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Der Schmerz kam so überraschend, dass sie gar nicht wusste, woher er eigentlich rührte. Sie riss die Augen auf. Der Mann hatte sich nur leicht über ihr Bett gebeugt und den lanzenartigen, zugespitzten Mikadostab kurz oberhalb ihres Brustansatzes in ihr Fleisch gebohrt, tief genug, um brutal zu schmerzen, aber es würde sie nicht töten. Das spürte sie. Ein einzelner Mikadostab würde sie nicht töten. Sie musste lächeln bei dem Gedanken. Tränen schossen in ihre Augen, als der zweite Stab sich neben den ersten bohrte. Der Mann links von ihrem Bett war vorgetreten und hatte die zweite Lanze direkt neben die erste gesetzt. Noch ehe sie begriff, bohrte sich der dritte Stab neben den zweiten. Die Männer ließen sich exakt so viel Zeit, dass sie den Schmerz unterscheiden konnte, jeder neue Stab ein neuer Schmerz.
Sie blickte erstaunt auf den Mann am Fußende. Er hatte ihr doch geschworen, es würde alles gut werden. Sie kannte ihn, sie wusste, warum sie zum ihm gekommen war. Er sollte sie gesund machen. Er hatte versprochen, sie zu heilen. Der Tenno, der Herrscher, der weiße Magier. Aber jetzt spießten seine Helfer Stab um Stab in ihren Brustkorb.
Sie begann mitzuzählen. Zehn eiserne Stäbe staken schon in ihrer Brust. Sie konnte nur ihre spitzen Enden sehen, die leicht zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte leicht. Weil der elfte Stab noch einmal Schmerz brachte, mehr Schmerz, und sie verwundert fühlte, wie sich ihr ganzer Körper in einen einzigen Schmerz verwandelte, in einen einzigen Schrei, der nur als leises Wimmern nach außen drang. Sie biss sich wieder und wieder auf die Zunge, das war erträglicher als der Schmerz von Stab Nummer zwanzig, und einundzwanzig, und Stab Nummer dreiundzwanzig würde die Ohnmacht bringen. Aber sie konnte noch zählen bei Stab Nummer fünfunddreißig und sechsunddreißig und siebenunddreißig, bis ihre Brust umrundet war von Schmerz. Ein Ring von Schmerz und Feuer, und eine Angst schlich sich ein, ein Bild, eine verkohlte Brust, ein Stückchen Kohle nur noch auf einem verbrannt flachen Brustkorb. Der Strahlenkranz um ihre Brust, er hatte alles verbrannt. Sie würde einfach abfallen. Totes verkohltes Fleisch. Ihre Brust würde einfach abfallen.
Der Mann löste ihre Fesseln. Winkte ihr zu, sich vorzubeugen. Die beiden Helfer links und rechts boten ihr an, sie aufzurichten. Sie schüttelte den Kopf, heftiger und heftiger. Sie würde sich nicht aufrichten. Ihre Brust, sie wollte ihre Brust nicht verlieren. Sie würde sich nicht aufrichten. Sie würde niemals mehr die Augen öffnen. Sie war zufrieden mit dem nachlassenden Schmerz. Sie wollte schlafen. Sie würde schlafen. Schlafen, bis alles wieder gut war.
Aber ihre Hände waren frei. Ihre Hände waren neugieriger als sie selbst. Ihre Hände wollten sehen und fühlen. Wo die Stäbe geblieben waren, wo der Schmerz saß, wo das Blut rann. Ihre Hände schlichen sich an ihrem Körper hoch, langsam über den Bauch, sie spürte ihre Rippen immer noch zittern, die Hände streichelten sich höher, beruhigend, kamen näher an ihre Brüste, kein Einstich war zu spüren, die Zeigefinger strichen seitwärts, fühlten, verglichen, die Haut war glatt, ohne Einstiche, alles verheilt, im Nu, nie war etwas geschehen, die Hände strichen höher, fühlten ihre Brüste, glitten über sie hinweg, blieben ruhig liegen. Sie atmete ruhig. Nichts war geschehen, nichts.
Aber da stand immer noch er. Am Fußende des Bettes. Er zog den Mundschutz ein wenig nach unten.
«Sehr tapfer!» Sie vermutete ein spöttisches Lächeln in seinen Augen, aber sie konnte es nicht sehen. «Unangenehm so eine Strahlentherapie, aber ich verspreche Ihnen, Sie sind geheilt!»
Sie hielt ihre beiden Brüste fest, starrte ihm in die Augen, glaubte ihm kein Wort.
«Sie sind geheilt, nach diesem letzten kleinen Schmerz.» Der Stahl rammte sich in ihren Unterleib, durchstieß die Gebärmutter, riss die Lungenflügel auf, zermalmte ihr Kiefer und Kopf und ließ sie zurück, gepfählt und wund und immer noch am Leben. Sie schlug die Augen auf. In den ersten Wochen, als sie diesen Traum immer wieder träumte, waren die Augen noch tränennass gewesen. Anfangs erwachte sie mit einem Schrei auf den Lippen oder mit Blutgeschmack auf der Zunge, weil sie sich im Traum darauf gebissen hatte. In den letzten Wochen wachte sie ungerührt auf, ohne Tränen, ohne Blut, ohne Schrecken, sie wusste, sie würde diesen Traum ihr Leben lang träumen.
Ihr Anrufbeantworter blinkte. Am Abend zuvor war sie zu müde gewesen. Sie wollte einfach ihre Ruhe haben. An diesem Morgen war es nicht anders. Lebenslänglich Schlaf. Einen Augenblick war sie versucht, die Nachrichten einfach zu löschen. Dann drückte sie pflichtschuldig die Abfragetaste.
Ihr Vater bat um einen Rückruf. Wie immer versuchte er selbst bei einer so einfachen Sache, dem Ganzen eine witzige Wendung zu geben. Aber es war sinnlos, ihn darauf hinzuweisen, dass er zu alt war für seine Scherze. «Das Leben ist doch schon ernst genug», würde er entgegnen, «da hilft doch ein Lachen über vieles hinweg!» Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich seit Kindertagen nur eins wünschte, dass ihm dieses Lachen irgendwann im Hals stecken bleiben würde. Nicht weil sie das Lachen störte, sondern sein Selbstmitleid, das ihn zum Lachen brachte – er tat es nicht aus freien Stücken, niemals. Für Außenstehende war das kaum herauszuhören, aber sie trieb es in den Wahnsinn.
Der zweite Anruf kam von Wilson. Er wollte sich mit ihr treffen, und zwar möglichst bald, was zu erwarten gewesen war. Was sie überraschte, seine Stimme klang nicht unsympathisch, jetzt, da sie körperlos war. Ihr Widerwille gegen seine Arroganz bezog sich wohl mehr auf sein Äußeres, weniger auf seinen Charakter. Das machte sie nachdenklich und ein wenig neugieriger auf ihn als Menschen. Eine so unbefangene Stimme, die eine Bitte um ein Zusammentreffen so ruhig und sachlich vortrug, obwohl sie beide sich nicht kannten, hatte sie lange nicht gehört. Sie musste lauthals lachen. Dieses Kompliment würde sie ihn garantiert nie hören lassen. Da konnte seine Stimme noch so verführerisch sein.
Die dritte Nachricht kam von Ralf. Das hatte sie befürchtet.
«Ich muss dich wiedersehen!»
Mr. Teflon. Die Begegnung war kurz gewesen und zufällig. Im Soho House hatte er an der Bar gelehnt. Sie war monatelang nicht mehr dort gewesen. Ihm zuliebe. Sie konnte ihm nicht seine zweite Heimat rauben. Als er sie hereinkommen sah, war er zusammengezuckt. Das schlechte Gewissen hatte sich in seinem kindlichen Gesicht so deutlich abgezeichnet, dass er ihr fast leidgetan hatte. Das war seine Masche. Die eigene Schuld bei anderen abladen. Die Masche wirkte immer.
«Wie geht es dir, mein Herz?!» Er hatte sie am Arm gefasst, als wäre da immer noch ein Eigentumsanspruch, obwohl er sie knapp ein Jahr zuvor offiziell zum Umtausch freigegeben hatte. «Gut», hatte sie entgegnet, «gut geht es mir», und war davongeeilt. Sie ertrug seine Naivität nicht. Sie konnte sie ihm aber auch nicht zum Vorwurf machen, denn genau dafür hatte sie ihn geliebt.
Sie erinnerte sich noch gut an seinen Blick, als sie ihm damals die Diagnose mitteilen wollte. Geradewegs vom Arzt war sie zum ihm geeilt.
«Süße, wenig Zeit jetzt, wir reden heute Abend, ja?!»
Er war in seinem Drehstuhl einmal rundherum gewirbelt und exakt vor dem Bildschirm seines Laptops wieder zum Halten gekommen.
«Doch, du hast Zeit, jetzt!»
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und er sah erstaunt auf. Er war es nicht gewohnt, Widerworte zu hören. Schon gar nicht in seinem Büro.
Ralf Marquardt war der erfolgreichste Infotainer der Republik. News-Dealer, wie er sich selbst nannte, Schlagzeilenfabrikant der besseren Art. Seine Filmreportagen waren Publikumsbringer, weil er genau den Stoff lieferte, den die Leute liebten:
24-Stunden-Zuhälter, 30-Tage-Milliardär, Lebenslänglich-Looser. Es war der immer gleiche Mix aus Sex, Crime und Voyeurismus, der nur wirkte, weil nichts daran gefälscht war. Das Material war echt, seine Kontakte waren erstklassig und seine Konkurrenten hilflos. Ralf war in vielen Milieus zu Hause, aber nichts blieb an ihm haften. Als sie ihn das erste Mal traf, hatte sie so erstaunt die Augen aufgerissen, dass er aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen war.
«Wen haben Sie erwartet? Al Pacino im Frack?»
«Das nicht. Aber auch nicht Leonardo DiCaprio in Turnhosen!»
Er hatte sie damals tatsächlich im Trainingsanzug empfangen. Das Haar verwuschelt, unrasiert. Vor sich ein großes Glas Orangensaft. ‹Was für ein Junge!›, dachte sie und war verliebt vom ersten Augenblick an. Endlich das, wonach sie sich von Kindesbeinen an gesehnt hatte: Ein unbeschwerter Mensch.
Nach und nach begriff sie, dass genau das das Geheimnis seines Erfolgs war, seine unbekümmerte Art. Er war der Typ, den jeder zum Freund haben wollte, dem keiner etwas neidete, der Männern wie Frauen gleichermaßen gefiel. Mehr als ein Sonnyboy, ein Liebling der Götter. Das hatte sie damals wirklich geglaubt, und auch wenn ihr von Anfang an Zweifel gekommen waren, sie wollte es nicht anders. Sie wollte ihn genau so, wie alle anderen ihn auch wollten, wie man selbst nie gewesen war: unbekümmert, glücklich. Rekord für ihn und für sie: Fast ein Jahr lang waren sie ein Paar. Ihr Vater hatte sie dafür verachtet. Absurd für einen, der morgens nicht wusste, aus welcher Kneipe er abends geflogen war. Als ihr Vater Ralf das erste Mal begegnete, verharrte er geradezu in einer Höflichkeitsstarre, so erstaunt war er über diese genetische Variante ‹Mann›. Natürlich verabscheute er Ralf vom ersten Augenblick an und selbstverständlich ließ er keine Gelegenheit aus, ihn schlechtzumachen. Eine Zeit lang hatte sie ihn sogar in Verdacht, dass er einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt hatte, nur um ihr zu beweisen, was sie ohnehin schon wusste: Dass er ein mieser Karrierist war, der über Leichen ging, ach was, ging, er sprintete darüber hinweg.
Dass Ralf alles andere war als harmlos, begriff sie leider erst viel zu spät. Sie fühlte sich bei ihm an die Geschichte von Dorian Gray erinnert, ein so schöner Mensch, der es aber nie wagen durfte, einen Blick auf sein wirkliches Spiegelbild, das Spiegelbild seiner Seele zu werfen. «Da hab ich auch kein Interesse dran!», hätte er entgegnet. Sie war sich in den Wochen und Monaten ihres Zusammenseins nie klar darüber geworden, ob er tatsächlich ein so eiskalter Hund war oder ob er sein Herz nur mit Stahlplatten gepanzert hatte, weil er jede enge Beziehung aus Selbstschutz mied. Die klassische Liebesfalle. Auf die einfache Erklärung, dass er von der Nasenspitze bis zu den Fußsohlen zugekokst war, wäre sie damals nie gekommen. Sie hielt seine kranke Euphorie für Liebe. Natürlich hatte das ihren Ehrgeiz geweckt, endlich Herrin ihres Glücks zu sein, und alles hätte auch gut so weiterlaufen können, ein Wettbewerb um das bebende Herz, ausgetragen von zwei gleichstarken Konkurrenten, denn sie selbst hatte auch nie einen anderen Menschen nahe an sich herangelassen – wäre da nicht die Katastrophe eingetreten. Ihre ganz persönliche Katastrophe, die ihn völlig kaltließ.
«Doch, du hast Zeit, jetzt!»
Sie hatte ihn in den Sessel gedrückt. Da war er wieder, sein ängstlicher Blick, der Blick eines kleinen Jungen, der sich sorgt, dass ihm zu viele Hausaufgaben zugemutet werden, obwohl er doch nur eins will: spielen. Fast hätte sie lachen müssen.
«Ich war beim Arzt!»
«Bei welchem Arzt …?», fragte er erstaunt, als wäre ein Arztbesuch in ihrem Alter etwas völlig Abwegiges. Er legte die Stirn in Falten. «Du bist doch nicht etwa …»
«Schwanger? Nein, keine Sorge …»
«Das ist schön. Ich meine, das ist gut, dass nichts Ernstes …» Er geriet ins Stottern.
«Krebs. Brustkrebs. Bösartig.»
Er schüttelte sich.
«Was heißt das?»
Sie hatte es ihm sehr sachlich erklärt. Wann die OP stattfinden würde, die Chemo, die Strahlentherapie.
Er hatte sie in den Arm genommen, ganz eng an sich gedrückt und dann erklärt: «Tut mit leid, aber damit möchte ich nichts zu tun haben.»
Es war ein Satz ohne Ausrufezeichen, völlig emotionslos gesprochen. Was gut war, so konnte sie nicht einmal in Tränen ausbrechen. Er blieb einfach stehen und wartete, bis sie sein Büro verließ. In den Tagen und Wochen darauf ließ er nichts mehr von sich hören. Einfach so. Er hatte sich einfach so davongemacht.
Sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Er tat das, was sie auch am liebsten getan hätte. Wegrennen bis ans Ende der Welt und noch ein Stück weiter.
Jetzt plötzlich war er wieder da. Und sie würde mit ihm schlafen … Würde sie? Ja, das hatte sie fest vor, aus einem ganz einfachen Grund.
Donnerstag, 8. März, 11 Uhr
Auguststraße
«Was hältst du davon?»
Richard Claasen rührte nachdenklich in seinem grünen Tee. Es hatte Tage gegeben, da hätte er mit einer solchen Brühe nicht mal die Blumen gegossen, dachte Martina mit bitterer Belustigung, denn sie war froh, dass diese Tage lange zurücklagen. Fünf Jahre hatte er schon nichts mehr getrunken – aber eine gewisse Fahrigkeit in den Bewegungen war geblieben.
Sie saßen im Café der Kunstwerke in der Auguststraße. Sein Stammcafé, der vielen Zeitungen und Zeitschriften wegen. Sie vermutete eher der Touristinnen wegen, die in Scharen das nebenan gelegene Museum für moderne Kunst stürmten, hyperinteressiert die Treppen hoch- und runtertrippelten und dann erschöpft ihren Latte macchiato orderten.
«Klingt so verrückt, dass was dran sein könnte!»
Er musterte sie eindringlich.
«Aber wichtiger ist doch: Wie geht es dir? So allgemein und im Besonderen? Warum lässt du so wenig von dir hören?!» Da war es wieder, dieses Selbstmitleidige, Vorwurfsvolle. Sie sah angestrengt hinaus auf den Hof, weil sie ihn nicht ihren Unmut spüren lassen wollte. «Ich bin nicht hier, Paps, um dir aus meiner Krankenakte vorzulesen!»
Sie sah, dass er versucht war, ihre Hand zu tätscheln, aber ihr böser Blick brachte ihn schnell zurück zum eigentlichen Thema.
«Schon gut, mein Schatz. Schon gut. Reg dich nicht auf. Okay, der Typ will sich umbringen, du bekommst das Exklusivinterview mit seinem Todesengel, was gibt es da groß zu überlegen?»
«Die Sache stinkt!»
«Stimmt! Sagt das Trüffelschwein und freut sich über den Fund. Ist nun mal unser Job.»
Richard Claasen hatte seit Jahren keinen Artikel mehr geschrieben, dennoch redete er noch immer in der Wir-Form, wenn er seine Tochter traf. Sie hatte ihm einige kleinere Rechercheaufträge zukommen lassen, und er hatte sich alle Mühe gegeben, das nicht als Akt des Mitleids zu begreifen.
«Machen wir einen Deal wie in den guten alten Zeiten: Gib mir vierundzwanzig Stunden, um diesen Klimt zu durchleuchten …»
«Deal abgemacht. Aber bleib diskret!» Martina wusste, dass sie genauso gut einen Pinguin hätte bitten können, seinen Frack auszuziehen.
Sie stand auf und sah mit einem kindlichen Lächeln auf sein graues Haar. Es nahm ihr immer noch den Atem, wenn sie daran dachte, dass er sie überleben könnte. Der Gedanke verstörte sie nicht, er machte sie nur tieftraurig, denn sie war sich sicher, dass er es allein nicht schaffen würde.
Claasen wollte sich erheben, aber sie ahnte, dass eine Umarmung drohte, und drückte ihn wieder zurück auf den Stuhl.
«Ist schon gut, Paps! Versprochen ist versprochen! Du hängst nichts an die große Glocke!»
«Pfadfinderehrenwort!», grinste er, aber da war sie schon auf dem Weg zum Tresen, um die Rechnung zu zahlen. Im Innenhof wandte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Er winkte mit beiden Händen zurück.
«Noch einen doppelten Espresso!»
Vermutlich hatte sie auch den schon bezahlt, dachte er verbittert, denn sie kannte ihn ja in- und auswendig.
Richard Claasen liebte seine Tochter über alles. Er liebte sie mit diesem völlig reinen und guten Gefühl, einem besonderen Menschen das Leben geschenkt zu haben. Tag für Tag hatte er dafür dem lieben Gott gedankt, auch wenn er eigentlich den Teufel für den Drahtzieher seines Lebens hielt. In seinen verlorensten Jahren war es immer der Gedanke an seine Tochter gewesen, der ihn vom letzten Schritt abgehalten hatte, aber in den letzten Monaten ging sie ihm gewaltig auf die Nerven.
Er hasste den Gedanken, dass die Krankheit noch einmal ausbrechen könnte, er verfluchte den Tag, da er das erste Mal davon gehört hatte. Ihr blasses durchscheinendes Gesicht nach dem Ende der Chemotherapie trieb ihn nachts um, immer wieder erschien sie ihm, ein Todesengel, der an sein Bett trat, seine Hand nahm und zart flüsterte: «Mach dir keine Sorgen!»
Verdammt noch mal, er machte sich Sorgen, verdammt große Sorgen, denn das Mädchen, das er kannte und liebte, war ihm abhandengekommen und stattdessen war eine gepanzerte Jeanne d’Arc erschienen, die glaubte, ihren Krieg gegen Gott und die Welt alleine führen zu können. Das konnte sie nicht.
«Lass dir doch einfach mal helfen, verdammt!», hatte er sie angeherrscht, als sie wieder mal sein Angebot ausgeschlagen hatte, ihr ein wenig mehr Arbeit abzunehmen. Aber sie hatte nur kühl abgelehnt. Genau diese beherrschte Kühle brachte ihn zur Verzweiflung. Er wusste auch genau warum. Ihre Mutter war genauso gewesen. Als sie ihn verabschiedet hatte, damals, vor ziemlich genau zwanzig Jahren, hatte sie keine Miene verzogen. Er wurde einfach entlassen. Aber selbst bei seiner Entlassung hatte sich der Chefredakteur um ein paar freundliche Worte bemüht, auch wenn sie beide wussten, dass die Redaktion heilfroh war, ihn loszuwerden.
Das hatte er gut verstehen können. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie unbeliebt ein cholerischer Alkoholiker war, der glaubte, alles besser zu wissen, weil er in der Steinzeit für gewaltige Schlagzeilen gesorgt hatte. Seine Kollegen waren froh, ihn losgeworden zu sein, und er war froh, diese Karriereschnösel nicht mehr sehen zu müssen.
Aber dass Alina ihn einfach so von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt hatte, das hatte er nicht so einfach weggesteckt. Obwohl er natürlich wusste, dass es ihr gutes Recht war, endlich ein eigenes Leben zu führen. Eins, in dem es nicht um Suff und Geld und Ruhm ging.
Fünf Jahre war er jetzt trocken. Nicht ein Mal hatte sie angerufen. Nicht ein Mal hatte er gewagt, sich bei ihr zu melden. Martina traf sie regelmäßig, aber mehr als ein «Geht ihr gut» war ihr nicht zu entlocken. Als ob die beiden ein Schweigegelübde abgelegt hätten. Aber kein Mensch ist so beschissen schlecht, als dass man ihn einfach für den Rest seines Lebens totschweigen durfte.
«Lass die verdammte Flucherei», ermahnte er sich selbst und dankte der Kellnerin mit einem schiefen Lächeln für den Espresso.
«Ein frisches Glas Wasser bitte noch!»
Er wusste, wo Alina wohnte, weit draußen im Westteil der Stadt, wo ihn der Zufall nicht hinführen konnte. Einfach so in die Gegend zu fahren, sich in ein Café zu setzen und auf ihr Erscheinen zu hoffen, das traute er sich nicht. Das traute er auch dem Schicksal nicht zu, dass noch ein Happy End für ihn vorgesehen war.
Die Frau am Nebentisch trank einen Prosecco. Sie war nicht sonderlich schön. Eine dieser alternden Vernissagegängerinnen, die sonst nicht mehr viel im Leben zu tun hatten. Sie wirkte nicht grade sympathisch in ihrer verkrampften Art, aus dem Museumsspaziergang das Letzte an Genuss für diesen Tag, ihren freien Tag, herauszuholen. Aber ihren Prosecco, den neidete er ihr. Seit Monaten das erste Mal. Der Wunsch, sich irrsinnig zu betrinken. Auf der Stelle. Er faltete die Hände, unentwirrbar, sodass er weder ein Glas noch eine Tasse heben konnte, und betete das Versprechen vor sich hin, das er Martina gegeben hatte, sich nie mehr, nie mehr so gehen zu lassen. Nie mehr, nie mehr sollte sie ihn so sehen. Total besoffen. Dümmer als ein Tier. Regungsloser als ein Stein.
Aber sie war ihm im Gegenzug auch etwas schuldig, dachte er verbittert. Ein wenig mehr Liebe, ein bisschen weniger Mitleid. Sie unterschätzte ihn, hielt ihn für alt und abgekämpft, aber das war er nicht, noch lange nicht. Im Fall Klimt würde er ihr das beweisen.
Donnerstag, 8. März, 12 Uhr
Grandhotel, Klimts Suite
«Was für ein Scheißpublikum …»
Klimt suhlte sich in seiner Vulgarität wie eine Wildsau im Schlamm, dachte Wilson und musterte seinen Chef leicht angeekelt. Der hätte diesen Vergleich nicht einmal übel genommen, das war sein Verständnis von Männlichkeit – raumgreifende Rüpeleien, körperlich und verbal. ‹Zu viel Hemingway in der Jugend bringt jeden Mann um seine Tugend.› Wilson ertappte sich wieder einmal dabei, dass er absurd alberne Dinge denken musste, um seinen Chef überhaupt noch zu ertragen. ‹Smile or die, rhyme or cry.›
«Diese Idioten kapieren nichts, die könnten ihre eigenen Eier gerührt auf dem Silbertablett serviert bekommen und würden auch noch Danke sagen!»
Was Wilson noch mehr abstieß als diese sinnlosen Pöbeleien, war der Applaus heischende Blick von Klimt. Der saß in seinem schmalen französischen Hotelsessel, die dicken Schenkel eng zusammengepresst, die Fäuste auf den Armlehnen geballt, und spuckte mit hochrotem Kopf Obszönität um Obszönität auf den Teppich. In Kriegszeiten wäre es vermutlich Kautabak gewesen oder Zigarrenreste. Ein wenig wirkte er wie Churchill, nur ohne Amt und Würden.
Sie hatten im Schnelldurchlauf die Videoaufzeichnung des Vortrags studiert. Nach kaum drei Minuten kam die Frage, die Wilson eigentlich gleich vorab erwartet hätte: «Wie fanden Sie mich?» Die Frage klang beiläufig, aber Robert Wilson arbeitete schon zu lange für seinen Chef, als dass er sich davon hätte täuschen lassen. «Sensationell! Wie immer. Wir haben mehr Presse als der König der Löwen Flöhe!»
«Die Scheißkerle von der Presse interessieren mich nicht! Die würden jedem für diese Story den Hintern wischen. Was sagt das Publikum? Der einfache Mann auf der Straße? Ist die Botschaft angekommen?»
«Die Lawine kommt langsam ins Rollen. Die wichtigsten Boulevardblätter widmen sich dem Thema, etwas zaghaft noch, zugegeben, aber das wird sich rasch ändern. Hier: ‹Hitlers Erben unter uns.› Nice try, oder? ‹Hitlers Testament und sein Vollstrecker!› Alles noch etwas ungelenk, die Deutschen können immer noch nicht so gut mit ihrer Geschichte. Aber der hier ist gut: ‹Mord auf Abruf!› Sie trauen der Sache alle noch nicht so recht. Dazu kommt ein durchaus vertretbares Misstrauen bei so sensationellen Enthüllungen wie der unseren. Hitlers Tagebücher wurden ja auch recht schnell wieder aus dem Regal genommen. Aber wenn Sie nach meiner ganz privaten Einschätzung fragen, insbesondere wie Ihre Person wahrgenommen wird? Ja, die Leute wollen Sie unbedingt sterben sehen! Das kann man ihnen nicht mal übel nehmen, oder? Die Ankündigung, auch wenn sie etwas vernehmlicher hätte sein können, kam gut an! Gerade bei den Zuhörern im Saal.»
Charles Klimt kannte Wilson viel zu gut, als dass er sich von seiner zynisch willfährigen Art hätte beeindrucken lassen. Dennoch machte er sich einen Spaß daraus, ihm immer wieder Komplimente abzunötigen.
«Na immerhin haben wir schon ganz schön Schlamm aufgewirbelt, oder? Aber gut, zurück zum illustren Kreis der möglichen Attentäter …»
«Sie waren alle da.» Wilson wies auf einen kleinen hageren Herrn mit seidenem Schal, der während des Vortrages hektisch Notizen machte und kaum den Kopf hob.
«Ihr Freund Richard junior, der offenbar nie genug von ihren Ausführungen bekommen kann!»
Klimt hüstelte belustigt. Richard junior verfolgte ihn schon seit langer Zeit mit Morddrohungen. Er sah sich als Werkzeug des wiedergeborenen Herrn und vermutete in Klimt den leibhaftigen Antichristen, womit er nicht alleine stand. Allerdings bereitete die Beharrlichkeit seines Hasses inzwischen selbst Klimt ein wenig Sorge.
«Ich will nicht, dass mein Plan durch die Panikattacke eines Wirrkopfes durchkreuzt wird! Verstehen wir uns da?! Von wessen Hand ich sterbe, entscheide immer noch ich! Lassen Sie ihn verprügeln. Vielleicht kommt er dann zur Besinnung!»
Wilson hatte über jeden gefährlich scheinenden Gegner ein Dossier angelegt. Bei Richard junior musste er allerdings noch nicht mal seinen Laptop aufklappen, um alle relevanten Daten abzurufen. Richard war ein Gegner der ersten Stunde. Ein kleiner, hagerer, ein wenig bucklig wirkender Mann, ein Eindruck, der aber nur daher rührte, dass der Hass auf Klimt ihn geradezu niederzudrücken schien. Umso wahrscheinlicher war es, dass er diese Last irgendwann abzuschütteln gedachte. Es schien, als gönnte er seinem Erzfeind nicht einen einzigen weiteren Tag auf diesem sündigen Planeten.






