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Heute schien alles in Ordnung. Niemand hatte sein wackliges Sitzmöbel entwendet oder vertauscht, durch die winzige Scheibe im unteren Teil des Fensters fiel ein Strahl der Septembersonne auf die narbige Platte seines schwergewichtigen Antikmöbels. Das Glas, einst das Porträt des finster blickenden Fanatikers mit dem Chaplin-Bärtchen vor Fliegenschiss schützend, hatte Kappe eigenhändig zugeschnitten, nachdem er das Führerbild hinter dem Aktenschrank entdeckt und eilig zerfetzt hatte. Ein Glasschneider gehörte in diesen Zeiten zu den unentbehrlichen Werkzeugen, selbst wenn man Kriminalkommissar von Beruf war.
Kappe öffnete die Aktentasche, platzierte Stullenbüchse und Emailleflasche vor sich auf dem Schreibtisch und schloss dessen rechte Seite mit dem einzigen Schlüssel auf, der sich hatte auftreiben lassen. Kaum hatte er seine Utensilien im oberen Fach verstaut, als die Tür aufgerissen wurde und ein strammer Jüngling mit akkurat gestutzter schwarzer Haartolle hereinstürmte – ein Jüngling jedenfalls aus der Sicht des 58-jährigen Kappe. Udo Schieck war 31, gelernter Fotograf, verflossener mittlerer HJ-Führer und Unteroffizier, den die Russen irgendwo kurz vor dem Ural in einem Antifa-Kursus so gründlich umgeschult hatten, dass Kappe mitunter der Mund offen stand vor Staunen. Dabei war klar, dass man ihm, dem altgedienten Lakaien dreier Systeme, den eilfertigen Konvertiten Schieck keineswegs nur als Kriminaltechniker, sondern zur Kontrolle und Überwachung beigeordnet hatte. Von Kriminalistik verstand der nicht die Bohne, schlug aber allen Ernstes vor, die sich häufenden Mordfälle künftig mit den Methoden des dialektischen Materialismus aufzuklären.
Unter Materialismus konnte Kappe sich etwas vorstellen, was der Dialekt bei den Mordermittlungen sollte, blieb ihm dunkel, und er hütete sich, Schieck danach zu fragen. Der brachte es fertig und ritt eine halbe Stunde auf Marx und Lenin herum, bevor er mit einem langatmigen, von Kappe ohnehin nicht überprüfbaren Zitat des hochgeschätzten Generalissimus Stalin abschloss. Ein paarmal ließ Kappe den konfusen Vortrag schlecht verdauter Schlagworte an sich abperlen, ehe er Schieck bärbeißig zur Ordnung und in den kriminell-kriminalistischen Alltag zurückgerufen hatte: «Wir haben – ganz unabhängig von jeder Weltanschauung – Mord und Totschlag aufzuklären, Verehrtester!» Ihn «Genosse» zu nennen, wie es Schieck hartnäckig forderte, fiel Kappe nicht im Traum ein.
Selbstverständlich war Schieck noch vor Eintritt in die vorerst lichten Reihen der Kriminalpolizei Mitglied der KPD geworden. Begeistert hatte er im April deren Vereinigung mit der SPD gutgeheißen und seitdem nicht aufgehört, Kappe zum Beitritt in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands aufzufordern. Die kürzte sich selbst als SED ab, während der amerikanisch lizenzierte Tagesspiegel, den Kappe seit dem ersten Erscheinen bevorzugte, die Partei hartnäckig als SEP bekrittelte und ebenso hartnäckig am selbständigen Fortbestand der Sozialdemokratie festhielt. Der stand Kappe eingedenk seiner Erfahrungen durchaus nahe, ohne sich zur SPD-Mitgliedschaft zu entschließen. Für seinen Geschmack wurde im Augenblick sowieso viel zu viel von Politik geredet, insbesondere seit der Wahltermin im Oktober feststand.
Kettenraucher Schieck, der das Sprachrohr der Russen, die Tägliche Rundschau, als Lektüre bevorzugte, zündete sich die erste Zigarette an und trug die Neuigkeiten aus der Berliner Zeitung vor, die ebenfalls als russisch orientiert galt. Dass vorgestern am Bahnhof Bernau eine Razzia stattgefunden hatte, um Arbeitskräfte für den Rüdersdorfer Kalkbruch zu rekrutieren, wusste Kappe bereits. Und dass dem britischen Militärkommandanten in Gatow sein Boot geklaut worden war, versetzte die Kollegen vom entsprechenden Dezernat sicherlich in so große Aufregung, wie Schieck sie plötzlich erkennen ließ. Auf Abschnitt 7 der Raucherkarte M gab es sechs Zigarren oder eine Packung Kautabak, für F wie Frauen lediglich sechs Zigaretten. «Allerdings nur im sowjetischen Sektor», wie Schieck triumphierend hervorhob. Das war ein weiterer Dissens zwischen ihnen: Kappe sprach wie alle Welt nur vom «russi schen Sektor» und der entsprechenden Zone, Schieck beharrte auf «sowjetisch», was Kappe achselzuckend akzeptierte.
Gerade stolperte Schieck über eine Meldung, die besagte, der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin würde heute seinen Sendebetrieb über Mittelwelle 492 Meter gleich 610 Kilohertz beginnen. «Oberbürgermeister Doktor Werner wird über diese Welle um fünfzehn Uhr eine Begrüßungsansprache halten.»
«Ja, und?», erkundigte sich Kappe. «Wollen Sie sich die anhören?»
Schieck, der eher klein geraten war und noch dazu auf einer Art niedrigem Schemel hockte, richtete sich steil auf. «Können Sie mir erklären, wozu die Amerikaner einen eigenen Rundfunk für ihren Sektor brauchen?», fragte er scharf.
Kappe hob die Schultern. «Die Russen haben doch auch ihren eigenen Sender.»
«Das ist der Deutsche Demokratische Rundfunk, der allen fortschrittlichen Kräften offensteht. Außerdem befindet sich der Sender im englischen Sektor!»
«Müsste das nicht ‹britischen› heißen?», korrigierte Kappe sanft, was Schieck zu einer ärgerlichen Handbewegung veranlasste.
«Ach nee», Kappe setzte noch einen drauf, «im britischen Sektor ist ja nur das russische Funkhaus. Die Sendemasten stehen bei den Franzosen in Tegel.» Schieck stammte aus Luckenwalde und wohnte weit außerhalb der Stadt. Seine Schwierigkeiten mit der Berliner Topografie und den Sektorengrenzen waren Kappe schon öfter aufgefallen.
«Jedenfalls hätte der Drahtfunk für die Amis allemal genügt!», stellte Schieck fest.
Kappe beließ es dabei. Um weiteren Auseinandersetzungen zu entgehen, beugte er sich tief hinunter und förderte aus den Untiefen seines Schreibtischs einen Packen Papier hervor, auf den die Bezeichnung Akten schwerlich zutraf. Dennoch handelte es sich um solche. Papier war knapp, da mussten eben die Rückseiten der im Hause aufgefundenen Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Gauleitung oder jede andere Art von einseitig Bedrucktem herhalten. Am besten schrieb es sich mit dem Kopierstift, den Kappe einem klecksenden Federhalter vorzog, auf der Rückseite ehemaliger Wehrmachtslandkarten, die sich einige Ämter des guten Papiers wegen gesichert hatten, um darauf Bescheinigungen zu drucken. Kappes Nachweis der Typhus-Schutzimpfung bot das präzise Kartenbild der Gegend von Villers-Laquenexy in Lothringen. Er hatte es kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, und dabei war ihm zum Bewusstsein gekommen, dass er in seinem bisherigen Leben nie über die alten Grenzen des Deutschen Reiches hinaus gelangt war, ja eigentlich nur Berlin und einen Teil der Mark Brandenburg kannte. Zum Termin der KdF-Reise nach Madeira, zu der Klara ihn so heftig gedrängt hatte, wurde der vorgesehene Dampfer gerade als Hilfskreuzer im Atlantik versenkt.
Seufzend machte sich Kappe daran, den vor ihm liegenden Papierwust zu ordnen und den fälligen Abschlussbericht in Angriff zu nehmen. Eine Tätigkeit, die ihm auch nach 36 Dienstjahren nicht besonders lag. Immerhin hatte der vorige Chef der Mordkommission Kappes Ausführungen zweimal als besonders exakt und eindeutig gelobt. Unangenehmerweise war der Mann bald darauf als ehemaliger SS-Oberscharführer entlarvt und durch einen Nachfolger ersetzt worden, dessen Eignung zum Kriminalinspektor jemand irgendwo in den Weiten Russlands oder in Karlshorst festgelegt hatte. In Karlshorst, dem «Berliner Kreml», residierte die sowjetische Militäradministration.
Anscheinend genügte es, an den momentanen Chef namens Schneidereit auch nur zu denken, um ihn herbeizurufen. Forschen Schrittes stürmte er in den mangelhaft beleuchteten Büroraum, einen jungen Burschen im Schlepptau, den er munter als den vielversprechenden Kriminalanwärter Holtefret präsentierte. Der sei Kappe und Schieck mit sofortiger Wirkung zugeordnet.
So hatte sich Kappe die seit langem geforderte Verstärkung der Mannschaft nicht vorgestellt. Er wurde ohnehin den Eindruck nicht los, dass man ihm vorwiegend die hoffnungslosen Fälle zu
teilte und ihn allenfalls zu Rate zog, wenn es um Kriminelle der alten Garde und ihr Umfeld ging.
Schneidereit, ein Hektiker vor dem Herrn, wollte umgehend wieder verschwinden, allein schon um der Frage nach einem zusätzlichen Schreibmöbel und einer Sitzgelegenheit für den Neuen zu entgehen. Er wurde jedoch im Abgehen von einem Mitarbeiter aufgehalten, der kurz und knapp den Fund einer weiblichen Leiche in Buch meldete.
«Na bitte, meine Herren!», sagte Schneidereit zuversichtlich.
Kappe und Schieck erhoben sich. Das Platzierungsproblem für Holtefret hatte sich vorläufig erledigt.
«Komm Se!», forderte Kappe den strohblonden Jüngling auf, der ein wenig verwirrt schien. «Könn Se gleich mal erfahren, was bei uns so los ist.»
Befriedigt schaute Schneidereit seinen abrückenden Mannen hinterdrein.
DREI
SO ÜBELRIECHEND hatte Eddie Holtefret sich die Polizeiarbeit nicht vorgestellt. Die Frau – oder das, was von ihr übrig war – musste schon etliche Tage, wenn nicht Wochen in dieser Grube im Berliner Stadtforst gelegen haben, die einem eilig gegrabenen Schützenloch verteufelt ähnlich sah. Dafür hatte Eddie Holtefret einen Blick, seit er bei der Ausbildung zum Infanteristen selber mehrere Tonnen märkischen Sandes geschippt hatte, um seinen Körper anschließend in die mit einer Zeltbahn überdeckte Kuhle zu werfen und schussbereit den Feind zu erwarten. Als der dann wirklich kam, ließ er Eddie allerdings nicht die Zeit, ein Loch in den steinigen und zusätzlich gefrorenen Untergrund der Eifel zu buddeln, sondern fuhr mit einem Jeep so scharf auf ihn zu, dass nur ein armstarker Baum Eddie daran hinderte, sein junges Leben auf wenig heldenhafte Weise zu beschließen.
So war er als Zwanzigjähriger in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, in der ihm seine spärlichen Englischkenntnisse ein einigermaßen erträgliches Los verschafften. Nur sein Vorname Adolf bot den Kameraden wie den Wachmannschaften hin und wieder Anlass zu Späßen und Schikanen, weshalb er sich bald nur noch Addi nannte, woraus die Amerikaner schnell Eddie machten. Eddies Lagerleben gipfelte schließlich in einem Schreibstubenjob, der es ihm im August 1945 gestattete, sich selbst unter Missbrauch von zwei mangelhaft gesicherten Dienstsiegeln aus dem Lager zu entlassen und den Weg ins heimatliche Berlin anzutreten.
Einen Beruf hatte Eddie Holtefret, Jahrgang 1924, wie so viele seiner Generation nicht erlernt. Dafür hatte die Zeit zwischen mittlerer Notreife, Einsatz als Flakhelfer und anschließender Einberufung einfach nicht gereicht. Dabei hatte Eddie, damals noch Adolf, einmal weitreichende berufliche Pläne verfolgt, war doch sein Onkel Ewald als Chemigraf und Klischeeätzer bei einer Tageszeitung tätig gewesen – ein gesuchter Fachmann, wie es hieß, und der Einzige in der Familie, der Adolfs Zeichentalent erkannte und förderte. Richtig Feuer gefangen aber hatte Adolf erst, als er aus heimlich belauschten Gesprächen der Erwachsenen erfuhr, dass hinter besagtem Ewald eine kurze Karriere als Banknotenfälscher lag, die dem begabten Onkel zwei Jahre Zuchthaus eingebracht hatte. Viel später, als Onkel Ewald ihn in die ersten Geheimnisse der schwarzen Kunst einzuweihen begann, hatte der ihm nebenbei eine wichtige Erkenntnis mitgeteilt: «Bestraft wird man nicht, weil man etwas Verbotenes getan hat, sondern weil man so dämlich ist, sich erwischen zu lassen.»
Nach der Gefangenschaft auf Um- und Schleichwegen endlich in Berlin gelandet, hatte sich der fehlende Beruf bei der Suche nach Arbeit als ein gewisser Mangel erwiesen. Eddie war nicht auf den Kopf gefallen und nach all den Jahren in der HJ, hinter dem bellenden MG in den Bergen des italienischen Apennin, nach dem verlustreichen Rückzug aus Frankreich und der Gefangenschaft wahrlich kein heuriger Hase mehr. Nordöstlich vom Alex in der Gegend des Georgenkirchplatzes aufgewachsen – ein Kiez, der kaum zu den bevorzugten Wohnadressen ehrbarer Bürger gehörte –, kannte und beherrschte er so manche, nicht immer gesetzeskonforme Überlebensstrategie kleiner Leute. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, in das zwischen den Ruinen seines einstigen Wohnviertels erblühende Geschäftsleben einzusteigen, zumal ihm alte Bekannte wohlwollend dazu rieten.
Eddie war ein vielseitiger und lernfähiger junger Mensch, der sich nicht mehr als nötig vor körperlicher Arbeit drückte. Zu einem aber taugte er nicht: zum Händler. Im Kaufmannsladen seiner älteren Schwester hatte er lieber den eiligen Kunden als den Verkäufer gespielt, und an den Schachergeschäften im Lager hatte er nur als Zuschauer teilgenommen. An die gängige Zigarettenwährung war er allerdings gewöhnt.
Die Wohnung seiner Eltern lag in Schutt und Asche, bei einer Tante in Tempelhof fand er eine notdürftige Unterkunft. Deren Schwippschwager Jochen wiederum betrieb ein erfolgreiches und vorerst zukunftssicheres Unternehmen, das sich vornehmlich unter Wasser abspielte. Jochen, hinter dem eine undurchsichtige Vergangenheit bei der Marine lag, betätigte sich nämlich als Taucher und suchte dringend Mitarbeiter. Er stellte Eddie sofort als Anlernling ein, was dessen Abenteuerlust entgegenkam und ihm anfangs ganz gut gefiel. Der bezog die Schwerarbeiterkarte und eine zusätzliche Milchration, mit der er bei der Tante die Miete beglich. Allmählich begann er, sich in der Spree und den flachen Berliner Kanälen heimisch zu fühlen, als ein Ereignis eintrat, das ihn zur jähen Aufgabe des Tauchgewerbes nötigte. Die zunehmende Kälte in den winterlichen Gewässern war zwar unangenehm, doch nicht der eigentliche Anstoß. Vor dem Kraftwerk Klingenberg strömte ohnehin das warme Wasser der Turbinenkühlung in den Fluss. Zusammen mit einem weiteren Taucher, der über ebenso viel Praxis verfügte wie Eddie, waren er und Jochen mit Räumarbeiten im schlammigen Untergrund beschäftigt, wo sich von der Bettstelle über abgesoffene Kähne bis hin zu größeren Stahlkonstruktionen beinahe alles fand, was Krieg und Großstadt hergaben. Gerade war Eddie aus den trüben Fluten aufgetaucht, um sich seiner Last auf dem Stahlponton zu entledigen, wo Jochen hockte und die Sauerstoffzufuhr kontrollierte, als eine dumpfe Explosion seinen Helm erschütterte und ihn selbst gegen die sich neigende Fahrzeugkante schleuderte. Ein heftiger Schlag in den Rücken nahm ihm die Luft. Die bleiernen Stiefel zogen ihn nach unten, kaum fand er die Kraft sich festzuklammern.
Der schreckensbleiche Jochen half ihm nach oben, und als Eddie sich umwandte, bot sich ein schauerliches Bild. Keine zehn Meter entfernt, ungefähr da, wo sich der Kollege in drei oder vier Meter Tiefe aufhalten musste, brodelte das Wasser bräunlich und brachte allerlei Unrat an die Oberfläche. Erst als Jochen mit fliegenden Fingern die Helmverschraubung gelöst hatte und Eddie zwei tiefe Atemzüge tat, erkannte er, dass der Unrat zu einem Gutteil aus einem zerfetzten Taucheranzug bestand und die Färbung des immer noch unruhigen Wassers deutlich in ein blutiges Rot spielte. Mitten in der Brühe schaukelte der blanke Helm.
Wortlos übergab sich Eddie.
«Munition», flüsterte Jochen hilflos. «Wie oft habe ich euch gesagt, ihr müsst vorsichtig sein!»
Eddie gab keine Antwort und stieg aus dem Taucheranzug. «Das war’s», sagte er schließlich und griff nach seinen Zivilklamotten. Vom Ufer her klangen Rufe herüber.
«Was heißt hier ‹Das war’s›?», protestierte Jochen. «Du kannst nicht einfach abhauen …»
«Ich kann!», widersprach Eddie. «Oder meinst du wirklich, ich habe den Scheißkrieg überlebt, um hier als Fischfutter zu enden?»
Keine halbe Stunde nach dem abrupten Ende seiner Taucherkarriere unterbreitete man ihm eine Offerte für eine angeblich weit weniger gefahrvolle Tätigkeit. Die beiden Polizisten, die seine Aussage bezüglich des Unfalls aufnahmen, musterten ihn wohlwollend und schlugen vor: «Warum kommste nicht zu uns? Da kriegste auch Karte I und brauchst nich ins kalte Wasser.»
«Oder warste bei der SS?», ergänzte der andere mit Blick auf Eddies Größe und seine blonde Tolle.
Ein bisschen mehr wollte man bei der Personalleitung schon wissen, doch zwei Tage nach Ausfüllen des Fragebogens fand sich Eddie als Angehöriger der Bereitschaftsinspektion Berlin-Mitte, Kleine Alexanderstraße 21–24, in der vertrauten Gegend seiner Kindheit wieder. War es ein Wunder, dass ihm schon nach wenigen Tagen eine junge Dame auf der Straße begegnete, zu der er als Knabe ebenso bewundernd wie vergeblich aufgeschaut hatte: Roswitha Blonowski, einst im selben Hinterhaus ansässig wie Eddies Familie und der Stern aller schlaflosen Jungenträume. Das Hinterhaus stand nicht mehr, doch Roswitha hatte nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Rötlich getöntes Haar, gut angemalt und schick wie eh und je.
«Roswitha!», rief er, und sie blieb stehen, nachdem sie dem Uniformierten zuvor in einem scheuen Bogen auszuweichen versucht hatte.
Sie staunte. «Mensch, biste nich der kleene Adolf?»
Schwang da so etwas wie Bewunderung mit in ihrer rauchigen Stimme?
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. «Mein lieber Scholli, du hast dir aber rausjemacht!»
Eddie griente zufrieden und wagte es, seinen Arm um ihre Taille zu legen. «Da freue ich mich aber, dich zu treffen.»
«Na, und ick erst … Aber musstest de denn ausjerechnet bei de Polente jehn?»
Das klang schon weniger begeistert. Als Eddie ihr in einer Stampe in der Münzstraße bei einem Glas Dünnbier den Grund für seine augenblickliche Berufswahl erläuterte, zeigte sie sich einsichtig. «Man weeß ja heutzutare jar nich, wozu so wat jut sein könnte … Und unter Wasser», sie schüttelte sich, «det is nu wahrlich keen schöner Dot.»
Der nette Abend endete im Bett. Roswithas Kemenate lag in der nahen Wadzeckstraße, von der es nur ein Katzensprung zur Kaserne war – ein Sprung, den Eddie von da an des Öfteren tat, obwohl ihm bald bewusst wurde, weshalb ihn Roswitha nicht jederzeit empfangen konnte.
«Sieh mal, mein Süßa, von irjendwat muss der Mensch schließlich leben. Du von dein Stuhlbeen und die Uniform – ick von meine Kunden. Deswejen lieb ick dir doch nich wenijer …»
Das Stuhlbein war der hölzerne Polizeiknüppel, mit dem Roswitha gerne mal herumfuchtelte. Sie ging auf den Strich, wie sie es schon getan hatte, als ihr der dreizehnjährige Eddie verliebt hinterhergeguckt hatte. Am Georgenkirchplatz war sie nicht die Einzige gewesen. Und jetzt war sie es noch weniger. Aber keine reichte an sie heran, fand Eddie.
Der Dienst und die Kaserne samt Gemeinschaftsverpflegung dagegen stanken ihm bald. Alle naselang karrte man die Bereitschaft zu Razzien gegen die Schwarzhändler, die ja nichts anderes taten, als sich mühselig am Leben zu halten. Ein paarmal begegneten Eddie unter den Festgenommenen Bekannte, und ihm blieb nichts anderes übrig, als den dämlichen Papp-Tschako tiefer ins Gesicht zu ziehen, um mit seinem Blondschopf nicht sofort erkannt zu werden. Auf die Dauer war das nichts für einen intelligenten Menschen wie ihn.
Das Ende kam schneller und nicht weniger heftig als draußen in Klingenberg. In den antiken Bauten der Kleinen Alexanderstraße befanden sich auch die Diensträume des Kommandeurs der Schutzpolizei. Nachdem die Russen den ersten Kommandeur, einen Sozialdemokraten namens Karl Heinrich, hatten verschwinden lassen, nahm jetzt ein gewisser Wagner die Stellung ein. Und der fand eines schönen Märztages, es sei an der Zeit, der auf dem Kasernenhof herrschenden Schlamperei ein Ende zu bereiten. Man nutzte Teile des Geländes der Einfachheit halber als Lagerplatz für die Fundmunition aus der Umgebung, während auf dem restlichen Freiraum der Dienstsport absolviert wurde. An diesem Tag also galt es, die Munition für den Abtransport zusammenzuräumen.
Unter den Polizeiangehörigen befand sich kaum einer, der nicht über ausreichende Kenntnisse im Umgang mit Granaten, Panzerfäusten und ähnlich soldatischem Mordwerkzeug verfügte. Aber wie immer und überall gab es einen altklugen Schlauberger, der mit seinen Kenntnissen und seinem vorgeblichen Können prahlen und die Funktionsweise einer Eierhandgranate vorführen wollte. Das gelang ihm gründlich. Nachdem er das Ding – versehentlich oder nicht – entsichert hatte, warf er es in Panik in die ringsum gelagerte Munition, was eine wesentlich heftigere Explosion hervorrief, als Eddie sie in der Spree miterlebt hatte. Aus allen Richtungen flogen ihnen die Brocken um die Ohren. Das zweihundert Jahre alte Kasernengebäude, das mehr als einen Krieg überstanden hatte, stürzte ein und erschlug einen Fußgänger.
Den Umzug der Bereitschaft in das Marstallgebäude am Schloßplatz machte Eddie, von einem Splitter am Unterarm leicht verwundet, nicht mit. Standhaft weigerte er sich, fortan in der hässlichen Uniform Dienst zu tun, die ihm ein derart lebensgefährliches Erlebnis beschert hatte. Wenn überhaupt, dann kam für ihn nur die Kriminalpolizei in Frage, bei der es zwar nicht weniger bedrohlich zuging, mit der aber wenigstens der Hauch des Abenteuers verbunden war.
Als Halbwüchsiger hatte Eddie mit roten Ohren die Hefte von Frank Allan und John Kling gelesen. Außerdem steckte natürlich Roswitha hinter seinem mit dem Explosionsschock begründeten Entschluss. «Wenn schon bei der Plempe, dann Kripo», fand sie. Einen bei der Firma konnte man immer gebrauchen, und die Nachbarn würden endlich aufhören, sich über den dauernden Polizeibesuch im Hause das Maul zu zerreißen. Dass Eddie zu ihr in die fensterlose Kemenate zog, schloss sie kategorisch aus. Eddies Tante in Tempelhof reagierte auf die bloße Andeutung der Existenz einer weiblichen Person in seinem Leben mit der prompten Androhung der sofortigen Exmittierung. Eddie zog es vor, Roswitha nicht mehr zu erwähnen. Die nächsten zwei Monate verbrachte er sowieso auf einem Lehrgang für berufsunkundige Kriminalanwärter an der Polizeischule in Oberschöneweide, wo man ihm die Grundlagen kriminalpolizeilicher Arbeit beizubringen versuchte.
So stand es also um Adolf Eddie Holtefret, der für immer noch 255 Reichsmark im Monat zur Kripo gewechselt war. Nun fand er sich plötzlich bei einem Einsatz der Mordkommission wieder, in der ein brummiger alter Herr namens Kappe den Ton angab. Ein unangenehm naseweiser junger Mensch suchte dem das Kommando streitig zu machen, bis Kappe ihn anfuhr: «Sie sind hier der Fotograf, Schieck! Tun Sie gefälligst Ihre Pflicht!»
Das tat Schieck sichtlich widerstrebend und dabei unaufhörlich über die schlechten Lichtverhältnisse zwischen den halbwüchsigen Kiefern räsonierend.
Dass man dem eine echte Leica anvertraut hatte, bewunderte Eddie. Er wusste, was die Kamera auf dem schwarzen Markt wert war. Dabei fiel ihm Roswithas beiläufige Frage nach einem zuverlässigen Fotografen ein. Wofür sie den brauchte, hatte sie nicht näher erläutert, nur etwas von alten Negativen angedeutet. Jedenfalls schien ihm der besserwisserische Kollege Schieck keine zweckmäßige Wahl, was immer Roswitha im Schilde führen mochte. Sie weihte ihn nur gelegentlich in ihre Pläne ein und sagte für gewöhnlich: «Bei deinem Beruf ist es besser, du weißt nicht zu viel!» Also fragte er nicht, vermied es aber im Gegenzug, Einzelheiten aus dem Betrugsdezernat zu erzählen, nach denen sie sich erkundigte.
Dass er nun bei der Mordkommission gelandet war und gleich am ersten Tag einer übelriechenden Frauenleiche begegnen würde, hatten weder er noch Roswitha am gestrigen Abend geahnt. Angesichts des atemberaubenden Gestanks bereute Eddie seine eifrige Zustimmung zu der morgendlichen Versetzung. Ihm fiel nichts anderes ein, als sich eine Zigarette anzuzünden und sich damit Kappes ersten scharfen Rüffel einzuhandeln: «Wir befinden uns hier an einem Tatort, Verehrtester, zumindest an einem Auffindungsort! Da kommt es auf die kleinste vorhandene Spur an. Ihre Kippe kann das ganze Tatortprofil verderben!»
Eddie drückte erschrocken den Glimmstängel aus und verbrannte sich die Finger.
Schieck sah ihn von unten her schief an und sagte hämisch: «Vielleicht will er ja als Frauenmörder entlarvt werden …»
Eddie bückte sich nach dem Streichholz. Kappe knurrte etwas Unverständliches und beugte sich noch einmal über die Leiche. So dicht, dass Eddie beim bloßen Anblick übel wurde. Die Frau glich eher einem grausigen Kleiderbündel als einem Menschen.
«Machen Sie noch ein paar Aufnahmen von der Halspartie!», forderte Kappe den Fotografen auf. «Sie gucken sich das auch mal an, Holtefret! Sieht ganz nach Würgemalen aus.»
Eddie hatte in seinem Leben etliche tote Soldaten gesehen. Zum Glück zumeist aus der Ferne. Auch im Gefangenenlager hatte es Tote gegeben. Der Dolmetsch Eddie gehörte nicht zum Begräbniskommando. Jetzt aber zwang ihn die Pflicht oder vielmehr dieser abgebrühte alte Knochen Kappe dazu, neben dem Schützenloch in die Hocke zu gehen und auf die schwärzlich verfärbten Hautpartien zu blicken, die einmal der Hals einer möglicherweise hübschen jungen Frau gewesen waren. Er versuchte, die Luft anzuhalten, säuerlich stieg es ihm in die Kehle. «So sieht das also aus …», krächzte er und schaffte es nicht mehr aufzustehen, bevor sich sein dürftiger Mageninhalt über die Tote ergoss.