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Er packte das Dossier in seine Aktentasche. Ohne einen wirklichen Risiko-Job wie diesen würde sie nie wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinden, sondern einfach nur Dienst nach Vorschrift leisten. Allerdings gab es im Fall Klimt so viele Risiken, dass er es fast schon wieder bereute, ihr den Fall übertragen zu haben.
Er kannte von Hausen, den Mafia-Anwalt, er war ihm mehrfach persönlich begegnet, und er hatte noch seine Ankündigung im Ohr, dass er ihn in nicht allzu ferner Zeit mit brisantem Material über einige Prominente der A-Liga versorgen würde. Von Hausen war ein rationaler Mensch. Ein Mord war ihm ohne Weiteres zuzutrauen, er hätte wie Abraham seinen eigenen Sohn geopfert, wenn die Organisation es verlangt hätte. Er nannte den Verein dieser Nazispinner immer nur die «Organisation», weil er einen professionellen Abstand wahren wollte. Aber diese Organisation hatte seit jeher ein oberstes Gesetz: im Hintergrund agieren. Sie würden niemals in den Verdacht kommen wollen, für den Mord an einer Unschuldigen verantwortlich zu sein.
Dennoch wusste er seit genau drei Stunden, dass Martina bereits observiert wurde. Das musste kein schlechtes Zeichen sein, es konnte auch eine Schutzwache sein. Was ihn nervös machte, war, dass diese Schutzwache nicht auf seiner Gehaltsliste stand. Er hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte. Es konnte Klimt sein. Es konnte aber auch diese hochgradig verrückte Ayn Goldhouse sein. Die ging ihm allmählich wirklich auf die Nerven.
Das oberste Gesetz ihres Ordens war es von Anfang an gewesen, für Öffentlichkeit zu sorgen. Skandale zu initialisieren, wo immer es ging. Das war bislang ohne Blutvergießen vonstattengegangen – aber wie lange noch? Ayn Goldhouse hatte ein halbes Dutzend amerikanischer Politiker kaltgestellt, indem sie die Kerle mit herabgelassenen Hosen bloßstellte. Sie bediente die Presse mit Skandalgeschichten in Serie. Sein Verdacht war, sie produzierte die Skandale in eigener Regie. Das war für die Betroffenen peinlich, aber nicht tödlich. Zumindest hatte keiner den Mut gehabt, sich nach diesen Enthüllungsstorys selbst die Kugel zu geben. Klimt war da von einem anderen Format. Ihm traute er durchaus so einen Ehrentod von eigener Hand zu. Fragte sich nur, welche Leiche er im Keller liegen hatte. Dass da eine lag, dessen war er sich sicher.
Ayn Goldhouse wollte Klimt mit aller Gewalt zur Strecke bringen. Den Grund kannte er nicht. Aber ihr Jagdinstinkt hatte sie bislang noch nie in die Irre geführt. Das musste er anerkennen, auch wenn ihm diese Art von Fanatismus fremd war. Er spürte, dass sie es absolut ernst meinte. Und dass sie jeden liquidieren würde, der sich ihr bei diesem Vorhaben in den Weg stellte.
Kehrtmann kannte Martina, wenn sie einmal einen Fall übernahm, dann tat sie alles, um ihren Mandanten zu schützen, und zwar genau so lange, bis die Geschichte unter Dach und Fach war. Das konnte in diesem Fall verdammt viel zu lange sein. So jedenfalls würde sie sich ausdrücken. Und stur an der Sache weiterarbeiten.
Und er? Er würde alles tun, sie zu schützen. Das musste sie doch spüren: Dass all seine Bemühungen einen ganz einfachen Grund hatten. Ihr das Fluchen abzugewöhnen. Denn so konnte er sie doch nicht vor den Traualtar führen, fluchend. Er musste lächeln. Wie oft hatte er sich schon ihr Gesicht vorgestellt, wenn er vor ihr auf die Knie gehen würde: «Willst du meine Frau werden?» Sie mochte diese altmodische Art, dessen war er sich sicher. Er war sich nur unsicher, ob sie lachen oder weinen würde. Seinetwegen konnte sie auch beides tun, Hauptsache, sie nahm seinen Antrag an.
Er nahm den dünnen Sommermantel vom Hacken, warf ihn über den Arm und eilte zum Aufzug. Er hatte es plötzlich sehr eilig, an die frische Luft zu kommen. Sein Appetit war verschwunden, aber er verspürte plötzlich einen so heftigen Bewegungsdrang, dass er fast in den Laufschritt verfiel, als er die Friedrichstraße Richtung Checkpoint Charlie hinuntereilte. Sein Verfolger, ein dicker, asthmatisch schnaufender Mann, hatte Mühe, unauffällig nachzukommen.
Freitag, 9. März, 12 Uhr
von Hausens Villa im Grunewald
Er hasste seinen Vater. Er hasste seinen Vater auf eine so leidenschaftliche Weise, dass er manchmal selbst davor erschrak. Wenn er zurückdachte, war da nie ein anderes Gefühl gewesen. Seine früheste Erinnerung war, wie sein Vater ihm das Gesicht mit Schnee wusch. Er hatte geweint, weil ihm so kalt auf dem Schlitten war. Jahr für Jahr fuhren sie im Winter in den Schwarzwald. Sie wohnten in einem muffigen Holzhaus in einem finsteren Tal mit endlosen Tannenwäldern, durch die sie stundenlang wandern mussten. Sein Vater zog den Schlitten und abwechselnd durften sich er, seine Schwester oder sein Bruder darauf setzen. Das tat er allerdings nicht ihnen zuliebe. Das tat er der Kräftigung seines Organismus wegen. So drückte er sich aus. Kräftigung des Organismus. Stärkung des Lebenswillens. Unangreifbarkeit der Psyche. Hörte man ihm zu, befand man sich automatisch im Kriegszustand mit Gott und der Welt. Wobei, Gott gab es im Universum seines Vaters nicht, wie er schon bald herausfand. Er wäre nämlich gern in den Religionsunterricht gegangen. Aber er war nicht getauft.
«Warum bin ich nicht getauft?», hatte er seine Mutter gefragt.
«Wende dich an deinen Vater!», hatte sie nur entgegnet.
«Wende dich an deinen Vater», hatte er höhnisch ihre Worte wiederholt, wieder und wieder, «wende dich an deinen Vater!»
Er hatte tatsächlich all seinen Mut zusammengenommen, war – nachdem er pflichtschuldigst angeklopft hatte – ins Arbeitszimmer seines Vaters getreten und hatte ihn gefragt: «Warum bin ich nicht getauft?»
Sein Vater thronte hinter dem Schreibtisch und musterte ihn kalt. Er trug einen dunklen Anzug, wie immer, eine dunkle Krawatte und schnippte sich eine imaginäre Fluse vom Jackettärmel.
Im Laufe der Jahre verstand Helmar, was diese Geste wirklich bedeutete. Dieser Reinigungsimpuls galt ihm. Wann immer sein Vater ihn sah, wischte er irgendeinen unsichtbaren Partikel von seinem Anzug. Als wollte er ihn zum Verschwinden bringen.
Anfangs war er über die Frage fast verzweifelt, was genau sein Vater nicht an ihm mochte. Er tat alles, was ein kleiner Junge tun konnte, um seinem Vater zu imponieren.
Er trug eine ernste Miene zur Schau, benahm sich schon im Kindergarten wie ein Erwachsener, lachte so gut wie nie, redete altklug daher, erwog ein Jurastudium – und hörte doch nie ein gutes Wort. Seine Mutter war ihm gleichgültig. Sie war einfach eine Unperson. Vielleicht äffte er auch da schon seit Kindheitstagen seinen Vater nach. Bewusst war es ihm nicht. Seine Mutter zu verachten, schien ihm ein so natürliches, ein so zwingendes Gefühl, dass er nicht weiter darüber nachdachte.
Als er dann mitbekam, wie absichtsvoll und publikumsgeil sie seinen Vater betrog, war sie vollends für ihn gestorben. Seinen Geschwistern erging es ähnlich. Es war verrückt. Anstatt auf sie als Beistand zu hoffen, verfluchten sie gemeinsam ihre Anwesenheit in diesem Haus. Obwohl sie immer gut zu ihnen gewesen war. Sie umsorgt hatte. Sich um ihre Liebe bemühte. Die sie nie bekam. Weil sie ihr alle diesen Vater verübelten.
Was für ein Elternhaus! Außenstehende konnten nicht ahnen, welche Hölle ihr Leben war. Eine kalte Hölle.
Er hatte angefangen, täglich in der Bibel zu lesen. Das einzige Buch, in dem er eine Antwort finden konnte. Er wusste nicht, warum er sich da so sicher war. Vielleicht weil er jede Nacht gebetet hatte, dass da einer sein möge, der mächtiger war als sein Vater. Mächtiger und ein wenig gütiger.
«Gott ist gütig», hatte ihm ein Zeuge Jehovas vor dem Bahnhof Zoo anvertraut, «Gott ist gütig.»
Er hielt diese Broschüre wie eine Mahntafel weit von sich gestreckt und murmelte immer nur den gleichen Satz: «Gott ist gütig.» Helmar hatte lachen müssen über diesen seltsamen Mann mit seiner schlichten Botschaft, aber die Botschaft blieb in seinem Hirn, mehr noch, es war die einzige Botschaft, die je bis zu seinem Herzen vorgedrungen war.
«Gott ist gütig!»
Mit fünfzehn Jahren hatte er die Bibel von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen. Er verstand nicht alles, aber er war sich sicher, es irgendwann verstehen zu können.
Was er sehr genau verstand war, dass sein Vater ins Alte Testament gehörte. Für ihn war Jesus nicht gestorben. Für ihn war er nicht geboren worden.
«Warum bin ich nicht getauft worden?»
Es war selten, dass sein Vater Erstaunen zeigte. Als er ihm damals diese Frage gestellt hatte, war mehr als Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen gewesen, es war Erstaunen gepaart mit einer abgrundtiefen Verachtung.
«Warum du nicht getauft worden bist?» Sein Vater musste die Frage offensichtlich wiederholen, um sich ihren Sinn verständlich zu machen.
Helmar stand und wartete. Es war klar, dass sein Vater ihm keinen Stuhl anbot. Die beiden Stühle, die da vor dem Schreibtisch standen, waren nur für Klienten. Es war auch absehbar, dass er ihn wie einen rückfälligen Straftäter einige Minuten stumm vor dem Schreibtisch stehen lassen wollte, damit er sich seiner Schuld bewusst wurde.
Der Schuld, seinen Vater gestört zu haben, der Schuld, sich eine unaussprechlich dumme Frage ausgedacht zu haben, der niemals zu tilgenden Schuld, diese Frage auch noch laut gestellt zu haben. Vor allem aber: der Schuld der Anwesenheit.
Er blickte sich Hilfe suchend im Zimmer um, während sein Vater ihn kalt fixierte. Er war selten in diesem Raum. Sein Vater schloss ihn nie ab, aber es verstand sich von selbst, dass die Kinder darin nichts verloren hatten.
Es war ein gewaltiger Schreibtisch, hinter dem er thronte, ein Erbstück des Großvaters, von dem Helmar nur wusste, dass er ein Nazi gewesen war. Geredet wurde nie darüber, aber es gab diesen kurzen Artikel in Wikipedia, der wenig mehr als seinen damaligen Rang mitteilte. Auf dem Schreibtisch standen eine massive gusseiserne Lampe und ein Briefbeschwerer aus Marmor, wohl auch ein Erbstück, denn er wirkte sehr klobig und sehr bedrohlich. Helmar mochte diesen Briefbeschwerer aus einem ganz einfachen Grund, er hatte sich schon oft vorgestellt, seinem Vater damit den Schädel einzuschlagen, und es war jedes Mal ein gutes Gefühl gewesen, dass es da etwas Härteres gab als den Dickkopf seines Vaters.
Sein Vater klappte den Laptop zu, er hatte immer das neueste Modell, immer einen Toshiba, die Marke der Samurais!, und dennoch hatte man das Gefühl, dass er sich bei jedem Auf- und Zuklappen darüber ärgerte, dass es keinen deutschen Computerhersteller gab.
Von sich aus wäre Helmar nie auf die Idee gekommen, heimlich in dieses Arbeitszimmer einzutreten, obwohl es der einzige Raum im Haus war, in dem Bücher standen. Seine Schwester las nicht, sein Bruder blickte nie von seinem Laptop hoch, so kam es ihm zumindest vor. Und er selbst las nur in der Bibel, die er in seinem Sportrucksack verbarg. Aber er wollte wissen, was sein Vater las, was er dachte, was er fühlte. «Unser Vater?» – sein Bruder hatte ihn bei der Frage angesehen, als wäre er irrsinnig. «Was unser Vater denkt oder fühlt oder macht oder kackt, ist mir scheißegal. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann würde ich nicht auf seine Bücherwand starren, sondern seinen Laptop klauen!»
Als sein Vater auf einer seiner Auslandsreisen war, hatte er systematisch das Arbeitszimmer untersucht. Er wusste, es gab einen Safe hinter dem absurd kitschigen Heidebild links an der Wand, aber da war kein Rankommen. Er nahm alle Bände der Bücherwand rechts einzeln aus dem Regal, aber da war nichts, kein Kuvert, keine versteckten Zeitungsausschnitte, keine heimlichen Andenken. Nichts. Sauber aufgereiht standen die deutschen Klassiker in einer edlen blauen Leinenausgabe, unberührt. Er hätte schwören können, dass sein Vater nie einen Band davon in der Hand gehabt hatte. Das Gleiche galt für die Lexika. Ein deutsches, ein englisches und ein französisches. Wunderbar schwere Bände, nie angefasst. Dann hatte er sich den Schreibtisch vorgenommen. Sein Vater hatte nichts abgeschlossen. Er war sich wohl sicher, dass seine Kinder es nie wagen würden, seine privaten Sachen zu durchstöbern. Als Helmar alles durchgesehen hatte, war er sich auch klar darüber, warum sein Vater sich so sicher sein konnte. Es gab nichts Privates. Kein Bild, kein privater Brief, keine Pistole, nichts. In der einen Schublade Briefumschläge, in der anderen diverse Schreibutensilien, mehr nicht. Dieser Mann legte es darauf an, keine Spuren zu hinterlassen, aber warum hatte er dann Kinder gezeugt?
«Gott ist eine Ausrede. Eine Ausrede der Schwachen für ihre Schwäche.»
Sie hatten sich eine Weile unverwandt angestarrt. Sein Vater mit der gelangweilten Gelassenheit eines Richters, der sein Urteil längst gefällt hatte, weil er den Delinquenten in- und auswendig kannte. Er selbst mit dem ängstlichen Willen, ihm einmal, nur ein einziges Mal standhalten zu können.
Er hatte den Blick senken müssen. Als er nach einer Weile wieder aufsah, mühsam die Tränen unterdrückend, sah er den höhnischen Gesichtsausdruck seines Vaters. ‹Schwächling!› Dieser Gesichtsausdruck war nicht schwer zu übersetzen. «Mein Sohn ist ein pickliger Schwächling!»
In diesem Moment schwor sich Helmar, seinem Vater zu schaden, wo und wann immer er konnte.
Freitag, 9. März, 12 Uhr
Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement
Ayn Goldhouse ging nervös in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie hasste es, nicht rauchen zu dürfen. Einen Moment überlegte sie, sich im Bad eine Zigarette anzuzünden, heimlich, wie damals bei ihren Zieheltern, aber das erschien ihr schwach und kindlich. Außerdem waren die Feuermelder im Bad vermutlich noch empfindlicher als die im Living Room.
Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. Sie könnte aus dem Fenster rauchen, aber auch das hieße, vor einem Verbot kuschen. Aber das würde sie nie wieder tun, vor irgendwem, vor irgendetwas kuschen. Sie presste die geballten Fäuste fest auf das Fensterbrett. Vor ihr lag der Gendarmenmarkt, der schönste Platz der Stadt, mit dem Deutschen Dom, dem Französischen Dom, dazwischen das ehemalige Theater, jetzt Konzerthaus. Nicht dass sie etwas für die bürgerliche Kultur übriggehabt hätte, aber die machtvolle Bebauung des Platzes imponierte ihr. Faszinierend, sich vorzustellen, wie die Größen des Dritten Reiches die Stufen des Theaters hochgeschritten waren, in ihrem Schlepptau all die Kriecher und Speichellecker.
Sie hatte das Four Seasons gewählt, weil sie hier einen guten Blick auf das Hotel hatte, in dem Klimt untergebracht war, schräg gegenüber von ihr, ebenfalls fünfte Etage, sie konnte ihm direkt ins Zimmer sehen. Leider öffnete er niemals die Vorhänge.
Er hielt sich ebenfalls gerade in seiner Suite auf, hatte ihre persönliche Assistentin gerade gesimst; sie und eine weitere Mitarbeiterin teilten sich seine Überwachung, rund um die Uhr. Sie war über alles informiert, was er tat.
Seit drei Jahren überwachte sie ihn, seit dem Tag, als sie seinen Tod beschlossen hatte. Sie hatte es ihm damals persönlich mitgeteilt, und seine Gelassenheit war erstaunlich gewesen. Er hatte auf seinen Todesengel schon gewartet. Dass sie es war, schien ihn nicht sonderlich zu entsetzen. Im Gegenteil, sie spürte, dass er sie körperlich anziehend fand. Das war keine Neuigkeit für sie. Alte Männer mochten ihre kindliche Art, denn dafür hielten sie ihre zur Schau gestellte Naivität, für Kindlichkeit. Diese Kindlichkeit war schon immer ihr einziger Schutz gewesen, und ihre beste Waffe. Selbst mit einundfünfzig wirkte sie noch wie eine frühreife Ballerina, die arglos durchs Leben tanzt und ansonsten Schutz und Sicherheit in der Achselhöhle des Maestros sucht. Ihr war noch kein Mann begegnet, der diese Empfindung, sie schützend in die Arme nehmen zu müssen, nicht gehabt hatte. Bei Klimt war sie besonders deutlich zu spüren. Auch das verübelte sie ihm. Sie hätte ihn für klüger gehalten.
Was tat dieser Mann, wenn er allein im Hotelzimmer war? Sie konnte es sich vorstellen, sie konnte es sich nur allzu gut vorstellen. Er übte sich schon einmal im Spiel «Toter Mann». Nein, dazu brauchte sie keine Spitzelberichte, um sich in ihn hineinzudenken. Zuweilen sah sie Bilder, von denen sie überzeugt war, sie nicht zu halluzinieren. Sie richtete einfach ihr inneres Auge wie eine ferngesteuerte Kamera in andere Räume, auf andere Menschen.
Sie sah Klimt, wie er auf dem Bett lag. Er war gerade aus der Dusche gekommen, hatte sich frottiert, bis seine speckige Haut rosa glänzte. Er trug nur ein Unterhemd, eine Unterhose, in Weiß selbstredend, und warme Strümpfe, denn seine Füße waren schlecht durchblutet. Durch die Socken stachen seine Fußnägel, er legte keinen Wert auf Pediküre. Er legte überhaupt keinen Wert mehr auf seinen Körper. Schnaufend ließ er sich aufs Bett fallen, faltete die Hände über seinem Bauch und starrte an die Decke. In seinen Zimmern war es immer überhitzt. Er war zu alt, zu unsportlich, um seinen Körper selbst auf Betriebstemperatur zu bringen. Das mussten andere für ihn tun.
Wie oft hatte sie Männer wie ihn so daliegen sehen?! Es war ihr lieb gewesen, wenn sie das Unterhemd anbehielten, denn sie mochte diese haarigen Brustkörbe nicht, an die sie danach immer gepresst worden war. Dieses Schnaufen, das den Körper hob und senkte, so panisch manchmal, dass sie dachte, diese alten Säcke überlebten es nicht.
Sie hatten es alle überlebt, leider. Keiner war je gestorben, nachdem sie Sex mit ihm gehabt hatte.
Den ersten hatte sie mit fünfzehn vor sich liegen sehen, er war Klimt zum Verwechseln ähnlich gewesen, aber das war nicht der Grund, warum sie ihn so hasste. Damals war sie sogar froh gewesen, diesen Fettwanst aufgetan zu haben, denn er war so schüchtern und verklemmt, dass sie ihm nur einen blasen musste, um an das Geld zu kommen. Es hatte kaum fünf Minuten gedauert. Sie zog ihm die Unterhose runter, er roch nach Seife, hatte sich nicht richtig abgetrocknet, sie massierte ihm ein wenig die Eier. Er stöhnte auf. Was für ein Dummkopf, hatte sie damals gedacht. Warum verlangt er nicht mehr für sein Geld. Sie hatte ihm die Eier ein wenig fester zusammengepresst, was ihm gefiel.
«So einfach geht das mit euch.» Den Satz hatte sie in den Minuten danach wie ein Mantra vor sich hingemurmelt, damit der Ekel sie nicht überkam. Sie wollte das alles vom Kopf her begreifen, nicht vom Körper. Es war Kopfsache. Es war eine Machtfrage. Sie nahm seinen kleinen, halb erigierten Schwanz fester in die Hand, beugte sich ganz langsam über ihn, öffnete die Lippen und begann zu saugen. Lutschersaugen nannte sie das. «Ich saug deinen Lutscher!» – «Oh ja!» Mehr kam meist nicht als ein gepresstes: «Oh ja!»
Sie wusste, je langsamer sie saugen würde, desto schneller würde er kommen. Sie lauschte auf sein Schnaufen, das lenkte sie ab, und ließ sie ahnen, wann er kam. Er würde den Unterschied nicht merken, wenn er es ihr in die Hand spritzte. Im Mund wollte sie es nicht haben. In der Hand fühlte es sich an wie eine sehr wässrige Feuchtigkeitscreme, die sie ihm auf den zitternden Schenkeln verrieb.
Es war so einfach gewesen, an Geld zu kommen. Mit der Zeit fiel es ihr so leicht wie das Händewaschen danach. Hatte sie sich damals zumindest eingebildet. Die Drogen hatten damals ihr Hirn im Griff. Jeder Tag ein anderes Feuerwerk, bis nichts mehr zündete. Was blieb, waren die Erinnerungen an all die Kerle, die sie nach und nach auslöschte, Bilddatei für Bilddatei, Erase!
Sie war sich sicher, dass Klimt ab und an davon träumte. Wie sie ihm einen blies. Das hatte sie in seinem Blick gesehen. Dafür hasste sie ihn nicht. Warum nicht, warum sollte sie ihm nicht vor seinem Tod noch einen blasen. Wenn er es so leidenschaftlich wollte. Sie war gern bei der Erfüllung von Wünschen behilflich.
Gier war gut. Gier war ein gutes Gefühl. Gier hatte die Menschheit siegen gelehrt über die Natur. Gier hatte Helden gemacht. Mut zeigte jeder hin und wieder im Leben, aber die Gier, anderen voraus zu sein, die machte Helden. Nein, die Gier nahm sie ihm nicht übel. Seinen Körper nahm sie ihm übel. Sie hasste seine niedrige Statur, die Fettleibigkeit, die von dem lebenslangen Mangel an Bewegung herrührte. Sie hasste es, daran denken zu müssen, wie er aus allen Poren schwitzte, wenn er seine Vorträge hielt. Wie er nach den Lesungen mit schweißiger Hand Autogramme schrieb. Wie er dalag, jetzt auf dem Bett, ein widerliches Stück Fleisch, das sich anmaßte, Gottes Schöpfung zu leugnen, nur weil er sich selbst und Gottes Auftrag vergessen hatte, ein besserer Mensch zu werden, ein schöner Mensch. In die Hölle gehörte er, gar gekocht, in des Teufels Großmutter riesigen Kessel. Sie musste lauthals lachen bei dem Gedanken.
Aber sie würde ihm Gelegenheit geben, sich ihr zu nähern. Das wollte sie auskosten, das Restzittern eines lebendigen Toten. In seinen eigenen Räumen würde sie ihn empfangen zu einem Diner à deux. Von ihr ging die Initiative aus. Das mochte er, dessen war sie sich sicher. Die Einladungskarte hatte sie schon geschickt, morgen acht Uhr würde alles gerichtet sein für das letzte Abendmahl. Sie empfand den Gedanken nicht als Blasphemie. Wenn ihr eins immer zweifelsfrei gewesen war, dann, dass sie die rechtmäßige Nachfolgerin Jesu Christi war. Sie hatte gelitten wie er, sie hatte ein so schweres Kreuz getragen wie er, war dafür verlacht und verhöhnt worden, und viel hatte nicht gefehlt, so wäre sie für immer verstummt. Aber sie hatte über ihre Feinde triumphiert. Sie, Ayn Goldhouse, von den Eltern ausgesetzt, von Pflegeeltern großgezogen, versunken im Sumpf der Drogen und der Prostitution, wiederauferstanden im siebten Jahr, reiner und schöner denn je, und jetzt Herrscherin über den Orden der New Virgins.
Ja, es war Größenwahn, was sie zuweilen umtrieb. Aber sie beherrschte ihn, sie konnte damit umgehen, sie war kein Mann, sie war nicht wie Klimt, der seinen eigenen Allmachtsfantasien erlag. Sie wusste, was es hieß, schwach zu sein, zu schwach für das Leben, zu schwach selbst für den Tod.
Sie würde ihn spüren lassen, was es heißt, wirklich schwach zu sein, mit ansehen zu müssen, wie ein anderer leidet, ein geliebter Mensch. Sie war sich nur noch nicht sicher, ob seine Tochter oder seine Enkelin für seine Sünden büßen musste.
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