und Reutner (2013b: 244) verweist auf eine Überdeutlichkeit in der Darstellung und die häufigere Verwendung von illustrativen Beispielen. Der untersuchte französische Wikipediaartikel enthält zudem eine Reihe von subjektiv gefärbten Vermutungen und Hervorhebungen, die typisch für einen Vortragsstil sind. Ebenfalls auf das vermehrte Platzangebot, aber auch auf ein reduziertes stilistisches Bewusstsein, lassen sich die häufigen Wortwiederholungen in der italienischen SprachversionSprachversion (der Wikipedia)– italienische zurückführen (cf. Reutner 2013b: 245; d’Achille/Proietti 2011: 104).
Neben sprachlichen Merkmalen, die dem erhöhten Platzangebot geschuldet sind, lassen sich auch deutliche Abweichungen von der sprachlichen Norm erkennen, die durch die mangelnde redaktionelle Kontrolle der Artikel oft über viele Versionen hinweg bestehen bleiben. In der französischen Version stellt Reutner (2013b: 241) unvollständige Sätze fest. In der italienischen Version fallen stärker als in anderen Sprachversionen fälschliche Großschreibungen, Schwankungen in der Akzentsetzung, TippfehlerTippfehler, syntaktische Brüche, syntaktisch unzusammenhängende Aufzählungen nach Doppelpunkt und umgangssprachliche Ausdrücke auf (cf. Reutner 2014a: 695; d’Achille/Proietti 2011: 100–108). Derartige sprachliche Abweichungen ermittelt Tereszkiewicz (2010: 113) auch für ihr Set an englischen Artikeln, während weitere Studien zu englischen Wikipediaartikeln (cf. Emigh/Herring 2005: 9; Baron 2008: 124; Elia 2008: 7) keinerlei signifikante Abweichungen ergeben.
WikipediaartikelWikipediaartikel sind zudem offen für Diskursmuster aus anderen Diskurstraditionen. Reutner (2013b: 246) stellt in italienischen Artikeln narrative Muster fest, Tereszkiewicz (2010: 109) erkennt ebenfalls narrative Muster, aber auch werbende und instruierende Muster. Daraus lässt sich ableiten, dass Wikipediaartikel offensichtlich stärker zur Mischung von Diskursmustern neigen.
3.3.6 Zwischenresümee
Im Unterschied zur redaktionellen Erstellung von Artikeln in Printenzyklopädien werden WikipediaartikelWikipediaartikel kollaborativ in einem WikiWiki erstellt. Diese Technologie geht auf Ward CunninghamCunningham, Ward zurück und wurde von Larry SangerSanger, Larry und Jimmy WalesWales, Jimmy ursprünglich als kollaborative Entwicklungsplattform für traditionelle Enzyklopädieartikel verwendet, die sich jedoch aufgrund ihres Artikelwachstums schnell verselbstständigt und zur eigenständigen Enzyklopädie, nämlich der Wikipedia, entwickelt hat. Kennzeichnend für die Technologie ist die schnelle Abänderung von Artikeln, das Anlegen von VersionsgeschichteVersionsgeschichten, aber auch der Austausch über DiskussionsseitenDiskussionsseite.
Auf der Basis dieser technischen Bedingungen bilden sich kommunikative Praktiken und soziale Hierarchien im Wikipediaprojekt heraus, die sich je nach Sprachversion unterscheiden können. Je nach Position, die vom anonymen IP-Adressen-Nutzer bis zum Administrator oder Steward reichen kann, werden unterschiedliche Rechte vergeben. Die Teilnahme an Abstimmungsprozessen ist angemeldeten Nutzern vorbehalten. Durch diese Prozesse gibt sich die Gemeinschaft die DiskursregelnDiskursregel selbst, lediglich die fünf Grundprinzipien gelten als unumstößlich und sind in jeder Sprachversion gleich. Dies hat zur Folge, dass in Wikipedia nicht nur kollaborative Schreibprozessekollaboratives Schreiben zu beobachten sind (Artikelerstellung, Bearbeitung und Korrektur, Vandalismus und edit wars), sondern dass auch die Gemeinschaft selbst die Diskursregeln für die Diskurstradition Enzyklopädieartikel für alle Nutzer in Stilblättern expliziert und in Abstimmungsprozessen an das Projekt anpasst.
Die Einbettung in die Funktionalitäten der Wikisoftware und in die kommunikativen Praktiken der Wikipediagemeinschaft prägen die kommunikativen ParameterwerteParameterwert, die für Wikipediaartikel charakteristisch sind. WikipediaartikelWikipediaartikel sind öffentlich zugänglich, und die Kommunikationspartner sind sich in der Regel fremd. EmotionalitätEmotionalität wird zum größten Teil vermieden, ist jedoch punktuell nachweisbar. In der Regel liegt aufgrund der situationsunabhängigen Gültigkeit der Inhalte Handlungs- und Situationsentbindung sowie referenzielle Distanz vor. Eine Ausnahme bilden Artikel, die simultan zu einem aktuellen Ereignis entstehen und rezipiert werden, wodurch eine referenzielle Nähe in Bezug auf die Zeit gegeben ist. Bei diesen ist mit zunehmenden zeitlichen Abstand vom Ereignis eine Anpassung an die Normen des enzyklopädischen Stils festzustellen. In der Regel sind Produzent und Rezipient sowohl räumlich als auch zeitlich getrennt. WikipediaartikelWikipediaartikel entstehen im Gegensatz zu PrintartikelnPrintartikel durch intensive KooperationKooperation über die Wikisoftware, die jedoch teilweise zeitlich stark zerdehnt stattfindet. Das Resultat des Prozesses ist ein monologischer Text. Die Möglichkeit zur Abänderung lässt einen höheren Grad der SpontaneitätSpontaneität zu, und der Grad der ThemenfixierungThemenfixierung ist etwas niedriger als in PrintartikelnPrintartikel. Zudem ist in Wikipedia, anders als in einer Printenzyklopädie, nicht klar, in welchem fachlichen Verhältnis Autoren und Rezipienten zueinanderstehen, was eine Abkehr vom Expertenprinzip der Printenzyklopädie bedeutet.
Die Erstellung der Wikipediaartikel in einem WikiWiki determiniert zudem sprachübergreifend die technischen Funktionalitäten der Artikel. Ein WikipediaartikelWikipediaartikel verfügt über eine Artikelansicht, einen BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus, die Anzeige und Bearbeitung des Quelltexts, eine VersionsgeschichteVersionsgeschichte sowie über eine mit dem Artikel verknüpfte DiskussionsseiteDiskussionsseite, die sich ebenfalls in unterschiedlichen Modi darstellen lässt. Ein WikipediaartikelWikipediaartikel ist über thematische und alphabetische Suchfunktionen auffindbar und über Links oder die Einsortierung in Kategorien mit anderen Artikeln automatisch verknüpft. Neben Elementen, die auf die Wikisoftware zurückzuführen sind, weist ein WikipediaartikelWikipediaartikel den typischen Aufbau eines gedruckten Enzyklopädieartikels auf, erweitert diesen jedoch um textstrukturierende Elemente. Typische Elemente sind ein grafisch deutlich abgesetztes StichwortStichwort, eine ausformulierte Definition, ein einleitendes Resümee, ein Inhaltsverzeichnis, ein Textkörper mit einzelnen Kapiteln, Fußnoten, eine Bibliografie, Links, Einordnung in Portale und Kategorien, und ein Verweis auf die jeweilige Version. Auffällig sind ebenfalls zahlreiche Tabellen, Grafiken und Diagramme. Des Weiteren wird in WikipediaartikelnWikipediaartikel eine Vielzahl von Quellen angegeben, um die Glaubwürdigkeit der Informationen zu unterstreichen. Aufgrund der kollaborativenkollaborativ Erstellung ist die Abfolge der Themen in Wikipediaartikeln nicht immer stringent und es ergeben sich teilweise zirkuläre oder auch redundante Artikelpläne.
In sprachlich-stilistischer Hinsicht orientieren sich WikipediaartikelWikipediaartikel am Modell der PrintartikelPrintartikel, weichen jedoch in einigen Punkten von diesen ab. Gemeinsam sind Print- und Wikipediaartikeln eine thematische Progressionthematische Progression mit durchlaufendem Thema, die wörtliche Wiederholung des LemmasLemma im Artikel und der weitgehende Verzicht auf pronominale Wiederaufnahmepronominale Wiederaufnahme, ein unpersönlicherUnpersönlichkeit Stil, der beispielsweise auf Frage- und Ausrufesätze verzichtet, sowie Verfahren der sprachlichen KondensationKondensation, die häufig zu einer erheblichen syntaktischen Komplexitätsyntaktische Komplexität führen. Unterschiede ergeben sich dadurch, dass in WikipediaartikelnWikipediaartikel der KopulasatzKopulaverb ausformuliert, das Lemma stets ausgeschrieben wird, und der Artikeltext zumeist weniger sprachlich verdichtet ist, was sich unter anderem am Einsatz von KonnektorenKonnektor zeigt, die in PrintartikelnPrintartikel häufig ausgespart werden. Kennzeichnend sind darüber hinaus überdeutliche Erläuterungen sowie Wortwiederholungen. In den untersuchten französischen Artikeln fallen zudem die geäußerten Vermutungen, sowie die Hervorhebung von Informationen durch die Verfasser auf. In den italienischen Artikeln und im von Tereszkiewicz (2010) untersuchten englischen Korpus treten zudem Verstöße gegen die sprachliche Norm auf, wohingegen die von Elia (2008) und Emigh/Herring (2005) untersuchten englischen Wikipediaartikel kaum Unterschiede im FormalitätsgradFormalität zu den PrintartikelnPrintartikel zeigen. Ein Spezifikum ausgewählter Wikipediaartikel ist zudem die Mischung verschiedener DiskursmusterDiskursmuster, wobei Reutner (2013b: 246) narrative Elemente und Tereszkiewicz (2010: 110) werbende und instruierende Muster in Wikipediaartikeln ermittelt.
3.4 Print- und Wikipediaartikel im Vergleich
Die vergleichende Analyse von Print- und Wikipediaartikeln stellt Veränderungen in der Kommunikationssituation und in der sprachlich-stilistischen Gestaltung der Artikel fest. Vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts der Diskurstradition wird das Zusammenspiel dieser einzelnen Beobachtungen deutlicher. Die Kommunikationsbedingungen prägen den Artikeln ein konzeptionelles Profilkonzeptionelles Profil ein, das bei Wikipediaartikeln im Vergleich zu den gedruckten Artikeln eine Tendenz in Richtung des nähesprachlichen Pols aufweist. Dies hat wiederum Veränderungen der Artikelgestaltung zufolge. Allerdings erklären Unterschiede in der Kommunikationssituation nicht alle Unterschiede zwischen einzelnen Enzyklopädieartikeln. Die Ausprägung einzelner Merkmale wird zudem durch die fachliche Zugehörigkeit von Artikeln, aber auch durch kulturelle Traditionenkulturelle Tradition geprägt.

Print- und Wikipediaartikel (Parameterwerte nach Koch/Oesterreicher 2011: 13; Reutner 2013b: 237)
Im konkreten Fall von Print- und Wikipediaartikeln ergeben sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der KommunikationssituationKommunikationssituation, in die die sprachlichen Erzeugnisse eingebettet sind: Sowohl ein gedruckter Enzyklopädieartikel als auch ein Wikipediaartikel sind größtenteils durch die Parameterwerte der kommunikativen Distanz geprägt. Beide Typen von Artikeln werden öffentlich rezipiert, die Kommunikationspartner kennen einander in den meisten Fällen nicht. Die Inhalte der Artikel sind von der Sprechsituation losgelöst und die Gegenstände, auf die im Artikel verwiesen wird, befinden sich weder in der Nähe des Verfassers noch des Rezipienten. Zudem sind beide Artikel streng monologisch angelegt. Geringfügige Unterschiede bestehen bei den genannten Parameterwerten lediglich, wenn keine weitestgehend abgeschlossenen Artikel betrachtet werden, sondern der Entstehungsprozess von Wikipediaartikeln fokussiert wird, indem beispielsweise die anfänglichen Versionen von Artikeln analysiert werden. In einem solchen Fall ist es möglich, dass sich Verfasser und Rezipient beide über die Wikipediagemeinschaft zumindest unter einem Pseudonym kennen und den Erstellungsprozess durch kollaboratives Rezipieren und Schreibenkollaboratives Schreiben koordinieren. Dieser Umstand würde implizieren, dass in manchen Fällen trotz einer physischen Distanz eine gewisse virtuelle NäheNähe– virtuelle angenommen werden kann. Zudem können Artikel zu aktuellen Ereignissen simultan zu diesen entstehen, womit zumindest ein zeitlich naher Bezug des Textes zum Ereignis gegeben wäre. Da in Wikipedia jedoch im Normalfall ein abgeschlossener Artikel konsultiert, und nicht die Entstehung eines Artikels verfolgt wird, ist davon auszugehen, dass sich Print- und Wikipediaartikel hinsichtlich der Handlungs- und SituationsentbindungHandlungs- und Situationsentbindung sowie der referenziellen Distanz ähneln. Deutlichere Unterschiede ergeben sich beim Grad der EmotionalitätEmotionalität, der in WikipediaartikelnWikipediaartikel punktuell höher liegen kann. Aufgrund der spontanen Abänderbarkeit liegen der Grad der Reflektiertheit,Reflektiertheit sowie der Grad der ThemenfixierungThemenfixierung in Wikipediaartikeln etwas niedriger. Der markanteste Unterschied zwischen Print- und Wikipediaartikeln liegt jedoch in den intensiven KooperationsmöglichkeitenKooperation, die Wikipedia über die WikiplattformWikiplattform geradezu einfordert. An die Stelle einer expertenbasierten Enzyklopädie tritt die Weisheit der Vielen, wobei multiple Perspektiven auf das Wissen auf den Begleitseiten der Artikel verhandelt werden. Die Möglichkeit zur Kooperation rückt WikipediaartikelWikipediaartikel minimal näher an den nähesprachlichen Pol heran, selbst wenn es sich insgesamt um eine Diskurstradition handelt, die nach wie vor von den Bedingungen der DistanzkommunikationDistanzkommunikation geprägt ist.
Im Hinblick auf den Aufbau und die sprachlich-stilistische Gestaltung der Artikel lässt sich einerseits eine Orientierung am Modell gedruckter Artikel erkennen, andererseits lassen sich Innovationen finden, die auf die veränderte Kommunikationssituation zurückzuführen sind, wobei diese häufig fach- und kulturspezifisch ausgeprägt sind. Gemeinsam ist beiden Typen von Artikeln, dass ihre Kommunikationsfunktion in der Präsentation eines gesicherten Wissensstandes besteht. Der Aufbau von WikipediaartikelnWikipediaartikel orientiert sich am Modell gedruckter Artikel. Beide Typen enthalten ein grafisch hervorgehobenes StichwortStichwort, eine Definition und einen Textkörper, in dem Teilaspekte eines Themas entfaltet werden. Zudem werden Enzyklopädieartikel häufig in thematische Kategorien eingeordnet und mit Verweisen auf weitere Artikel ausgestattet. Im Hinblick auf die sprachliche Gestaltung sind beide Typen von Artikeln durch eine Progressionthematische Progression mit konstantem Thema gekennzeichnet, indem ein ständiger Bezug zum Lemma hergestellt wird. Dies geschieht durch die wörtliche Wiederholung des Lemmaswörtliche Wiederaufnahme und nicht durch PronominalisierungPronominalisierung. Zudem streben beide Typen von Artikeln einen unpersönlichen StilUnpersönlichkeit an, indem auf Pronomina der 1./2. Person, Frage- und Ausrufesätze verzichtet wird und PassivformenPassivform eingesetzt werden.
Eine Besonderheit des Aufbaus gedruckter Artikel ist, dass die analogen Verweise durch kleine Symbole gekennzeichnet sind und dass am Artikelende teilweise ein Autor genannt wird. Insbesondere in gedruckten französischen Enzyklopädieartikeln sind vermehrt textstrukturierende Elemente wie Inhaltsverzeichnisse, Einleitungen und Zusammenfassungen zu finden, wohingegen italienische, aber auch englische und deutsche Artikel eine kurze und prägnante Darstellung bevorzugen, die teilweise ohne Absätze auskommt. Darüber hinaus gibt in den abschließenden Zusammenfassungen französischer Enzyklopädien häufig ein Experte eine Einschätzung ab, was in Artikeln anderer Sprachen kaum zu finden ist. In der Definition gedruckter Artikel wird das KopulaverbKopulaverb häufig ausgespart, das Lemma wird im fortlaufenden Text in abgekürzter Form wiederholt. Häufig ist die Information in gedruckten Enzyklopädieartikeln durch Einsatz des NominalstilsNominalstil stark verdichtet. Gedruckte Enzyklopädieartikel unterliegen zudem einer strengen redaktionellen Kontrolle, weswegen kaum Verstöße gegen die sprachliche Norm in ihnen auftreten.
Die Spezifika von WikipediaartikelnWikipediaartikel liegen in den für die Wikisoftware typischen Funktionalitäten, welche die Artikelansicht, den BearbeitungsmodusBearbeitungsmodus, den Quelltext, die VersionsgeschichteVersionsgeschichte und eine DiskussionsseiteDiskussionsseite beinhalten. Diese Funktionalitäten lenken den Blick weg vom statischen Produkt des Enzyklopädieartikels hin zu seiner dynamischen Entstehung und Veränderung. Aufgrund des größeren Platzangebots, aber auch durch die Rezeption am Bildschirm weist ein WikipediaartikelWikipediaartikel mehr textstrukturierende Elemente wie ein einleitendes Resümee, ein Inhaltsverzeichnis oder Tabellen und Grafiken auf. Oft wird lediglich das einleitende Resümee rezipiert, oder Artikel werden kursorisch auf einige Schlagwörter und Daten hin gelesen. Die dynamischen Links erlauben ein schnelles Nachschlagen unbekannter Lexeme. Jeder WikipediaartikelWikipediaartikel besitzt am Ende einen Verweis auf die aktuelle Version. Zudem findet sich häufig eine umfangreiche Bibliografie, die als Nachweis für die Informationen fungiert und die Glaubwürdigkeit der OnlineenzyklopädieEnzyklopädie– Online-~ untermauern soll. In sprachlich-stilistischer Hinsicht fallen in WikipediaartikelnWikipediaartikel der ausformulierte KopulasatzKopulaverb, der Verzicht auf Abkürzung des Lemmas, Wortwiederholungen und überdeutliche Erläuterungen auf. Die Erscheinungen sind zum einen auf ein vermehrtes Platzangebot, zum anderen aber auch auf eine stärkere Leserorientierung der Artikel zurückzuführen. Insbesondere in französischen Wikipediaartikeln nutzen die Autoren Vermutungen und Hervorhebungen. In WikipediaartikelnWikipediaartikel fallen zudem Verstöße gegen die sprachliche Norm auf, wobei diese nicht in jeder Sprachversion gleich stark ausgeprägt sind. Einige englische Artikel weisen durchaus einen mit PrintartikelnPrintartikel vergleichbar hohen Grad an sprachlicher FormalitätFormalität auf, während dies beispielsweise bei italienischen Artikeln kaum der Fall ist.
3.5 Resümee
Die kollaborative Erstellung von Enzyklopädieartikeln in einem WikiWiki dynamisiert die etablierte Diskurstradition und führt dazu, dass sich WikipediaartikelWikipediaartikel sowohl in ihrem konzeptionellen Profil als auch in der Artikelgestaltung von gedruckten Artikeln unterscheiden.
Diese Prozesse sind vor dem Hintergrund des Konzepts und der Dynamik von DiskurstraditionenDiskurstradition zu sehen. Schon der Terminus Diskurstradition verweist auf die Konventionalität von Diskursen, die nicht nur eine einmalige Aktualisierung von Sprache sind, sondern sich in Traditionslinien bewegen und an Modellen orientieren. Diskurstraditionen sind von vornherein auf eine spezifische Kommunikationssituation bezogen, die anhand einer spezifischen Mischung von Parameterwerten charakterisiert werden kann. Diese Konstellation prägt das konzeptionelle Profil der Diskurstradition und determiniert somit zum Teil die Auswahl sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel in konkreten Texten. Von der Tatsache, dass in derselben Kommunikationssituation stets auf das gleiche oder zumindest ähnliche TextmusterTextmuster zurückgegriffen wird, lassen sich Konventionen ableiten, die die Gestaltung der Diskurse leiten. Allerdings ist eine Diskurstradition nicht nur durch die KommunikationssituationKommunikationssituation geprägt, sondern sie folgt zusätzlich kulturellen Konventionenkulturelle Konvention. Deswegen können Diskurstraditionen im konkreten Fall nur in kulturspezifischer Ausprägung beobachtet werden. Diskurstraditionen werden im Gegensatz zu einer Sprache nicht von einer Sprachgemeinschaft, sondern von einer Diskursgemeinschaft getragen, die auch historisch diskontinuierlich existieren kann. Die Diskursmuster sind somit häufig auch sprachübergreifend zu finden, wenn auch teilweise mit leichten Modifikationen. Diskurstraditionen stellen einen Teil einer kulturellen Tradition dar und unterliegen dem Wandeldiskurstraditioneller Wandel. Veränderungen bei Diskurstraditionen können beispielsweise auftreten, wenn sich Veränderungen im Medium ergeben, wobei hier zu unterscheiden ist, ob sich nur der Code, oder das TrägermediumTrägermedium selbst verändert. Zudem ist zu überprüfen, ob die Veränderungen im Medium auch zu Verschiebungen im konzeptionellen Profilkonzeptionelles Profil beitragen, denn lediglich in diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass sich im neuen Medium eine neue Diskurstradition entwickelt. Dieser Wandeldiskurstraditioneller Wandel findet in der Regel nicht abrupt statt, sondern kann als Anpassungsprozess an das neue Trägermedium modelliert werden. So ist davon auszugehen, dass zunächst eine sehr ähnliche Diskurstradition in einer neuen medialen Umgebung vorliegt, dann leichte Anpassungen vorgenommen werden und dass sich mit der zunehmenden Adaptation an das neue Medium und der Ausschöpfung neuer Funktionalitäten die Diskurstradition komplett vom etablierten Modell ablöst und auf diese Weise eine neue Diskurstradition entsteht.










