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«Ja, ja, schön und gut, aber was halten Sie von seinen Thesen?» Er wandte sich an seine Mitarbeiterin, die gelangweilt die Beine übereinandergeschlagen hatte. Sehr lange Beine, wie er nicht umhin kam festzustellen. Zumindest da hatte sie keinen Schaden genommen. Sie wirkte grazil wie immer. Umso mehr überraschte ihr rüder Tonfall.
«Ich kann dieses Endzeitgequatsche nicht mehr hören, egal von welcher Seite es kommt. Die Welt ist schlecht, tolle Neuigkeit, was geht es mich an!?»
«Stopp! Ich schätze Ihre flapsige Art, aber nur im Umgang mit Ihren Interviewpartnern! Also bitte … konzentrieren Sie sich und teilen Sie mir Ihre vorurteilsfreie Meinung über Herrn Klimt mit! Etwas mehr Substanz könnte dabei nicht schaden!»
Martina Claasen, fünfunddreißig, Kurzhaarfrisur, ein wenig zu blass für ihre sehr durchtrainiert wirkende Figur, musterte mit kaum verhaltenem Spott ihren Chef. Wäre ihr seine blasierte Neugier nicht seit Jahren vertraut gewesen, sie hätte ihm offen ins Gesicht gegähnt. Stattdessen schien sie hoch konzentriert nach den passenden Worten für ihren Unmut zu suchen, was Schauspielerei war, denn ihre Einschätzung von Klimt stand fest. Er erinnerte sie in zu vielem an ihren eigenen Vater, als dass sie sein cholerisches Gepolter hätte ernst nehmen können.
An den anderen Tischen im Videokonferenzraum herrschte aufgeregtes Getuschel, jeder schien mit dem Auftritt Klimts beschäftigt zu sein, aber Martina spürte sehr wohl, dass viele neugierige Blicke, die absichtslos durch den Raum zu schweifen schienen, ihr und ihrem Chef galten. Seit über einem halben Jahr waren sie nicht mehr gemeinsam zu sehen gewesen, und vieles war gemunkelt worden, darunter das Absurdeste, was sie sich überhaupt nur vorstellen konnte, dass sie beide nun endgültig ein Paar geworden seien und sie sich deshalb von der vordersten Reporterfront zurückgezogen hatte.
Äußerlich betrachtet sprach nichts gegen die Kupplerfantasien der Kollegen, das musste Martina zugeben, als sie ihren so geduldig wartenden Chef mit geradezu sentimentaler Neugier musterte – denn acht Monate waren eine lange Zeit in ihrem Milieu und die Wiederbegegnung wenige Stunden zuvor im Redaktionsbüro war nur kurz gewesen.
Ludger Kehrtmann wirkte so smart, dass es fast schon schmerzte. Dabei war er keineswegs eitel, seine Vorliebe für teure Schreibgeräte und Hightech-Rennräder ausgenommen. Er trug gute, aber nicht zu teuer wirkende Anzüge, solides Schuhwerk, in Handarbeit gefertigt, eine Uhr, die er von seinem Vater geerbt hatte und der wiederum von seinem, bis zurück zu Urururgroßvaters babylonischen Tagen. Überhaupt die familiäre Tradition! Sein Großvater war Leiter eines bedeutenden Verlages gewesen, sein Vater Herausgeber einer bedeutenden Tageszeitung, und Kehrtmann war sich seines guten gesellschaftlichen Umgangs von Kindesbeinen an bis in den letzten Nerv seiner Wahrnehmung derart bewusst, dass es schon eines Frankensteins als Gegenüber bedurft hätte, um ihn zu einem irritierten Blinzeln zu bewegen. Martina gegenüber empfand er allenfalls Mitleid, so schien es ihr in diesem Moment. Als Frau hatte er sie noch nie wahrgenommen, warum auch, eine Heirat wäre ohnehin nie infrage gekommen, und als Geliebte ließ sie all das vermissen, was er sich unter einer zahmen, dekorativen und in Maßen temperamentvollen Mitfahrerin so vorstellte. Wobei sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt ein Auto hatte. Aber wenn, saß er garantiert immer selbst am Steuer.
Rein körperlich verband die beiden eine herzliche Abneigung schon seit den Tagen, als sie noch im Printjournal zusammengearbeitet hatten. Für sie war Ludger Kehrtmann immer der Strichjunge der Anzeigenkunden gewesen; für ihn verkörperte sie die altmodische Form investigativen Zeitvertuns.
Martina konnte sich noch gut daran erinnern, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Ihr Vater hatte sie damals in sein Büro geschleift. Sie selbst hätte lieber im Buxtehuder Stadtanzeiger volontiert, aber ihr Vater hatte sie bekniet, diese Chance ihres Lebens, wie er es immer nannte, doch nicht so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Was das Schlimme war: Er hatte natürlich recht. Die Chance auszuschlagen, bei einem der besten Nachrichtenmagazine Europas anzuheuern, nur weil der eigene Vater den Fürsprecher gab, wäre selten dämlich gewesen. Aber peinlich war die Situation dennoch.
Ihr Vater vegetierte damals im letzten Stadium seiner Trunksucht. Er hielt sich noch einigermaßen gerade, aber wer genauer hinsah, bemerkte die Verfallserscheinungen nur allzu deutlich. Sein Äußeres wies all die Spuren der Vernachlässigung auf, die ein alleinstehender Mann, der jeden Sonnenaufgang mit einem Wasserglas Wodka begrüßte, nicht mehr vertuschen konnte, weil er den Blick in den Spiegel erst gar nicht mehr wagte. Schlecht rasiert, im nicht mehr waschbaren Cordsakko, das Hemd leicht fleckig, die Schuhe seit Monaten nicht geputzt – sie konnte alle Einzelheiten lebhaft erinnern, denn dieses Bild seines Abschieds vom Berufsleben hatte sich ihr eingebrannt. Und dann war da noch dieser Geruch gewesen, eine unsägliche Mischung aus Schweiß, Alkohol, billigem Waschmittel – und Angst. Ja, er hatte Angst gehabt damals, dass seine Stellung und sein Ruf nicht mehr genügen würden, ihr das Entree zu verschaffen. Das war das Schlimmste gewesen, das war das, was sie Ludger Kehrtmann niemals verzeihen würde, dass er ihren Vater ängstlich erlebt hatte.
Kehrtmann wäre allerdings nicht Kehrtmann gewesen, wenn er diesen Auftritt ihres Vaters nicht taktvoll ignoriert hätte. Er wusste schon lange, wie es um ihren Vater stand, er hatte ihm unerwartet viel Freiraum gegeben, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht einfach nur, weil in Monatsabständen noch immer ein akzeptabler Artikel von ihm erschien, aber der Blick, mit dem er ihn musterte, als sie in sein Büro traten, war von einer solchen Kälte gewesen, dass sie am liebsten sofort wieder gegangen wäre.
Kehrtmann hatte die Mappe vor sich liegen gehabt, in der einige ihrer Reportagen versammelt waren, die sie für diverse Berliner Zeitungen geschrieben hatte. Er schlug sie auf, ohne hineinzusehen, schlug sie wieder zu.
«Sie haben Talent. Ohne Zweifel!» Im gleichen Tonfall hätte er auch sagen können: «Sie haben Neurodermitis.»
«Wir wollen es mit Ihnen versuchen. Zudem: Ihr Vater hat Sie wärmstens empfohlen, und wir in der Redaktion wissen alle, was wir an Ihrem Vater haben» – in Gedanken setzte er hinzu: ‹Vor langer Zeit hatten.›
Der Deal war klar. Das wusste sie, das wusste ihr Vater. Kehrtmann verfügte über die Gabe, andere seine Gedanken lesen zu lassen – wenn er es wollte. Ihr Vater würde sich dezent aus der Redaktion verabschieden, ohne auf eine unanständig hohe Abfindung zu bestehen, und sie würde seine Stelle einnehmen. «Unser ganz privater Generationenvertrag», witzelte ihr Vater nach dem Gespräch, das er als seinen Erfolg verbuchte – und sofort zum Anlass nahm, sich ins nächste Koma zu saufen. Er hatte es sich ja verdient!
Ihr Vater hatte seinen Vertrag auslaufen lassen, ohne noch groß einen Finger zu rühren. Sie selbst zerriss sich in den folgenden Monaten, um den Verdacht zu ersticken, dass sie ihre Stelle nur seiner Protektion zu verdanken hatte. Und eins musste sie zugeben: Auf professioneller Ebene verstand sie sich gut mit Kehrtmann.
«Die Arbeit der Redaktion wird sich in den nächsten Jahren ein wenig anders gestalten», hatte er ihr im Folgegespräch verkündet. «Wir werden gar nicht umhinkommen, uns von den bürgerlichen Journallesern zu verabschieden und uns intensiver den Onlineanalphabeten zu widmen.» Seinen Sinn für Ironie konnte sie nie teilen, aber sein strategisches Denken konnte sie nachvollziehen.
Er hatte den richtigen Riecher in diesen Dingen. Die Onlineredaktion wurde ausgelagert, das Team radikal verjüngt, die Themenauswahl modisch frisiert.
«Wir wollen, dass die Leute für diese Themen zahlen, also müssen wir ihnen auch Themen bieten, für die sie bezahlen wollen. Die Zeiten der feuilletonistischen Bevormundung sind vorbei. Also bitte, keine Premierenbesprechung aus Bottrop, keine Rezension eines jungen hochbegabten georgischen Naturlyrikers und erst recht keine Gesinnungsprosa. Personality sells. Denn das fehlt unseren Lesern: ein Ego. Also bitte: ganz schlicht. Geschichten von Menschen über Menschen. Egal ob Politik, Wissenschaft oder Kultur. Es muss menscheln!»
Der Erfolg hatte ihm recht gegeben, ihn aber auch mit der Aura einer unendlichen Langeweile umgeben, die er selbst wohl als Unangreifbarkeit definiert hätte. Die Folge war, dass in der Redaktion die schlimmsten Gerüchte über sein Privatleben kursierten. Das Gerede endete, als er seine Verlobte vorstellte. Das heißt, sie stellte sich selbst vor, so als wollte sie allen weiblichen Redaktionsangestellten mitteilen, dass Ludger Kehrtmann von nun an vergeben war. Martina hatte sie nur einmal gesehen vor ihrem Tod. Als das Unglück geschah, war sie auf einer dreimonatigen Recherchereise in Afrika.
Als sie wiederkam, lief alles wie gewohnt. Kehrtmann ließ sich nicht anmerken, wie stark ihn diese Tragödie mitgenommen hatte. Er trug nach wie vor die besten Anzüge, gab sich kollegial, aber nie anbiedernd, und steuerte die Geschicke seiner Redaktion mit ruhiger Hand, als wäre er schon im Kindergarten zum Kapitänsanwärter berufen worden. Es war zum Kotzen. Alles, was sie sich gewünscht hätte, war, ihn einmal dabei zu ertappen, wie er heimlich an seinen Nägeln kaute. Oder sich mit den Fingern die Nase schnäuzte. Oder sich die Brusthaare unterm Hemd kraulte. Ein unsinniger Wunsch. Ein Wunsch, für den sie sich inzwischen sogar schämte. Denn er hatte sie trotz ihrer Erkrankung nicht fallen gelassen – was ein Leichtes für ihn gewesen wäre.
«Also, was halten Sie davon? So Sie denn geneigt sind, sich wieder mehr auf die Arbeit zu konzentrieren und weniger auf meine Person.»
«Das wird von dem abhängen, was er noch bringt. Bis jetzt hat er ja nur seine dreifach verdauten Besserwissersprüche wiedergekäut! Alles ein wenig vorgestrig! Um nicht zu sagen senil!»
«Senil, meinen Sie?» Kehrtmann musterte sie nachdenklich. Irgendwie wirkte er nicht ganz bei der Sache. Das konnte aber auch Ablenkung sein. Er irritierte seine Gegner gern durch eine gewisse blasierte Gleichgültigkeit. Und seine Mitarbeiter waren Gegner für ihn. «Apropos: Die Locken standen Ihnen übrigens besser! Nur so nebenbei.»
Kehrtmann hatte, das musste sie auch jetzt wieder zugeben, einen unfehlbaren Instinkt für die Schwachstellen seines Gegenübers, im Guten wie im Bösen. Genau das wollte er mit seiner Bemerkung über ihre Frisur unter Beweis stellen.
Ihre Chemotherapie lag sieben Monate zurück, und obwohl ihre Haare langsam wieder wuchsen, sie würde sie niemals wieder lang und lockig wachsen lassen! Denn das Bild, das hatte sie sich geschworen, wollte sie nie wieder vor Augen haben: Wie all ihre Haare auf dem Boden gelegen hatten, an dem Tag, als sie die Perücke kaufen ging, zwei Wochen nachdem sie die Diagnose erhalten hatte. Sie wollte damals den Tag nicht abwarten, bis sie sich die Haare büschelweise vom Kopf reißen konnte.
«Sie können mich mal … an ihren Figaro verweisen! Aber mein Problem ist im Augenblick ehrlich gesagt ein ganz anderes: Warum bin ausgerechnet ich hier und keiner unserer Geschichtsnerds fürs Angegilbte?»
«Das werden Sie gleich erfahren, aber lassen wir ihn erst mal wieder zu Wort kommen.»
Beide hatten mit halben Ohr auf Klimts Vortrag gehört. Sie waren professionell genug, um den rhetorischen Ballast von den Kernaussagen trennen zu können. An seinem Tonfall merkten sie, dass er langsam zur Sache kam.
«Warum ich nach Berlin gekommen bin, in die ehemalige Reichshauptstadt, Hitlers ‹Germania›, in die Höhle des Löwen sozusagen, ich, ein sterbenskranker alter Jude, meine Damen und Herren, weil ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen will! Denn hier in Berlin hat der Teufel seinen Hauptwohnsitz. Was denken Sie denn, warum ich sonst hier bin?!» Klimt lachte höhnisch und fuchtelte wild mit seinem Gehstock ins Publikum. Übergangslos verfiel er wieder in einen dozierenden Tonfall. «Wenn wir das Böse verstehen wollen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit seinen hervorragendsten Vertretern schenken, und das ist keiner dieser Serienkiller in Nadelstreifen, an denen sich unsere Krimidamen, sei es lesend oder schreibend, so zartfühlend delektieren. Das Böse ist im letzten Jahrhundert in vielfacher menschlicher Gestalt auf die Bühne der Weltgeschichte getreten: Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot – die unheilige Quadriga des Schreckens. Nun, Mao ist tot, und er hat keinen Nachfolger gefunden. Stalin ist tot, und niemand ist gewillt, sein Erbe anzutreten, Pol Pot desgleichen. Der Kommunismus hat sich selbst erledigt. Der Rassismus nicht, der Antisemitismus schon gar nicht. Gut, das wissen Sie natürlich. Was wissen Sie nicht? In welcher Gestalt der Teufel tatsächlich überlebt hat! Obama ist es nicht, das war nur ein Scherz auf Ihre Kosten. Sie sind doch politisch korrekt, oder?» Er lachte kurz auf. «Der Papst ist es nicht, und ich bin es auch nicht, obwohl ich mich noch recht fit fühle!»
Klimt legte eine Pause ein und stützte sich affektiert auf seinen Gehstock. Das Publikum wurde unruhig. Keiner im Saal hatte die geringste Ahnung, worauf er eigentlich hinauswollte, und nicht wenige bereuten inzwischen, überhaupt erschienen zu sein. Das war zu spüren, aber Klimt fuhr in bewusst ruhigem Ton fort.
«Hitler ist tot, aber Hitler war nur der ranghöchste, schauspielerisch begabteste Repräsentant des Nationalsozialismus. Nicht sein Ideologe. Hitler wollte Deutschland untergehen sehen, weil er sich selbst untergehen sah, aber das sagt nur etwas über seine Eitelkeit aus und nichts, gar nichts über das Wollen der nationalsozialistischen Elite, die sich ja – bis auf die wenigen Nürnberger Sündenböcke – unbeschadet ins neue Deutschland hinüberretten konnte. Oder nach Argentinien weiterzog, nach Chile, nach Paraguay, in den Nahen Osten.»
Er schnaufte kurzatmig, als wäre er selbst auf der Flucht.
«Wissen Sie, zuweilen kommt mir ein Bild in den Kopf. Adolf Eichmann, Sie kennen ihn, den Verantwortlichen für die Judentransporte in die Gasöfen, Eichmann, der eine neue Heimat in Argentinien gefunden hatte, wurde, lange vor seinem Prozess, von einem Interviewer gefragt, ob er etwas bedauere. ‹Ja, natürlich bedauere ich etwas›, antwortete Eichmann. ‹Ich bedauere, dass wir nur sechs und nicht zehn Millionen Juden vergast haben.›»
Klimt legte erneut eine kurze Pause ein, ohne den Blick vom Pult zu heben. Ein Raunen ging durchs Publikum, als er mit einem kleinen Kichern in der Rede fortfuhr.
«Wissen Sie, was an diesem Bedauern auffällig ist? Nicht das Ungeheuerliche der Tatsache, dass er weitermorden wollte. Das versteht sich, Eichmann war ein böser, böser Mensch, da werden Sie mir alle zustimmen. Auffällig, im moralischen Sinn, ist vielmehr dieses Bedauern Adolf Eichmanns. Dieses Bedauern war aufrichtig! Wie kann ein böser Mensch aufrichtig sein?!»
Klimt stützte beide Hände breit aufs Pult und fixierte sein Publikum mit einem abschätzigen Blick, als traute er den hier Versammelten gar nicht zu, seine Worte in ihrer wirklichen Bedeutung zu verstehen.
«Meine Damen und Herren, es gibt nichts Lebendigeres als unversöhnlichen Hass! Nichts Wahreres! Nichts Ehrlicheres! Glauben Sie mir, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Was daraus folgt? Ganz einfach: Dieser Hass erledigt sich nicht einfach mit der Hinrichtung Eichmanns. Diese Bande von Verbrechern, die sich Nationalsozialisten nannten, hat Europa in den Abgrund gestürzt, Russland an den Rand der Niederlage gebracht, die Alliierten zur Aufbietung all ihrer Kräfte gezwungen und nebenbei sechs Millionen Menschen vernichtet, weil sie Juden waren. In nur zwölf Jahren! Was für eine logistische Meisterleistung! Das meine ich gänzlich ohne Ironie. In der Technologiegeschichte des Bösen nehmen die Deutschen den Spitzenrang ein, mit weitem Abstand. Maos Kulturrevolution, Stalins Liquidation der Kulaken, die Massaker der Roten Khmer, der Völkermord in Ruanda … all das erscheint dagegen wie das Werk von Amateuren. Und die Historiker wollen uns glauben machen, dass diese Elite des Bösen keinen Gedanken an eine Fortexistenz verschwendet hat?! Ich bitte Sie, das ist lächerlich!»
Klimt schnaufte empört, als wäre er persönlich beleidigt worden. «Ungeheuerlicher noch als diese Verbrechen ist die Dummheit all derer, die glauben, mit der Kapitulation des Deutschen Reiches sei der Nationalsozialismus erledigt gewesen! Die Fluchtwege waren längst ausgekundschaftet, riesige Summen Geldes außer Landes geschafft, Scheinfirmen gegründet, und wozu das alles? Weil diese Funktionäre des Schreckens in sonnigeren Ländern beschaulich als Privatiers und Rentner ihr Leben zu fristen gedachten? Was für ein Unsinn, meine Damen und Herren, was für ein lächerlicher, was für ein gefährlicher Unsinn!»
Klimt schüttelte müde den Kopf. Er zog ein Taschentuch aus seiner zerbeulten Jacketttasche und wischte sich wiederholt die schweißnasse Stirn, dann steckte er es achtlos wieder weg und holte tief Luft.
«Lächerlich.»
Das Publikum verharrte in angespannter Stille. Klimt wusste, dass er nun die Zuhörer in seinen Bann gezogen hatte – und er genoss es, indem er sich Zeit ließ mit dem Fortgang seiner Rede.
«Meine zentrale Überlegung ist: Die Historiker haben bislang zwar zur Kenntnis genommen, dass die Nazielite früh die Niederlage ahnte, früh Asylmöglichkeiten suchte und fand – aber, so mein Einwand, doch nicht nur, um ihr Leben zu retten! Unsinn. Sie wollten den Fortbestand der nationalsozialistischen Ideologie sichern! Ihr vordringliches Ziel war nach wie vor … die Macht! Beweise? Beweise werde ich zuhauf bringen! Zuhauf, meine Damen und Herren, zuhauf! Aber lassen Sie mich zunächst einen Witz erzählen, damit Ihnen das alles nicht so verbissen erscheint, was ich Ihnen vortrage, einen jüdischen Witz selbstredend: Ein frommer Mann kommt verzweifelt zum Rabbi. ‹Rabbi, ich habe nur einen Sohn und der ist jetzt Christ geworden, was soll ich tun?› Der Rabbi bittet sich Bedenkzeit aus, er muss mit Gott darüber reden. Eine Woche später kommt der fromme Mann wieder: ‹Rabbi, was haben Sie erfahren?› Der Rabbi sagt: ‹Schau, mein Lieber, Gott hat gesagt, er hatte auch nur einen Sohn, und der ist auch Christ geworden!› – ‹Und was hat Gott gemacht?›, will der Mann wissen. ‹Ein neues Testament.›»
Klimt lachte scheppernd.
«Ein neues Testament! Das ‹Neue Testament›! Was für eine geniale Pointe. Vor allem – wie leicht zu übertragen. Hitler, meine Damen und Herren, hat kein politisches Testament hinterlassen. Er begnügte sich mit der Ordnung seiner privaten Hinterlassenschaft und dem Nerobefehl: ‹Möge Deutschland mit mir untergehen!› Wie gesagt, er war ein eitler Mann, der sich in seinem Tun erschöpft hatte. Er selbst war der größte Volksschädling. Ganz anders die ihm nachgeordneten Funktionäre, allen voran: Alfred Rosenberg. Der Name sagt Ihnen nichts oder nur wenig? Der ‹Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts› – sein Hauptwerk. Alfred Rosenberg war Hitlers Chefideologe und Ideengeber. Darüber hinaus war er ein williger und sehr geschickter Handlanger. Im Zweiten Weltkrieg ging er mit seinem Einsatzstab ‹Reichsleiter Rosenberg› auf Raubzug durch ganz Europa, als Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete trieb er deren Germanisierung voran, soll heißen, er war einer der Organisatoren der systematischen Judenvernichtung. Im Nürnberger Prozess wurde Rosenberg als Hauptschuldiger der NS-Kriegsverbrechen angeklagt, in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. So viel zu den Fakten, die viele kennen. Nun zu den Fakten, die nur wenigen bekannt sind. Rosenberg führte zeitlebens Tagebuch, ein politisches Tagebuch, wie es sich bei seinem Charakter von selbst versteht. Diese Tagebücher, die zeitlich bis zum Ende des Krieges reichten, lagen dem alliierten Gericht, namentlich dem Ankläger Robert Kempner, in Auszügen vor. Aufgrund ihrer Brisanz wurden sie allerdings unter Verschluss gehalten – und verschwanden. Böse Zungen behaupteten, Kempner habe sie unterschlagen, was Blödsinn ist, er hat mehrfach darauf hingewiesen, dass er selbst zeitlebens auf der Suche nach diesem Tagebuch war. Im Übrigen» – Klimt kicherte – «alle, die glauben, hier würde ein Märchen ähnlich wie das von Hitlers Tagebüchern erzählt, mögen in die nächste Bibliothek gehen und sich kundig machen. Ich sehe ja an Ihrer Unruhe, dass Sie geneigt sind, meinen Ausführungen mit Misstrauen zu begegnen, Ihr gutes Recht. Mein Recht ist es, Ihnen und dieser Heerschar verblödeter Historiker die Kompetenz abzusprechen, die Fakten vorurteilsfrei zu deuten.»
Klimts Sekretär trat an das Stehpult und schenkte Wasser in das halb volle Glas. Sein Chef winkte ihn unwirsch beiseite, aber die kleine Geste der Beruhigung, sei sie verabredet gewesen oder auf eigenen Einfall des Sekretärs hin erfolgt, brachte ihn wieder ein wenig zur Besinnung.
«Zu den Fakten: Rosenbergs Aufzeichnungen galten und gelten als verschollen. Am dreißigsten Jahrestag der Machtergreifung erschien in einem deutschen Nachrichtenmagazin die Meldung, dass im sowjetischen Außenministerium geplant sei, zwei Bände der Rosenberg-Tagebücher zu veröffentlichen. Die Meldung war einfach von der sowjetischen Presse übernommen worden und erwies sich als falsch. Jede Nachfrage bei den russischen Behörden blieb ohne Antwort. Jede weitere Nachforschung schien aussichtslos.»
Klimt klopfte wiederholt mit seinem Gehstock auf den Boden.
«Vollkommen aussichtslos. So auch der Befund meiner lieben historischen Kollegen, die ich um Rat fragte. Von welcher Seite kam Hilfe? Meine Damen und Herren, zuweilen kann man die Ironie des Schicksals gar nicht genug belächeln! Eine Nachricht, die auch vielen Laien nicht entgangen sein dürfte: Die Verliese des vatikanischen Archivs öffneten sich vor einiger Zeit. Ahnen Sie, was das für einen Historiker bedeutet, meine Damen und Herren?! Stellen Sie sich vor, die Mafia hätte über Jahrzehnte hinweg penibel Buch geführt über all ihre Untaten, über all die Politiker, die von ihr geschmiert wurden, über all die Komplotte, die je mit den Mächtigen der Wirtschaft geschmiedet wurden, Band um Band eine Chronik des Grauens! Und nun erst die katholische Kirche! Nein, nein, ich weiß, Sie erwarten, dass mir Schaum vor den Mund tritt und ich nun eine meiner gewöhnlichen Brandreden gegen diese schlimmste aller spirituellen Verbrecherorganisationen halten werde. Keinesfalls. Ich bewundere die katholische Kirche für die organisatorische Effizienz ihrer Machtausübung. Ich bewundere sie für ihre vatikanische Bibliothek und ihr Archiv. Das Gedächtnis der Menschheit! Gut, ein wenig einseitig sortiert, aber was für ein Schatz an Geheimwissen! Annähernd zwei Jahrtausende spionierten Priester und Laien im Namen des Allmächtigen alles und jeden aus, der in den Ruch kam, der Kirche schaden zu können!»
Klimt schien kurz vor einem Herzinfarkt, so heftig schnaufte er.
«Ahnen Sie etwas? Ahnen Sie, wie umfangreich die Dossiers über all die Mächtigen der nationalsozialistischen Bewegung sind? Nein, Sie können es nicht ahnen, denn es übersteigt Ihre Vorstellungskraft. Ja, ich gebe es gern zu, selbst meine Erwartungen wurden übertroffen! Jeder weiß, dass der Vatikan sich mit Hitler einließ, weil er um die Zukunft der Kirche in einem Reich völkischen Glaubens bangte. Jeder weiß, wie wenig die Antisemiten in Soutane getan haben, um die Judenverfolgung zu verhindern. Alles bekannt, alles bekannt, wenn auch ungern gehört. Aber in welchem Ausmaß die vatikanischen Spitzel die Führungskräfte der NSDAP observiert haben, hat selbst mich überrascht. Allen voran – ja, Sie werden es nicht glauben, allen voran Alfred Rosenberg. Er, der Chefdenker der Nazis, war der ärgste Feind, die gefährlichste Bedrohung der vatikanischen Kamarilla. Er hielt nichts vom Christentum, nichts vom Papst, er wollte eine germanische Religion und war deshalb von Beginn an im Fadenkreuz der Inquisitoren. Jede Schrift von ihm, jedes Buch, jede wichtige Akte in Abschrift, findet sich im Vatikan, natürlich auch das Manuskript seiner Erinnerungen, kurz vor Kriegsende verfasst – und sein Tagebuch!»
Im Saal wurde es mit einem Schlag dunkel. Auf der Leinwand hinter dem Stehpult wurde es blendend hell. Ein Raunen ging durch den Saal. Einzelne standen auf, Stühle fielen. Aber der Schock über das Bild, das auf die Leinwand projiziert wurde, bannte die Leute an ihre Plätze.
Klimt blickte mit sichtlicher Genugtuung auf die erschrockenen Gesichter vor ihm. Er wies mit seinem Gehstock in die große Runde der Zuhörer.






