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Bei den Redakteuren holte man den erforderlichen Nachwuchs aus der Provinz, so wie diesen Bauerntölpel Volker Ratzmann, der gerade hereinstürmte, schwitzend, die zerknitterten Papierbögen schwenkend und einen Geruch nach Ziegenstall verbreitend. Unwillkürlich bekam Hildegund eine Gänsehaut. Der Kerl wagte es wahrhaftig, ihr seine feuchte Flosse vertraulich auf die Schulter zu legen und sich über sie zu beugen, als wolle er ihr in den Ausschnitt gucken. Doch da hatte er bei ihr kein Glück. Sie hatte sich angewöhnt, selbst an warmen Tagen auf ein Dekolleté oder ähnlich Aufreizendes zu verzichten.
Hildegund schüttelte Ratzmanns schweißige Pfote ab und maß ihn mit einem Blick, der ihn zurückweichen ließ. Was für ein armseliger Trottel! Mit seiner ungebärdigen Haarmähne, dem durchgeschwitzten Hemd und der fleckigen Hose sah er aus wie ein verkleideter Orang-Utan. Noch dazu trug der Riesenkerl tatsächlich Igelitlatschen! Ihre eigenen Schuhe waren allerdings auch nicht besonders modisch. Hier im Haus verzichtete sie besser auf die von Wölfchen geschenkten, denen man die Herkunft ansah. Es gab Leute, die auf so etwas achteten und es meldeten.
«Stell dich nicht so prüde an, Mädchen!», polterte Ratzmann. «Jetzt hauen wir dieser miesen Frontstadtbagage mal richtig auf den Kopp!»
Dementsprechend fiel sein wirres Pamphlet aus. Hildegund war sicher, dass selbst der Chef, der jeden Beitrag vor der Aufnahme abzeichnen musste, seine helle Freude an Ratzmanns plumpen Formulierungen haben würde. Das sollte eigentlich nicht ihre Sorge sein. Die Änderungen des Manuskripts beschäftigte sie jedoch in den nächsten Stunden noch zweimal.
Ratzmann schien sich an diesem Tag gegen sie verschworen zu haben. Als Hildegund zum Feierabend endlich hinunter in die Halle eilte, schob er seine unübersehbare Gestalt gerade durch die Ausgangskontrolle, gefolgt von Sigmar Hünicke, dem schmächtigen Kerlchen mit der großen Klappe. Der hatte zu allem und jedem etwas Dämliches anzumerken. Oft war das ganz lustig, doch auf die Dauer ging Hildegund der bissige Ton auf den Geist. Zumindest war Hünicke nicht so unsympathisch wie der ungeschliffene Schnösel Ratzmann, der jetzt neben ihm in Richtung S-Bahn herstakte. Von hinten wirkten die beiden wie das dänische Filmkomikerpaar Pat und Patachon.
Innerlich verfluchte Hildegund die beiden. Sie nahmen sich alle Zeit der Welt und trödelten herum. Hildegund wollte sie auf keinen Fall überholen. Das hätte allemal ein Gespräch provoziert, und dem wollte sie unbedingt entgehen. Es genügte ihr, die Kerle den ganzen Tag auf der Arbeit erdulden zu müssen, wenigstens die Heimfahrt wollte sie in Ruhe genießen. Sie hatte immer ein Buch bei sich. Manchmal fand sich sogar ein Sitzplatz.
Die BVG war gespalten. Omnibus, U- und Straßenbahn verlangten Westgeld. Deshalb fuhren die Rundfunkmitarbeiter mit der S-Bahn, die dem Osten unterstand. Es sei denn, sie saßen weit genug oben und verfügten über einen Dienstwagen. Normalerweise durften Autos mit Ost-Berliner Nummer nicht in den Westen, aber das galt nicht für den Funk.
Pat und Patachon näherten sich der Kreuzung am Messedamm und machten Anstalten, zum Bahnhof Westkreuz abzubiegen. Wahrscheinlich wollten sie auf schnellstem Wege in die Innenstadt, um im Osten endlich etwas trinken zu gehen. Eigentlich war das auch Hildegunds Richtung. Notfalls konnte sie jedoch von Witzleben aus mit dem Nordring fahren und an der Stalinallee in die U-Bahn umsteigen. Nahe der Samariterstraße gab es ein Konsum-Kaufhaus, in dem es sich vielleicht lohnte, vor Pfingsten nach einem brauchbaren Kleidungsstück Ausschau zu halten. Noch war ihre Punktkarte nicht leer. Immer nur auf Wölfchens Geschenke angewiesen zu sein behagte ihr nicht. Außerdem besaß er einen leicht ausgefallenen Geschmack. Was er ihr mitbrachte, war meistens viel zu auffällig für die tägliche Arbeit in einem Ost-Berliner Staatsunternehmen.
Oder sollte sie die Gelegenheit nutzen, Wölfchen mit einem Besuch zu überraschen? Diese Idee trug sie schon seit längerer Zeit mit sich herum. Weshalb sollte sie immer warten, bis er sich meldete? Bis zur Damaschkestraße brauchte sie keine Viertelstunde.
Hildegund war gerade dabei, den Messedamm zu überqueren, als sich plötzlich ein dunkler Pkw in so scharfem Tempo näherte, dass sie erschrocken zurücksprang und prompt im Rinnstein stolperte. Sie fiel auf Knie und Hände, hielt aber ihre Handtasche krampfhaft umklammert. Die Strümpfe waren hin, so viel war gewiss. Unwillkürlich kamen ihr vor Wut und Schmerz die Tränen.
Als sie sich aufrappelte, wuselten zwei Männer um sie herum, die scheinbar besorgt an ihrer Kleidung herumklopften und beruhigend auf sie einsprachen. Der dunkle Wagen, der scharf gebremst hatte, stand genau an der Stelle, von der sie eine halbe Minute zuvor zurückgesprungen war.
«Kommen Sie, wir fahren Sie ins nächste Krankenhaus!», sagte der breitschultrige Mann, dessen Hand sie vergeblich von ihrem Arm zu streifen versuchte, während der andere, ein kleiner Kerl mit einem Menjoubärtchen in der Gaunervisage, einladend die Wagentür aufhielt.
Hildegund protestierte. «Was wollen Sie von mir? Mir ist nichts passiert!»
Der Griff um ihren Oberarm wurde fester. «Das wird sich noch herausstellen. Wir fahren Sie, wohin Sie wollen.»
«Ich will nirgendwohin!» Hildegund funkelte den kompakten Kerl mit dem bleichen Gesicht an und blickte sich hilfesuchend um. Ein paar Leute blieben stehen. «Und schon gar nicht mit Ihnen!», schrie Hildegund jetzt fast, worauf der mit dem Bärtchen zu erklären versuchte, die junge Frau habe sich verletzt und bedürfe dringend medizinischer Hilfe.
«Hilfe!», nahm Hildegund das Wort auf. «Hilfe!», rief sie ganz laut. «Ich bin nicht verletzt!»
Irgendwer sprach aus, was in der Luft zu liegen schien: «Menschenraub!», worauf der Breitschultrige rot anlief und blökte: «Machen Sie sich nicht lächerlich! Die Frau muss dringend ins Krankenhaus!»
Das Nächste, was Hildegund wahrnahm, waren ein dumpfes Türklappen und der anschließende Schmerzensschrei des Menjoumännchens. Sie drehte sich um. Grinsend stand Sigmar Hünicke neben dem Wagen und blickte unschuldig durch seine Brillengläser. Er hatte die Autotür zugeschlagen und dem Kerl dabei die Finger eingeklemmt. Plötzlich lockerte sich auch der Griff um ihren Arm. Eine vertraute Stimme sagte: «Lass das Mädel los, oder ich polier dir deine schäbige Agentenfresse!»
Ausgerechnet Ratzmann! Den schickte ihr in diesem Augenblick der Himmel. Der von dem Redakteur so höflich Titulierte wandte sich dem unerwarteten Widersacher zu, der ihn um einen halben Kopf überragte. Ratzmann verlieh seinen Worten mit einem kräftigen Faustschlag Nachdruck, traf jedoch nur die Schulter seines Gegners. Immerhin ließ der massige Kerl endlich Hildegunds Arm los – und wollte sich auf Ratzmann stürzen. Hildegund schaffte es gerade noch, ihm einen heftigen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Manchmal war es doch gut, derbes Schuhwerk zu tragen. Der Schmerz ließ den Mann den Kopf senken, was Ratzmann Gelegenheit zu einem weitausgeholten Haken bot. Sein Gegner taumelte. In diesem Moment spürte Hildegund eine Hand, die nach der ihren griff. «Nischt wie weg hier!», stieß Hünicke halblaut hervor und zerrte sie quer über die Fahrbahn. «Nicht umdrehen! Da drüben ins Gewühl rein!»
An der gegenüberliegenden Ecke drängte sich eine Gruppe von Menschen, denen jemand etwas über den Funkturm erzählte. Hünicke stürzte sich mitten hinein und zog Hildegund hinter sich her, bis der S-Bahn-Eingang sie endlich verschluckte. Auf der Treppe zum Bahnsteig hinunter ließ Hünicke ihr etwas mehr Zeit. «Bist du verletzt?», erkundigte er sich besorgt.
Hildegund schüttelte den Kopf. «Nur ein bisschen am Knie», gab sie dann zu. Die aufgeschürften Handballen bemerkte sie erst jetzt. «Was ist mit Ratzmann?», fragte sie.
Hünicke lachte. «Der kann sich mit seinen Mühlenflügeln selbst wehren.»
Der Südring kam zuerst, und sie stiegen ein. Wie immer um diese Zeit war es voll. Der Mief im Raucherabteil stieg Hildegund unangenehm in die Nase. Dennoch protestierte sie nicht. Auch nicht dagegen, dass Hünicke sie weiterhin ungeniert duzte. «Na, Hildchen, das war aber ’ne heiße Nummer, die wir miteinander abgezogen haben, was?»
Sie lächelte schwach. «Ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollten.»
«Ich schon!», behauptete Hünicke, beließ es jedoch dabei.
Am Westkreuz stiegen sie aus und gingen hinunter zur Stadtbahn. Im Schutz des Aufsichtshäuschens und nachdem er sich umgesehen hatte, setzte Hünicke seine Aufklärung fort. «Die waren von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der KgU! Todsicher! Die wussten genau, auf wen sie es abgesehen hatten.»
Hildegund erschrak jetzt doch ein bisschen. «Wer bin ich denn, dass die sich für mich interessieren?»
«Eigentlich müsstest du das gleich melden», meinte Hünicke, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Abwehrend verzog sie das Gesicht. «Du bist wohl verrückt!» Unwillkürlich duzte sie den Redakteur ebenfalls. Der war ein paar Jahre jünger als sie. Immerhin hatte er ihr rausgeholfen aus dem Schlamassel, dafür musste sie ihm dankbar sein. «Damit ich meinen Namen morgen in allen Zeitungen wiederfinde? Was versprichst du dir davon?»
Das war für Hünicke ein Argument. «Aber Ratze wird sich mit seiner Heldentat brüsten», vermutete er.
Die S-Bahn fuhr ein. «Tu mir den Gefallen und rede ihm das aus!», bat sie beim Einstiegen.
«Ich werd sehen, was sich machen lässt …», meinte er und griente schon wieder dreist, wobei er sich ein bisschen an sie drängte. «Jetzt bringe ich dich erst mal nach Hause zu Mutti.»
Unglücklicherweise sagte Hildegund: «Die ist schon ein paar Jahre tot.»
Hünicke grinste noch breiter. «Umso besser!», sagte er.
LUFTDRUCK GEGEN STALIN
ALS HERMANN KAPPE an diesem kühlen Maiabend nach Hause kam, erwartete ihn statt eines schmackhaften Abendessens in einem friedlichen Heim seine aufgebrachte Frau Klara, die sich erst nach dringender Mahnung dazu herbeiließ, ein paar Spiegeleier in die Pfanne zu schlagen. Auch wenn er im Präsidium einen relativ ruhigen Tag verbracht hatte, hasste Kappe es, zum Feierabend mit nichtigen, oder schlimmer noch, unabänderlichen Angelegenheiten behelligt zu werden. Genau das hatte Klara jedoch vor.
«Was sagst du dazu, dass wir künftig für die Zone einen Passierschein benötigen?», erkundigte sie sich erregt. «Der soll auch noch Geld kosten! In unserer Währung!»
«Umsonst ist der Tod», äußerte Kappe unbedacht. Es war natürlich die falsche Antwort. Seit er vor vierzehn Tagen ohne Klaras angebliche Lieblingseinkaufstasche samt Thermosflasche aus Uraltbesitz und erst vor zwei Jahren angeschafftem Regencape aus der Waldbühne zurückgekehrt war, hing der Haussegen in der Wartburgstraße schief. Da kam es auf eine unbedachte Bemerkung mehr nicht an.
«Dich scheint das ja nicht zu erschüttern!», keifte Klara. «Verstehst du nicht, was das bedeutet? Die Kommunisten wollen dich daran hindern, deine eigene Verwandtschaft in Wendisch Rietz zu besuchen! Willst du dir das gefallen lassen?»
Allein ihr Ton reizte zum Widerspruch. Kappe knurrte: «Erwartest du, dass ich mir ein Luftdruckgewehr kaufe und gegen Stalin und Ulbricht in den Krieg ziehe?»
Ihn regten die Zonenmaßnahmen genauso auf wie seine Frau. Nur nützte das absolut nichts. Und was seinen Geburtsort Wendisch Rietz anging, so war ihm die Fahrt dorthin offiziell schon länger verwehrt. Als Polizist und Beamter hatte er im Osten, wo die Gefahr einer Verhaftung lauerte, nichts zu suchen. Er war kein ängstlicher Mensch, verspürte aber wenig Neigung, der dortigen Polizei, möglicherweise ehemaligen Kollegen, oder gar den Russen in die Hände zu fallen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach dem Krieg in der zerstörten und gespaltenen Hauptstadt auszuharren, statt sich irgendwo in Süd- oder Westdeutschland ein sicheres Plätzchen zu suchen, wie es etliche von den oberen Rängen bei der Polizei längst getan hatten. Ein Gedanke, der so schnell verging, wie er gekommen war. Kappe hing nun mal mit Haut und Haaren an seiner Arbeit, und die konnte er sich an keinem anderen Ort vorstellen als in Berlin, wenigstens in den übriggebliebenen drei Fünfteln. Leben wollte er erst recht nirgendwo anders. Und Klara sicher auch nicht.
«Das Schönste kommt erst noch!», sagte Klara, ohne seine rhetorische Frage zu beachten. «Man kann nicht einmal mehr in den Osten telefonieren! Sie haben die Leitungen unterbrochen. Das kam am Vormittag in den Nachrichten.»
Auch das wusste Kappe bereits und fand es empörend. Die Stadt wurde immer weiter auseinandergerissen. Dennoch erkundigte er sich mit ruhiger Stimme: «Wen willst du denn im Osten anrufen?» Dabei kannte er die Antwort. Immerhin wohnte ihr Kronprinz, der älteste Sohn Hartmut, in Ost-Berlin. Der hatte sich ausbedungen, weder zu Hause noch etwa über seinen Dienstapparat angerufen zu werden. Kappe hielt sich daran, so schwer es ihm auch fiel. Klara hingegen und Hartmuts Frau Inge hatten längst einen Dreh gefunden, das Verbot zu umgehen. Der Tankstellenbesitzer, der unter Hartmuts Familie im gleichen Aufgang wohnte, besaß einen der in Ost-Berlin seltenen privaten Telefonanschlüsse. Über den ließ sich Inge erreichen, und von dort konnte diese wiederum ihre Schwiegermutter anrufen, wenn etwas Dringendes anlag. Bis gestern jedenfalls.
Kappe hatte zu den Telefonaten geschwiegen, wie zu so vielem. Innerlich seufzte er tief, wenn er an die beiden Söhne dachte: Karl-Heinz, der mit seinen undurchsichtigen Geschäften früher oder später auffliegen musste, und Hartmut, den roten Kommissar, der demnächst zum Major aufsteigen sollte. Nicht mal die Nationalsozialisten hatten es fertiggebracht, bei der Kripo militärische Dienstränge einzuführen!
Der Gedanke an Hartmut versetzte Kappe jedes Mal einen Stich. Einerseits war es anerkennenswert, dass der Sohn Karriere machte. Nur um welchen politischen Preis! Ergebnislose Debatten lagen hinter ihnen, gebracht hatten sie nichts. Offiziell durften sie keinerlei Kontakt mehr miteinander haben – doch wer wollte das kontrollieren in einer Stadt, in der man für ein paar Groschen der jeweiligen Währung unbeschadet in die andere Hälfte gelangen konnte! Wie es nun weitergehen sollte, vermochte Kappe sich nicht vorzustellen. Jedenfalls würde er den Jungen auf absehbare Zeit nicht zu Gesicht bekommen, geschweige denn seine Stimme hören.
Blieb als einzige Verbindung die unverbesserliche Klara, die es sich nicht nehmen ließ, die bedürftige junge Familie im Osten einmal in der Woche mit Bananen oder einem halben Pfund guter Margarine zu beglücken und sich an der heranwachsenden Enkeltochter zu erfreuen. Dass die zur Erinnerung an Lenins Frau Nadja hieß, gefiel den Großeltern weniger.
«Sie haben sogar Leitungen nach Westdeutschland gekappt!», wusste Klara zu berichten. «Wahrscheinlich wollen die uns aushungern.»
Kappe sah sie von der Seite an. In den letzten Jahren hatte sie zugelegt. Ein bisschen am Essen zu sparen würde ihrer Figur kaum schaden. Dass Klara anderer Meinung war, ahnte er. Anscheinend erwartete sie sogar sein Lob, als sie erklärte: «Vorsichtshalber habe ich ein paar Konserven eingekauft: Mehl, Nudeln und Zucker und so was. Das Nötigste eben. Den ganzen Tag war ich unterwegs und habe geschleppt.»
Entgeistert starrte Kappe sie an. «Du fällst auch auf jede blöde Tatarenmeldung rein!», schnaubte er. «Hast du vergessen, was damals bei der Blockade passiert ist? Glaubst du, die Amerikaner geben uns ohne weiteres auf und lassen uns am langen Arm verhungern?»
«Bei denen weiß man nie!», verteidigte sich Klara pikiert. «Wenn die sich nun plötzlich mit den Russen einigen und uns an den Osten verkaufen?»
Kappe schüttelte den Kopf. So weit war es in der eigenen Familie gekommen! «Klara», sagte er mit Bestimmtheit, obwohl ihm derlei Phrasen nicht lagen, «hier in Berlin wird die freie Welt verteidigt. Wir sind ein Brückenkopf, eine Insel im roten Meer. So etwas gibt man unter keinen Umständen auf! Verstehst du das?»
Klara blieb bei ihren Zweifeln, das sah er ihr an. «Du müsstest mal hören, was die Leute reden», sagte sie. «Sogar vor der Wechselstube haben sie heute angestanden!»
Das Wort Wechselstube machte Kappe hellhörig. Misstrauisch erkundigte er sich: «Was hast du denn in einer Wechselstube verloren?» Dort wurde die wertbeständige West- gegen die schlappe Ostmark getauscht. Gegenwärtig stand der täglich wechselnde Kurs bei mehr als 1:4.
Klara errötete, was Kappes bösen Verdacht hinreichend verstärkte. Das Plakat an den Litfaßsäulen stand ihm lebhaft vor Augen: Herr Schimpf und Frau Schande kaufen im Osten ein.
Kappe war es gewohnt, Menschen zu vernehmen und auf geringfügige Reaktionen zu achten. Bei der eigenen Ehefrau widerstrebte ihm das, zumal sich Klara widerborstig gebärdete. Es verging einige Zeit, bis er kleckerweise erfuhr, dass Klara die Besuche bei Hartmuts Familie nutzte, um sich im Osten frisieren zu lassen. Sie pflegte ein paar Westmark zum günstigen Wechselkurs umzutauschen und in den östlichen HO-Läden «ein bisschen was» einzukaufen, um den ehrbaren Oberkommissar Hermann Kappe mit zusätzlichen Fleisch- und Wurstrationen zu überraschen.
«Bist du denn des Teufels!», donnerte der. «Du unterstützt dieses Zonenregime mit seinen Wucherpreisen, die für die eigene Bevölkerung zu hoch sind, und bringst mich in eine Situation, die mich die Stellung kosten kann! Möchtest du morgen in der Abendzeitung lesen: Altgedienter Kripokommissar versorgt sich im Osten?»
«Du nimmst immer alles so ernst …», war alles, was Klara zu ihrer Verteidigung einfiel. Ein bisschen kleinlaut klang sie zwar, doch Kappe zweifelte, ob sie die Schändlichkeit ihres Verhaltens wirklich einsah. Prompt sagte sie als Nächstes: «Das ist ja wie im Osten! Die dürfen offiziell auch nicht bei uns einkaufen.»
Bevor Kappe endgültig explodierte, klingelte es zu Klaras Glück. Das unterbrach den Streit zumindest für den Augenblick.
Es war Karl-Heinz, der – rein zufällig – an ebendiesem Abend und zu Klaras Freude in der Wartburgstraße auftauchte, «um mal nach den beiden Alten zu sehen», wie er sich burschikos ausdrückte und Kappe damit zusätzlich aufbrachte. Der eigene, betont unauffällige Abgang aus der Waldbühne war ihm noch in schlechter Erinnerung, und nicht einmal die mitgebrachte Flasche Bourbon tröstete ihn darüber hinweg, vom eigenen Sohn als Alter abqualifiziert zu werden. Der Junge war ihm fremd geworden. Bis auf die sehr gelegentlichen Besuche von Sportveranstaltungen verband sie beide kaum noch etwas. Im Vorjahr hatten sie gemeinsam das erste Nachkriegsrennen auf der Avus genossen, das ausgerechnet ein Ostdeutscher mit dem schönen Namen Paul Greifzu gewonnen hatte. Auf der Sportseite mit den Ergebnissen aus der Waldbühne und vom Karlshorster Sandbahnrennen hatte Kappe gelesen, Greifzu sei bei einer Testfahrt tödlich verunglückt.
Klara, von dem seltenen Besuch schier überwältigt, tat, als könne sie sich weder Pralinen noch Parfüm leisten und sei auf die Großzügigkeit des Jungen angewiesen, dem sie gar nicht genug danken konnte. In Windeseile zauberte sie das verspätete Geburtstagsgeschenk für ihn herbei, nicht ohne schmollend anzumerken, dass es sich wirklich nicht gehöre, einen solchen Ehrentag, und noch dazu den 25., ohne die Familie zu feiern. «Nicht einmal ans Telefon bist du gegangen!», stellte sie vorwurfsvoll fest.
Karl-Heinz nuschelte etwas von dringenden Geschäften. Kappe fragte nicht nach. Er gab sich alle Mühe, den verkorksten Abend nicht noch mehr zu verderben, und öffnete die Flasche. Ihm schwante, dass der Sohn keineswegs gekommen war, um den Eltern eine nachträgliche Geburtstagsfreude zu bereiten.
Sie stießen an. Klara war der Whisky zu stark. In ihr Lamento über das neue Grenzregime der Zone und die gekappten Telefonverbindungen stimmte Karl-Heinz nur bedingt ein. In einem Halbsatz gab er allerdings zu, dass sich die Unterbrechung nachteilig auf seine Geschäfte auswirken könnte. Der Streik der Drucker hingegen, der die gesamte Presse der Bundesrepublik und West-Berlins gerade für zwei Tage lahmlegte, amüsierte ihn. «In den Zeitungen steht doch sowieso bloß Käse!»
Sie tranken, und sie redeten. Was Karl-Heinz mit seinem Besuch wirklich bezweckte, merkte Kappe erst nach einer ganzen Weile, als der ungeratene Sprössling das Gespräch wie zufällig auf seines Vaters Arbeit und die Kriminalität in der Stadt brachte. Kappe hatte nicht die Absicht, sich dazu zu äußern, und ließ den Jungen reden. In mancher Beziehung war der so leicht zu durchschauen wie ein Glas Wasser. Doch der Vergleich hinkte. Klares Wasser war Karl-Heinz fremd, wie die geübte Bewegung beim Trinken verriet. Auch die plötzliche Bewunderung für den dreisten Tresorraub im Osten bewies eine eher trübe Auffassung, zu der Kappe schwieg.
Karl-Heinz schien das Thema zu faszinieren. Er wollte wissen, wie eng – wenn überhaupt – die Polizei in einem solchen Fall mit den Kollegen im Osten zusammenarbeitete. Kappe beantwortete das mit einer Gegenfrage: «Warum fragst du nicht deinen Bruder? Bei denen ist das Geld doch geklaut worden.»
So direkt auf seinen Bruder angesprochen, zog Karl-Heinz ein saures Gesicht. «Ihr wisst ja, was ich von dem halte», murrte er und hob das Glas.
Das Gleiche wie er von dir, wäre es Kappe beinahe entfahren. Klara zuliebe schwieg er, obwohl sie solche Rücksichtnahme heute kaum verdient hatte.
«Ein paar Millionen haben die erbeutet!», äußerte sie jetzt, und auch aus ihren Worten klang so etwas wie Bewunderung.
«Deine S-Bahn-Groschen», bestätigte Kappe bitter. «Und das Gehalt für die halbe Reichsbahn.»
Karl-Heinz grinste. «Ich finde, das schadet denen gar nichts!»
Kappe hatte nichts anderes von seinem Jüngsten erwartet. Er blickte ihn nur vorwurfsvoll an.
«Was unternehmt ihr denn, um den Panitzke und seinen Komplizen zu finden?», bohrte Karl-Heinz weiter.
Kappe hob die Schultern. «Das ist Aufgabe der Fahndung. Damit habe ich glücklicherweise nichts zu tun.»
Das klang endgültig, doch Karl-Heinz ließ sich nicht von dem Thema abbringen. «Angenommen, du erkennst Panitzke oder seinen Kumpanen auf der Straße, würdest du sie verhaften?»
«Mit Vergnügen!», bestätigte Kappe. «Nur werden sie mir den Gefallen nicht tun und einfach so durch die Stadt spazieren.»
Karl-Heinz gab sich wissend. «Angeblich weiß ja keiner, wo die beiden stecken. Aber in gewissen Kreisen sind Gerüchte im Umlauf …», sagte er vieldeutig.
Kappe missfiel das. «In was für Kreisen verkehrst du denn?», fragte er.
«Nur in den besten!», entgegnete Karl-Heinz fröhlich. «Demnächst werde ich ins Baugeschäft einsteigen.»
«Durchs Fenster oder durch die Wand?», erkundigte sich Kappe spöttisch. Großtuerei war ihm von jeher verhasst. Der Junge hatte nicht einmal einen Beruf erlernt.
Das fiel sogar Klara ein. Mahnend sagte sie: «Du verstehst doch überhaupt nichts vom Baugeschäft, Junge!»
«Mehr, als ihr denkt! Zum Beispiel braucht man Kies, wenn man bauen will.»
«Na ja, nachher für die Wege», gab Klara zu. «Das sieht sehr hübsch aus mit so kleinen Kieselsteinen.»
«Ach Mama!» Karl-Heinz schüttelte tadelnd den Kopf. «Heute baut man mit Beton! Und dafür braucht man ungeheure Mengen Kies. Genauso wie für den Mörtel. Wenn man in dieses Geschäft einsteigt, lässt sich Kies direkt in Kies verwandeln.» Seine Finger machten die Geste des Geldzählens. «Man braucht nur ein paar Lkws und eine Kiesgrube, mehr nicht.»
«Mehr nicht!», sagte Kappe schroff.
Es war alles andere als ein Zuspruch, doch Karl-Heinz ließ sich nicht beirren. «Ihr werdet es nicht glauben, die Grube habe ich schon!», sagte er triumphierend. «Und der erste Lkw folgt demnächst. Es mangelt nur ein bisschen an Kapital …»
Kappe sah ihn mit ernster Miene an. «Schlag dir solche Flausen aus dem Kopf!», sagte er trocken. «Und was Geld angeht, bist du bei uns sowieso an der falschen Adresse.»
«Das brauchst du nicht zu betonen. Du warst schon immer ziemlich knickrig.»
Kappe war nahe daran, über den Tisch zu langen, beschränkte sich jedoch darauf, deutlich zu erklären: «Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mein Geld stets auf ehrliche Weise verdienen musste.»
«Wahrscheinlich», stimmte Karl-Heinz leichthin zu. «Das mit der Kohle lass mal meine Sorge sein. Ich habe schon was im Auge.»