Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache

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2.2 Von den Anfängen bis zur Aufklärung
Schon in der römischen Antike wurden Texte verfasst, die den Inhalten und Zielen moderner Enzyklopädien nahestehen. Das Wissen wurde häufig in thematischen Kapiteln oder in ganzen Büchern präsentiert, die zumeist den Wissensgebieten aus den artes liberales gewidmet waren. Als römische Enzyklopädien gelten CatosCato, Marcus Porcius Libri ad Marcum filium, die Werke VarrosVarro, Marcus Terentius (Disciplinarum libri IX, Rerum divinarum et humanarum antiquitates, Imagines) und die Naturalis historia von PliniusPlinius der Ältere dem Älteren, welche in 37 Bänden Wissen zu ganz unterschiedlichen Gebieten wie beispielsweise Geografie, Zoologie, Botanik oder Medizin vermittelt (cf. Rey 2007: 94–99; Collison 1966: 23f.).
Im Mittelalter trat neben die artes liberales ein christliches Wissen, das verbreitet wurde. So enthalten die Institutiones des CassiodorCassiodor neben Inhalten zu den Freien Künsten Anweisungen zum Klosterleben, da das Werk der Unterrichtung von Mönchen diente und auch für die mündliche Instruktion geeignet war. Ebenso wird in den Etymologiae (lat. Origines) des Isidor von SevillaIsidor von Sevilla antikes und christliches Wissen vermittelt, indem der ‚wahre‘ Sinn ausgewählter Wörter erläutert wird, der einen tieferen Einblick in die Natur der Dinge gewährt. Ebenfalls zu erwähnen ist De naturis rerum von Hrabanus MaurusHrabanus Maurus (9. Jh.), ein Werk, das enzyklopädisches Wissen in 22 Büchern enthält, darunter viele kompilierte Abhandlungen früherer Autoren. Für Klosterschüler ist auch das Didascalion (1127) von Hugo von Sankt-ViktorHugo von Sankt-Viktor gedacht, das Informationen zu den Sieben Freien Künsten, aber auch zu sieben mechanischen Künsten enthält und damit letztere in den Kanon des Wissenswerten aufnimmt. Die wohl bekannteste Enzyklopädie des Mittelalters ist der Speculum Maius von Vinzenz von BeauvaisVinzenz von Beauvais (1240–1260), der in den vier Teilen Speculum naturale, Speculum doctrinale, Speculum morale und Speculum historiale Wissen zu den genannten Gebieten bereitstellt (cf. Collison 1966: 60–62).
Die Enzyklopädien des Mittelalters sind zumeist für Geistliche und Gelehrte auf Latein verfasst. Mit dieser Tradition brach Brunetto LatiniLatini, Brunetto, der die erste volkssprachlichevolkssprachlich Enzyklopädie, Li livres dou Trésor (1260–1266) im Exil auf AltfranzösischAltfranzösisch erstellte (cf. Reutner/Schwarze 2011: 65; Rey 2007: 125; Collison 1966: 64f.). Das Werk war für das aufstrebende Bürgertum in Italien gedacht:
Latini wanted to reach the Italian cultured classes: he therefore used French, their common language, as his vehicle (Collison 1966: 64).
Das Werk enthält ein säkulares Wissen, das sich aus antiken Quellen wie Cicero und Seneca speist, und die Bereiche Philosophie, Politik und Wirtschaft abdeckt. Der dritte Teil, der Anweisungen für das gute Regieren enthält, nimmt bereits die politischen Konzepte der italienischen Renaissance vorweg (cf. Collison 1966: 64; Rey 2007: 126). Eine kürzere Darstellung enzyklopädischen Wissens findet sich im Lehrgedicht Il Tesoretto, das auf ToskanischToskanisch verfasst ist (cf. Reutner/Schwarze 2011: 65). Neben diesen ersten Versuchen enzyklopädischer Werke in der VolksspracheVolkssprache bestanden jedoch noch lange Werke auf LateinLatein wie etwa die Enzyklopädie Fons memorabilium universi (1444–1448) des italienischen Humanisten Domenico BandiniBandini, Domenico.1 Ebenfalls auf Latein erschien das Dictionarium historicum, geographicum et poeticum (1553) von Charles EstienneEstienne, Charles, das Erläuterungen zu Eigennamen enthält und von Collison als „the first indigenous French encyclopedia“ (Collison 1966: 79) eingestuft wird. Das Adjektiv French bezieht sich hier jedoch lediglich auf die inhaltliche Ausrichtung der Enzyklopädie, während andere Werke übersetzt wurden:
But for encyclopaedias in their own language, the French were still relying – in Estiennes time – on translations of the encyclopaedias of other nations, such as Les diverses leçons de Pierre Messie, contenans de variables histoires et autres choses mémorables, mises en françoys par Cl. Gouget (Collison 1966: 79).
Diese ÜbersetzungÜbersetzung basiert auf dem Werk des spanischen Historikers Pedro MexíaMexía, Pedro, das allerdings von mittelmäßiger Qualität ist. Ebenso handelt es sich bei Domenico DelfinosDelfino, Domenico Sommario di tutte le scientie (Venedig 1556) um ein Plagiat von Alfonso de la Torresde la Torre, Alfonso Visión deleitable (1435) (cf. Collison 1966: 79). Selbst wenn zur Zeit EstiennesEstienne, Charles noch keine eigenständigen volkssprachlichenvolkssprachlich Enzyklopädien verfügbar waren, so zeigt sich an wissenschaftlichen Abhandlungen, dass die VolksspracheVolkssprache immer weiter in die Domäne wissensvermittelnder Texte vordringt. Zu nennen sind hier der Thrésor de l’histoire des langues (1613) von Claude DuretDuret, Claude, das Praedium rusticum von Charles EstienneEstienne, Charles (1554), oder das Théâtre d’agriculture (1600) von Olivier de Serresde Serres, Olivier. Zudem wurden Sammlungen von FachterminiTerminus erstellt wie die Historia stirpium von Leonhart FuchsFuchs, Leonhart (1542), in deren französischer Fassung sich lateinischelateinisch Fachtermini in theoretischen Wissensgebieten und französische Bezeichnungen in angewandten Gebieten abwechseln. Diese Auflistungen von Fachtermini, aber auch von Eigennamen prägten das 16. Jahrhundert:
Si l’encyclopédisme global sous forme de grands ouvrages didactiques est absent au XVIe siècle, il n’en va pas de même pour la description des savoirs et usages spéciaux et des nomenclatures scientifiques, qui vont donner naissance à la notion plus récente de « terminologie » – d’abord sous forme de « nomenclature » –, ainsi que pour le répertoriage des noms propres et la bibliographie (Rey 2007: 162).
Im 17. Jahrhundert setzte sich das alphabetische Eigennamenlexikonalphabetisches Eigennamenlexikon vollständig durch und genoss große Popularität:
Mais les succès de ce temps furent surtout des dictionnaires de noms propres, réunissant alphabétiquement, sans angoisses classificatoires (Rey 2007: 171).
Neben Werken, welche die traditionelle DispositionDisposition enthalten, traten über den Weg des EigennamenlexikonsEigennamenlexikon im französischen Sprachgebiet Werke mit enzyklopädischen InformationenInformation– enzyklopädische in stichwortförmiger Anordnung auf. Zu nennen ist hier das Dictionnaire theologique, historique, poetique, cosmographique et chronologique (1627) von Daniel de Juigné Broissièrede Juigné Broissière, Daniel, das in alphabetischer Reihenfolge EigennamenEigenname von Orten oder auch Personen enthält und zu diesen ausschließlich enzyklopädische InformationenInformation– enzyklopädische liefert. Das Werk ist eine Übertragung des Dictionarium historicum, geographicum ac poeticum (1553) von Charles EstienneEstienne, Charles ins Französische, die später von Louis MorériMoréri, Louis im Vorwort von dessen Lexikon aufgrund der Unselbstständigkeit kritisiert wurde. Ebenfalls in Verbindung mit Eigennamen wird die enzyklopädische Information in La bibliothèque universelle (1649) von Paul Boyer präsentiert. Dabei handelt es sich um ein rückläufiges WörterbuchWörterbuch– rückläufiges, das zunächst Wörter und in einer eigenen Sektion Eigennamen mit den genannten Endungen präsentiert und dazu enzyklopädische Informationen gibt. Im 17. Jahrhundert traten auch italienischsprachige Enzyklopädien mit einer alphabetischen Anordnung der StichwörterStichwort auf, wie das Teatro de gl’inventori di tutte le cose (1603) von Bruno Vincenzo,Vincenzo, Bruno oder das Convito morale per gli etici, economici, e politici (1639), selbst wenn sich im Italienischen die Bezeichnung dizionariodizionario erst ab dem 18. Jahrhundert für solche Werke durchsetzte.
In der französischsprachigen Enzyklopädielandschaft zeichnete sich im 17. Jahrhundert eine Entwicklungslinie anhand dreier Enzyklopädien ab, die Merkmale der Grande Encyclopédie aus dem 18. Jahrhundert vorwegnehmen: Es handelt sich um Le Grand dictionnaire historique, ou le mélange curieux de l’histoire sacrée et profane von Louis MorériMoréri, Louis (1674), das Dictionnaire universel von Antoine FuretièreFuretière, Antoine (1694) und das Dictionnaire historique et critique von Pierre BayleBayle, Pierre (1697) (cf. Rey 2007: 172). Den Anfang bildet MorérisMoréri, Louis EigennamenlexikonEigennamenlexikon, dessen historische und biografische Einträge die Tradition enzyklopädischer Informationen in Lexikonform mitbegründen:
premier dictionnaire de noms propres de conception moderne, joignant biographies et descriptions géographiques ou textuelles […] arrangés alphabétiquement (Rey 2007: 172).
Jedoch übernahm MorériMoréri, Louis Material aus früheren Quellen, was später die Kritik BaylesBayle, Pierre hervorrief. Ein weiterer Wegbereiter der Grande Encyclopédie war Antoine FuretièresFuretière, Antoine Dictionnaire universel, ein enzyklopädisches Wörterbuchenzyklopädisches Wörterbuch, das anders als das Dictionnaire de l’Académie (1694) den FachwortschatzFachwortschatz der damaligen Zeit berücksichtigte und zu diesem enzyklopädische Informationen bereitstellte:
[il] inaugure dans un dictionnaire strictement alphabétique les développements factuels, les références textuelles récentes, les discussions sur la valeur des informations scientifiques qui vont renouveler le discours de l’encyclopédie (Rey 2007: 173).
Allerdings ist FuretièresFuretière, Antoine Werk zum Großteil darauf bedacht, eine verlässliche Synopse relativ unstrittiger Fakten zu geben:
On the whole, Furetières approach to scientific matters is to avoid controversial interpretations and instead to provide a synopsis of the subject matter in usually no more than five or six lines in length (Ross 1981: 61).
Die Wende von der neutralen Faktensammlung hin zu einer kritischen Darstellung wurde durch Pierre BaylesBayle, Pierre Dictionnaire historique et critique eingeleitet, das ursprünglich als Verbesserung von MorérisMoréri, Louis LexikonLexikon gedacht war, sich aber nach und nach zu einem eigenständigen Werk entwickelte:
Bayle fait entrer la critique textuelle, inaugurée au XVIe siècle par l’humanisme, dans le projet encyclopédique, en attendant que Diderot et d’Alembert y fassent entrer la polémique, mais aussi l’observation et l’esprit scientifique (Rey 2007: 173).
BaylesBayle, Pierre EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel enthalten zwei Typen von VerweisenVerweis: Kleinbuchstaben zeigen bibliografische Referenzen zum Artikeltext an, Großbuchstaben verweisen auf den kritischen Kommentar, der sich in kleinerer Schriftart etwas abgesetzt unterhalb des Artikels befindet. Dieser Kommentar enthält wiederum Verweise in arabischen Ziffern auf die im Kommentar verwendeten Quellen. Die kritische Methode BaylesBayle, Pierre erstreckt sich somit auf drei Ebenen, nämlich auf das Belegen des Artikelinhalts mithilfe von Quellen, die Reflexion der Fakten in einem kritischen Kommentar und die Absicherung der Positionen in diesem Kommentar durch weitere Quellen. In etwas vereinfachter Form findet die kritische Methode auch in der Grande Encyclopédie Anwendung. MorérisMoréri, Louis Aufnahme von enzyklopädischen Inhalten, FuretièresFuretière, Antoine Erweiterung dieses Wissens um Informationen aus den aufkommenden Naturwissenschaften und BaylesBayle, Pierre kritische Methode bereiteten den Weg für die Grande Encyclopédie und stellten in ihrer Innovativität zeitgenössische Werke wie das Dictionnaire général et curieux (1685) von César de Rochefortde Rochefort, César oder das Dictionnaire des arts et des sciences von Thomas CorneilleCorneille, Thomas in den Schatten.
In der Tradition von MorériMoréri, Louis, FuretièreFuretière, Antoine und BayleBayle, Pierre steht auch die erste, jedoch unvollständige, italienische Enzyklopädie, die Biblioteca universale sacro-profana, antico romana (1701–1717) von Vincenzo CoronelliCoronelli, Vincenzo, die für die kulturelle Erneuerung des Franziskaner-Minoriten-Ordens konzipiert wurde, dessen Vorstand CoronelliCoronelli, Vincenzo war (cf. Barzazi 1996: 61). Die französischen LexikaLexikon dienten als Quellen für die KompilationKompilation, wie auf dem zweiten Frontispiz erklärt wird:
presentare inoltre notizie ed « erudizioni » contenute nel dizionario storico di Moréri e in quello geografico del Baudrand, « confrontati » rispettivamente con le « critiche » del Bayle (Barzazi 1996: 71).
Jedem Band ist ein Index vorangestellt, der die LemmataLemma des Bandes enthält. Die Artikel behandeln nicht nur Themen aus der Religion, sondern berücksichtigen auch die Wissenschaften:
Non poche pagine erano infatti riservate alla medicina. In una voce generale, « Anatomia », Coronelli ripresentava in otto colonne l’immagine del corpo umano della vecchia medicina galenica e umorale, inserendo però alla fine una bibliografia in cui figuravano i maggiori rappresentanti della tradizione sperimentale italiana e straniera (Barzazi 1996: 74).
Trotz seiner innovativen Züge gerät das Werk schnell in Vergessenheit und wird von den Nachfolgern lediglich sporadisch erwähnt (cf. Barzazi 1996: 83).
2.3 Aufklärung
Mit der Aufklärung brach ein Zeitalter an, in dem sowohl der antike als auch der christliche Kanon des Wissens hinterfragt und über die Voraussetzungen von Erkenntnis reflektiert wurde:
Les théories du signe de la philosophie anglo-saxonne en général, de BaconBacon, Francis à Locke en passant par Hobbes et, tout autrement, par Berkeley, élaborent une critique de la connaissance qui sera utile aux encyclopédistes de l’avenir (Rey 2007: 175).
Der Anspruch, Wissen nach erkenntnistheoretischen Prinzipien zu inventarisieren, spiegelt sich auch in den Enzyklopädien der Aufklärung wider. Als Pionier eines solchen Versuchs gilt Francis BaconBacon, Francis, der, als Teil seines Werkes The great instauration, eine Enzyklopädie mit dem Titel The Phenomena of the Universe, or a Natural and Experimental History for the Foundation of Philosophy plante (cf. Collison 1966: 82). Das enthaltene Wissen sollte in die drei Bereiche External Nature, Man und Man’s Action on Nature gegliedert werden. Obwohl Bacons Werk unvollendet blieb, übte es einen maßgeblichen Einfluss auf die nachfolgenden Enzyklopädien aus:
from that time on, all encyclopaedists took good care that their own efforts should be equally comprehensive and well-planned (Collison 1966: 84).
Unter Berufung auf BaconBacon, Francis stellte auch Ephraim ChambersChambers, Ephraim seiner Cyclopaedia, or an Universal Dictionary of Arts and Sciences (1728) einen Baum des Wissens voran: „Knowledge, is either Natural and scientifical […] or artificial and technical” (Chambers 1728: ii). Erklärt wird die Grundunterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft wiederum mit den Operationen des Geistes:
The Distribution we have made of Knowledge is founded on this, that the several Branches thereof commence with either Art or Science according to the Agency or Non-agency of the human mind in respect thereof (Chambers 1728: iv).
Diese Vorgehensweise wirkte modellbildend für die nachfolgenden Enzyklopädien und verbreitete sich auch dadurch, dass ÜbersetzungenÜbersetzung der Cyclopaedia ins Französische und ins Italienische geplant wurden (cf. Farinella 1996: 100). So ist die italienische Übersetzung Ciclopedia ovvero dizionario universale delle arti e delle scienze (1747) von Giuseppe de Borisde Boris, Giuseppe neben weiteren Versionen als durchaus bedeutend für die Geschichte der Enzyklopädie in Italien einzuschätzen (cf. Farinella 1996: 101; Schafroth 2012: 408f.).
In etwa zeitgleich entstand das Nuovo Dizionario scientifico e curioso von Gianfrancesco PivatiPivati, Gianfrancesco (1746–1751), das in seinen Notizie preliminari ebenfalls erkenntnistheoretische Reflexionen beinhaltet, die allerdings als zunehmender Erkenntnisprozess nach der Vertreibung aus dem Paradies im Rahmen der Schöpfungsgeschichte dargestellt werden. Ebenso wie BaconBacon, Francis und ChambersChambers, Ephraim unterscheidet PivatiPivati, Gianfrancesco Wissenschaften und Künste und setzt sie zu den drei Erkenntnismöglichkeiten in Beziehung:
dalla cognizione fattane, conosciuta che abbia rem per causam, forma la Scienza; della quale poi, per porre in pratica ciò che ha appreso colla specolazione, ne nasce l’Arte esecutrice delle idee concepite dall’anima illuminata. Ecco in tal guisa messe in opera tutte tre le potenze dell’anima stessa: L’Intelletto nel pensare, la Memoria nel richiamare le altre specie simili o analoghe, e la Volontà nel determinarsi a far sì che il corpo col suo materiale eseguisca (Pivati 1746–1751: ii).
Die Tatsache, dass bei PivatiPivati, Gianfrancesco das aufklärerische Gedankengut in die biblische Schöpfungsgeschichte eingebettet wird, die Theologie an erster Stelle steht, und auch die Illustrationen die Bedeutung religiöser Zeremonien betonen, stellt eine Adaptation an die italienischen Verhältnisse dar. Diese waren durch die Dominanz der katholischen Kirche geprägt und PivatisPivati, Gianfrancesco Werk wirkt vor diesem Hintergrund geradezu liberal (cf. Infelise 1996: 170; Garofalo 1981: 198f.).
In etwa zeitgleich zu den italienischen ÜbersetzungenÜbersetzung der Cyclopaedia und zu PivatisPivati, Gianfrancesco Werk entstand in Frankreich DiderotsDiderot, Denis und d’Alembertsd’Alembert, Jean le Rond Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1772), die zunächst als Übersetzung von ChambersChambers, Ephraim Cyclopaedia gedacht war, sich dann jedoch schnell zu einem eigenen Werk entwickelte (cf. Rey 2007: 186). Schon der Titel verweist auf die zweifache Funktion des Werks, die im Discours préliminaire erläutert wird:
L’ouvrage dont nous donnons aujourd’hui le premier volume, a deux objets: comme Encyclopédie, il doit exposer, autant qu’il est possible, l’ordre & l’enchaînement des connaissances humaines: comme Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts & des Métiers, il doit contenir sur chaque science & sur chaque art, soit libéral, soit mécanique, les principes généraux qui en sont la base, & les détails les plus essentiels qui en font le corps et la substance (Diderot/d’Alembert 1751–1780: i).
In Anlehnung an ChambersChambers, Ephraim wurde dem Werk ein Baum des Wissens vorangestellt, wobei die Möglichkeiten der Erkenntnis über das Gedächtnis, die Vernunft und die Vorstellungskraft die Basisklassifikation der Wissenschaften in Geschichte, Philosophie und Poesie bedingen:
Les Êtres physiques agissent sur les sens. Les impressions de ces êtres en excitent les perceptions dans l’Entendement. L’Entendement ne s’occupe de ses perceptions que de trois façons, selon les trois facultés principales, la Mémoire, la Raison, l’Imagination. Ou L’Entendement fait un dénombrement pur & simple de ses perceptions par la Mémoire; ou il les examine, les compare, & les digère par la Raison; ou il se plaît à les imiter & à les contrefaire par l’Imagination. D’où résulte une distribution générale de la Connaissance humaine, qui paroît assez bien fondée, en Histoire, qui se rapporte à la Mémoire; en Philosophie, qui émane de la Raison; & en Poésie qui naît de l’Imagination (Diderot/d’Alembert 1751–1780: xc).
Jeder Artikel soll nun in diesem System verortet werden und die Bezüge zwischen den einzelnen Einträgen sollen durch QuerverweiseVerweis hergestellt werden:
Ainsi trois choses forment l’ordre encyclopédique; le nom de la Science à laquelle l’article appartient; le rang de cette Science dans l’Arbre, la liaison de l’article avec d’autres dans la même Science ou dans une Science différente; liaison indiquée par les renvois; ou facile à sentir au moyen des termes techniques expliqués suivant leur ordre alphabétique (Diderot/d’Alembert 1751–1780: xxxvj).
Jedoch ist die Encyclopédie weit davon entfernt, eine einfache Darstellung von Sachwissen zu liefern. Hatte BayleBayle, Pierre in seinem Werk schon die kritische Methode verwendet, so wurde diese in der Encyclopédie ebenso genutzt:
On s’est attaché autant qu’il a été possible, à éviter cet inconvénient, en citant dans le corps même des articles les Auteurs sur le témoignage desquels on s’est appuyé; rapportant leur propre texte quand il est nécessaire; comparant par-tout les opinions; balançant les raisons; proposant des moyens de douter ou de sortir de doute; décidant même quelquefois (Diderot/d’Alembert 1751–1780: lxiv).
Die Einträge in der Encyclopédie sind insgesamt äußerst heterogen, was auf das ExpertenprinzipExpertenprinzip zurückzuführen und auch beabsichtigt ist:
Les différentes mains que nous avons employées ont apposé à chaque article comme le sceau de leur style particulier, ainsi que celui du style propre à la matière & à l’objet d’une Partie. Un procédé de Chymie ne sera point du même ton que la description des bains & des théâtres anciens; ni la manœuvre d’un Serrurier exposée comme les recherches d’un Théologien sur un point de dogme ou de discipline. Chaque chose a son coloris, & ce serait confondre les genres que de les réduire à une certaine uniformité (Diderot/d’Alembert 1751–1780: xxxvj).
Jedoch ist auch die Qualität sehr schwankend. Während einige Einträge Meisterstücke philosophischer Abhandlungen sind, sind andere weniger eloquent bis fehlerhaft. Teilweise existieren zwei Einträge zum gleichen StichwortStichwort. Bemerkenswert in der Encyclopédie ist jedoch die Darstellung zeitgenössischer Technologien, die teilweise auf empirischer Beobachtung beruht und zu sehr realitätsgetreuen Abbildungen von Maschinen führt:
Pour Diderot, la partie la plus importante et la plus forte de l’ouvrage était sans aucun doute la « description des arts », la technologie. Ce domaine est en fait l’acte de naissance de la terminologie moderne, et, si le technologue historien peut y déceler des insuffisances, les questions de méthode et de « langage » y sont admirablement posées (Rey 2007: 192).
In der Nachfolge der Encyclopédie entstanden unter dem Verleger Charles PanckouckePanckoucke, Charles sieben Ergänzungsbände (Suppléments). Außerdem wurden Folgewerke publiziert, die insbesondere im französischsprachigen Raum bis 1780 stark von der Encyclopédie beeinflusst waren (cf. Kafker 1994: 398). Von 1770–1780 veröffentlichte Fortunato Bartolomeo de Felice die Encyclopédie d’Yverdon. PanckouckePanckoucke, Charles nahm die Gesamtheit der Artikel aus der Encyclopédie wieder auf und publizierte sie in den thematischen Bänden der Encyclopédie méthodique (ab 1788). Mit dem Erscheinen der Encyclopédie und der Encyclopédie méthodique war einerseits der Höhepunkt, andererseits jedoch auch ein Endpunkt der Enzyklopädien der Aufklärung erreicht:
L’Encyclopédie et l’Encyclopédie méthodique marquent la fin d’une époque, alors que les débuts de la Britannica ou le Conversations-Lexikon allemand inaugurent les conceptions plus pragmatiques, moins inspirées, plus « reproductrices », que l’édition moderne continue d’appliquer, à de rares exceptions près (Rey 2007: 193).
Nach 1780 schwächte sich der modellbildende Einfluss der Encyclopédie ab (cf. Kafker 1994: 398). Lediglich die Bezeichnung encyclopédie für ein Referenzwerk, die Größe, in manchen Fällen die Rekrutierung von Experten oder der Zugriff über einen Index wurden tradiert. Die kritisch-polemische Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Ziel, diese zu transformieren wurde von den Nachfolgern nicht weiterverfolgt (cf. Kafker 1994: 395).
2.4 Bürgerliches Zeitalter
An die Stelle des Modells der Encyclopédie trat das KonversationslexikonKonversationslexikon, das maßgeblich durch die Werke aus dem Hause Brockhaus geprägt wurde. Ab 1809 erschien die erste Auflage unter dem Titel Konversations-Lexikon oder kurzgefasstes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit. Im Gegensatz zur Encyclopédie, in der gesellschaftskritisch das präsentierte Wissen hinterfragt wurde, liegt das Ziel des Konversationslexikons darin, knapp, präzise und neutral Wissen zu vermitteln, das für eine breite Bevölkerungsschicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs ermöglicht: