Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag

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Nili Masal wurde in einem israelischen Kibutz am Fuße der Golanhöhen sehr nah an der damaligen Grenze zu Syrien geboren. Ihr jüdischer Vater Rubén Glickmann stammte aus Polen und fand, ebenso wie ihre in Schleswig-Holstein geborene Mutter Elisabeth Keller, von allen Lissy genannt, samt Kindern Asyl vor der Naziverfolgung in Bolivien. Rubén machte in La Paz seine Lehre und arbeitete anschließend in der Bäckerei von Lissys Vater Heiko Keller. Kaum war Israel 1948 zum jüdischen Staat im eigens dafür geteilten Palästina ausgerufen worden, überfielen es feindlich gesinnte Araber, sowohl jene im eigenen Territorium als auch die aus den umliegenden Nachbarländern. Weil wohl die Vernichtung Israels durch die gewaltige Überzahl sowie die übermächtige militärische Ausrüstung der Angreifer drohte, wanderte Rubén ebenso wie Tausende jüdische Männer und Frauen aus aller Herren Länder herbei, um ihr zurückerworbenes Heimatland zu verteidigen. Nach dem Ersten Weltkrieg, der nach blutigen und verzweifelten Kämpfen mit einem Waffenstillstandsabkommen endete, trat Rubén in den Kibutz Halonim ein. Dort nahm er, wie viele andere auch, einen sinngemäß übersetzten hebräischen Nachnamen an: aus dem jiddischen Glickmann wurde Masal, was gleichwohl ›Glück‹ bedeutet.
Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, verbrachte ihre Mutter Lissy, damals noch ein Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg. Danach machte sie ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Da ihr Großvater Oskar Keller Jude gewesen war, meinte Lissy, sie sei zwar ja nur ›eine vierteljüdische Deutsche‹, jedoch hatten sie die gravierenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt dem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem rituellen Glauben oder dessen Religionsausübung. In Israel eingetroffen, trat Lissy ebenfalls in den Kibutz Halonim in Galiläa ein und gesellte sich dort zu den vielen Vereinskameraden ihrer vormaligen Lapazer jüdischen Jugendbewegung. Bereits während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien3 hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und die Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, zu arbeiten.
Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich studieren zu dürfen. Nun war Halonim erst zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim4 gegründet worden und deshalb auch noch lange nicht wohlhabend. Trotzdem wurde ihr und einem Kollegen gestattet, an einer spezialisierten Ausbildungsstelle zu studieren, und man sagte ihr die Übernahme der dadurch entstehenden Kosten zu.
Wegen ihrer riskanten Grenzlage wurde die Siedlung des Öfteren von marodierenden Eindringlingen aus dem syrischen Golan heimgesucht und die Bewohner standen deswegen stets in angespannter Wachsamkeit in Bereitschaft. Lissy war nach einiger Zeit eine engere Beziehung mit Rubén Masal eingegangen. Liliths – Lissys neuer israelischer Name – Liebesbeziehung zu dem ehemaligen Kameraden aus La Paz blieb nicht lange ohne Folgen, und so brachte sie ihren Sohn fast gleichzeitig mit dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums zur Welt. Beide hatten im Kibutz geheiratet und konnten nun von ihren bisherigen Junggesellen-Schlafgemächern zusammen mit dem Neugeborenen in ihren bescheidenen Shikun – eine kleine Behausung für Ehepaare – einziehen. In Erinnerung an Lissys Großvater, Hans-Peter von Steinberg, gaben sie ihrem Nachwuchs den Namen Hanan-Peres, sodass die Anfangsbuchstaben übereinstimmten. Kurz danach konnten sich beide wieder ihren Aufgaben – Rubén in der Bäckerei, Lilith bei ihren Hühnern – voll widmen. Wie in allen Kibutzim üblich, umsorgten tagsüber Kleinkinderbetreuerinnen alle neugeborenen Babys im gemeinsamen Hort. Lilith machte den Lul-Ausbau zu ihrer Lebensaufgabe. Die Stallungen wurden erweitert und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Allerdings entschied man sich schon seit den Anfängen für eine artgerechte Bodenhaltung der Tiere, anstatt sie in jene engen Legebatterien zu pferchen, die gerade damals überall grassierten, weil als ›state of the art‹ gefeiert. Lilith sah ihre Schützlinge eher als Geschöpfe und eben nicht als nackte Brathändelspießkost oder Eierlegemaschinen an.
Das friedliche Schaffen in der kommunalen Landwirtschaftsgemeinschaft wurde immerfort durch grausame Kriegsausbrüche jäh unterbrochen. Israel war seit der Staatsgründung ständig der Bedrohung der umliegenden feindlichen Nachbarn ausgesetzt, zu der sich nun auch der blutige Terror der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unter Jassir Arafat summierte. Die während der ersten Befreiungskämpfe teils aus dem Territorium Israels geflüchteten, teils verjagten Araber hatten zwar in den angrenzenden Ländern ungeliebte Zuflucht, aber keinerlei Integration erfahren oder gar eine neue Heimat gefunden. Sie wurden von den Regierenden in Ägypten, Syrien, Libanon und Jordanien absichtlich in elenden Flüchtlingslagern unter sehr prekären Bedingungen zusammengedrängt und lebten dort wie ein wucherndes Geschwür. Es war in der Tat eine probate Methode, um ihren Hass auf Israel zu wahren und noch weiter zu schüren. Neben den immer wieder vorkommenden militärischen Kriegsscharmützel, die meist von der israelischen Armee erfolgreich abgewehrt werden konnten, waren es die oft vorkommenden Kommandoaktionen der PLO-Attentäter, die alle Grenz-Kibutzim und -städte zur kontinuierlichen und erhöhten Wachsamkeit zwangen. Auch Halonim befand sich in einer dieser unmittelbaren Gefahrenzonen und blieb nicht von solch hinterhältigen Attacken verschont. Da die mordlüsternen Täter meist im Schutz der Dunkelheit heranschlichen, waren an den strategisch relevanten Stellen Wachposten aufgestellt, die aufmerksam das umliegende Gelände observierten. Und dennoch geschah es eines Tages, dass es einem dieser Meuchelmörder gelang, sich während der sengenden Mittagshitze unbemerkt bis an den Kinderhort heranzurobben und durch ein offenes Fenster zwei Handgranaten auf die wehrlosen Kleinen zu werfen. Eine der Betreuerinnen schaffte es gerade noch, sich zu opfern, indem sie versuchte, mit ihrem Körper die Granatenexplosion vor den Kindern abzuschirmen. Die andere Granate explodierte jedoch ungehindert im Raum und verursachte ein Massaker: Sieben Kinder, darunter auch der gerade einjährige Hanan-Peres Masal, waren auf der Stelle tot, vierzehn andere teils schwer verwundet. Leider eine halbe Minute zu spät entdeckte man den Attentäter vom Wachturm aus und tötete ihn mit gezielten Schüssen.
Der gewaltige Schock traf die Gemeinschaft zutiefst. Mit einem Schlag hatte der Mörder fast zwei Drittel der Kibutz-Nachkommenschaft vernichtet oder schwer verletzt. Untröstlich die Eltern der Getöteten, schwer traumatisiert jene der Verletzten. Verständliche Rachegefühle wurden geweckt, und während eines nächtlichen bewaffneten Überfalls auf ein unweit gelegenes syrisches Dorf auf dem Golan, in dem sich auch ein PLO-Stützpunkt versteckte, gelang es, fünf weitere dieser Terroristen unschädlich zu machen. Aber auch dies konnte das junge verblutete Leben nicht zurückbringen. Lilith musste drei Monate in einem Nervensanatorium verbringen, um über ihre schwere Depression hinwegzukommen. Als begleitende Therapie begann sie wieder die Flöte zu spielen, was ihr schon als Kind in Bolivien und danach während ihrer Hamburger Gymnasialzeit so viel Freude bereitet hatte. Das vom längst verstorbenen Familienfreund Onkel Suhl stammende Instrument hatte sie während ihrer Auswanderung nach Israel begleitet, ohne dass sie bisher hier dazu gekommen war, ihr vormals so geschätztes Hobby weiter zu betreiben.
Mit der Zeit schwand allmählich der tiefe Elternschmerz über den grausamen Verlust und es stellte sich mit dem Lauf der Jahre wieder ein gewissermaßen normaler Alltag ein. Als dann 1972 Lilith schon fast achtunddreißig Jahre alt war, schenkte sie Rubén eine Tochter, die sie Nili nannten. Bald danach schlug abermals das grausame Schicksal zu: Israel war nach den vergangenen für sie erfolgreich beendeten Kriegen fatalerweise gegenüber den unterlegenen Feinden zu hochmütig geworden und wog sich in einer unheilvollen, falschen Sicherheit. Während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973, der den Staat für einen Moment an den Rand des Untergangs brachte, fiel Rubén bei einem schweren Artillerieangriff der Syrer, die danach trachteten, ihre im Sechstagekrieg von 1967 eingebüßten Golanhöhen zurückzuerobern. Der simultan ausgeführte ägyptischsyrische Überfall, der gerade am heiligsten jüdischen Feiertag begann, wurde nach tagelangen Kämpfen im Sinai und am Golan mit äußerst hohem und bitterem Blutzoll zurückgeschlagen und endete abermals mit der militärischen Niederlage der heimtückischen Angreifer. Der Kibutz Halonim wurde dabei schwer getroffen, Liliths langjähriges Aufbauwerk, ihre Hühnerstallungen im Lul, wurden Opfer der feindlichen Granateneinschläge. Oliver holte kurz danach seine abermals traumatisierte und nun verwitwete Schwester samt der gerade einjährigen Nili zu sich nach Oldenmoor, wo sie von da an verblieben.
*
Das Bremsen des Taxis unterbricht abrupt Waldis Gedankenfluss. Nachdem er bezahlt hat, steigen er und Nili aus und gehen ins Haus. Es ist eher selten, dass das Paar ein Wochenende hier verbringt, denn wann immer es ihnen möglich ist, genießen sie ihre Freizeit im Onkel Suhls Haus – Nilis Familiensitz – in der Elbmarschenkleinstadt Oldenmoor. Es ist nach jenem lieben Familienfreund benannt, der es ihren Großeltern zur Hochzeit vererbte und in dem nun Nilis Omi, Abuelita Clarissa, und ihre Mutter, Ima Lissy, wohnen.
Das Marineviertel in Kiel-Ravensberg ist ein Wohngebiet, das in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts vor allem für Angehörige der Reichsmarine und ihre Familien entstand. Es besteht aus einigen Reihen sehr ansehnlicher und mit schönen Ornamenten verzierter, offensichtlich immer noch mit Liebe erhaltener Häuser. Waldis Großvater, Leutnant zur See Rudolf Mohr, zog dort mit seiner frischgebackenen Ehefrau Waltraut kurz vor der NS-Machtergreifung ein. Er verstarb im Dezember 1939 auf dem Panzerkreuzer Graf Spee bei der Seeschlacht am Rio de la Plata vor der Küste Montevideos durch einen Kanonentreffer des britischen Gegners. In diesem Hause wurden Walters Vater sowie dessen beide Schwestern geboren, die nach ihrer Heirat wegzogen. Waldi, einziger Sohn des Ehepaars Reiner und Irmi Mohr, wuchs hier auf und besuchte sowohl die Grundschule als auch das Gymnasium bis zum Abitur. Nach dem Studium erwarb er seinen Doktortitel in Politikwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, bevor er beim Landeskriminalamt in den gehobenen Polizeidienst eintrat. Er verdiente sich die ersten Sporen bei der Drogenfahndung und avancierte zu deren Leiter.
Der meist in einen edlen Anzug aus Harris-Tweed gekleidete, gut aussehende und gerade zweiundvierzig Jahre alt gewordene stattliche Herr mit seiner leicht grau melierten lockigen Haarmähne, der altmodisch wirkenden vernickelten Brille und seinem gepflegtes Kinnbärtchen, mutet wohl eher wie ein Gelehrter als wie ein gehobener Beamter des Landeskriminalamtes an. Wegen nachgewiesener guter Führungseigenschaften wurde Waldi Ende des vorigen Jahres zum Ersten Kriminalhauptkommissar befördert, amtiert zudem als stellvertretender Leiter und ist somit Nilis direkter Vorgesetzter im Dezernat SG212 – Organisierte und Rauschgiftkriminalität –, in dem sie ihr Team von drei Mitarbeitern für besondere Sonderermittlungen befehligt.
Nachdem sein Vater und nur wenig später vor vier Jahren seine Mutter gestorben war, wurde das geräumige Elternhaus zweigeteilt. Für sich selbst beansprucht Waldi das Erdgeschoss, in dem es neben dem gemütlichen, noch aus Opas Zeiten eingerichteten Salon mit Kamin und dem Schlafzimmer nur noch einen weiteren Raum gibt, in dem er sein Arbeitszimmer eingerichtet hat. Die altehrwürdige Küche sowie das Badezimmer stammen räumlich noch aus der ursprünglichen Bauzeit und wurden anlässlich des stattgefundenen Umbaus zeitgemäß umgestaltet. Das neu entstandene Apartment im Obergeschoss ist – nach entsprechendem Um- und Einbau von Küche und Badezimmer – an den Kollegen Lutz Krause vermietet, seit Kurzem zum Ersten Kriminaltechniker im jüngst gegründeten Kriminaltechnischen Institut im LKA avanciert, der es mit seiner Frau Marion und den Teenagern Jan und Tim bewohnt.
Nili, ehemalige Oberkommissarin von der Polizeidienststelle in Oldenmoor, und Waldi, der damalige Leiter der Drogenfahndung, lernten sich anlässlich eines brisanten Falles kennen, bei dem sie dank ihrer fließenden englischen, spanischen und Iwrith-Sprachkenntnisse von Oberstaatsanwalt und LKA um Unterstützung bei der Befragung der festgenommenen Täter gebeten worden war. An einigen weiteren Ermittlungsfällen arbeiteten die beiden gelegentlich sehr gut zusammen und kamen sich dabei allmählich nahe; vor einigen Monaten gingen sie eine innige und äußerst harmonische Beziehung ein. Von einem gemeinsamen Heim oder gar von Heirat war bis heute allerdings noch nicht die Rede, wohl weil sie neben der täglichen Zusammenarbeit stets ihre Freizeit gemeinsam gestalten, sobald sich hierfür eine Gelegenheit bietet.
Nach einer eiligen Dusche vereinigt sich das Paar im zärtlichen Liebesspiel, das sie bald bis zur wonnigen Sinnesekstase bringt. Völlig ermattet sinkt Nili danach in die Arme des Geliebten und sie fallen in enger Umarmung bald danach in tiefen Schlaf.
Tot aufgefunden
»Weibliche Leiche, Körpergröße einhundertachtundsechzig Zentimeter, geschätztes lebendes Körpergewicht etwa achtundsechzig Kilo, vermutliches Alter zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre, dunkelblondes Haar, blaue Augen. Zahngebiss bis auf zwei fehlende Weisheitszähne vollständig; massive prämortale Hämatome im Gesicht sowie an Oberkörper und Extremitäten. Sie muss des Öfteren heftig geschlagen worden sein. Auch das Nasenbein scheint gebrochen. Außerdem zeigen die Hämatome an den Handgelenken, dass sie gefesselt gewesen sein muss. Daran ist sie aber nicht gestorben. Nach einem massiven Schädel-Hirn-Trauma, das entweder von einem stumpfen Gegenstand am Hinterkopf oder vielleicht von einem heftigen Sturz herrührt, verstarb sie an der anschließenden epiduralen Blutung – so bezeichnet man medizinisch eine innere Verblutung im Hirn – etwa ein bis zwei Stunden nachdem man ihr diese Verletzung zugefügt hat. Die Frau wurde schätzungsweise ungefähr sechs Stunden nach dem Todeseintritt an diesen Ort gebracht und unbekleidet in einer Mulde im Waldboden abgelegt, dann notdürftig mit etwas Erde, Laub und Reisig abgedeckt, sodass der Leichnam sehr rasch von den herumstöbernden Wildschweinen aufgespürt und vier Finger von dessen rechter Hand fast vollständig abgebissen wurden. Auch der Unterarm wurde teilweise angefressen.«
Der jüngere Arzt, der von den Polizeibeamten zur Leichenschau angefordert wurde und den Bericht diktiert, richtet sich auf: »Ich darf mich vorstellen: Assistenzarzt Finn Engelmann, zurzeit Doktorand bei Professor Christoff Klamm, Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts an der Kieler Universitätsklinik, der mich an seiner Stelle zu diesem Leichenfundort beordert hat.«
»Vielen Dank, Herr Engelmann, das war recht umfangreich und reicht uns für den Augenblick.« Kriminalrat Harald Sierck, Leiter der Mordkommissionen von der Kieler Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße, nickt anerkennend angesichts der umfassenden Angaben.
»Was meinen Sie, Breiholz, noch Fragen an den Herrn Doktor?«, erkundigt er sich bei seinem Begleiter.
»Nett gemeint, aber bitte keine vorzeitige Promotionsverleihung, Herr Kriminalrat«, interveniert der Assistenzarzt. »Die Doktorsporen muss ich mir erst noch erarbeiten, und ich befürchte, das wird noch ein Weilchen dauern«, scherzt er.
Kriminaloberkommissar Sascha Breiholz grinst. »Nur keine falsche Bescheidenheit, Doc. Das, was wir soeben von Ihnen zu hören bekamen, hätte Ihr verehrter Herr Professor auch nicht besser vortragen können. Aber eine Frage hätte ich noch: Können Sie schon jetzt abschätzen, wie lange die Leiche hier liegt?«
»Die letzte Nacht war sehr kalt und die Leiche unbekleidet. Beides macht es mir nicht unbedingt leicht, Ihre Frage genau zu beantworten. Dennoch, da die Totenstarre vollständig ausgeprägt ist, trat der Exitus schätzungsweise vor etwa vierundzwanzig bis dreißig Stunden ein. Wie gesagt, die livores mortis – also die Leichenflecken«, ergänzt er beflissen auf den plötzlichen stirnrunzelnden Ausdruck des Fragenden, »deuten auf etwa sechs Stunden danach, da die Leiche offensichtlich für den Hertransport vollkommen umgelagert wurde. Demnach schätze ich grob, circa achtzehn bis vierundzwanzig Stunden. Einen genaueren Todeszeitpunkt erfahren Sie dann im Obduktionsbericht.«
Steffi Hink, die gerade hinzugekommene Kollegin der Moko, rechnet zurück.
»Das würde bedeuten, dass die Tat in der Nacht vom letzten Mittwoch zum Donnerstag begangen und die Leiche gestern am sehr frühen Morgen hier deponiert worden sein muss.«
Der Leiter der Mordkommission nickt zustimmend.
»Danke, Herr Engelmann, das hilft uns erst einmal. Grüßen Sie den Herrn Professor von uns.«
»Ich darf mich dann verabschieden, wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, murmelt der Arzt im Gehen.
Harald Sierck ruft hinüber zu den Kollegen der SpuSi: »Wie weit seid ihr vom KTI? Kann die Leiche in die Gerichtsmedizin?« Er deutet auf die beiden Männer in grauen Anzügen, die in der Nähe mit ihrem geöffneten Metallsarg in Wartestellung sind.
»Kann sie abtransportiert werden?« Der angesprochene erste Kriminaltechniker Lutz Krause wendet sich ihnen zu und zeigt mit dem Daumen nach unten. Er ruft etwas Unverständliches zu einer weiteren, in einen weißen Schutzanzug gekleideten schlanken Figur, die sich daraufhin in ihre Richtung in Bewegung setzt.
»Guten Morgen, Herr Kriminalrat, Kollegen! Annegret Prinz. Ich bin die Fallanalytikerin vom KTI. Wir müssen noch ein wenig den Boden um die Leiche herum untersuchen, bevor wir sie abheben. Überlassen Sie bitte alles Weitere uns, wir geben dann den Leuten für die Überführung in die Gerichtsmedizin Bescheid, wenn es so weit ist!«
Die drei Kripobeamten beäugen ein wenig verwundert den nahezu asketischen Gesichtsausdruck der erst kürzlich ins Team gekommenen Spezialistin der Spurensicherung.
»In Ordnung, Frau Prinz, dann machen wir uns hier vom Acker. Kommt, Leute, es gibt Arbeit!«, fordert der Kriminalrat seine beiden Kriminaloberkommissare auf, die der Kriminologin, die neuerdings als zuständige Teamkoordinatorin für Operative Fallanalyse am Kriminaltechnischen Institut amtiert, kurz zunicken, um sogleich ihrem Chef zum Dienstwagen zu folgen.
*
Sein mehrfaches Klingeln bringt keinen wahrnehmbaren Erfolg, deshalb trommelt Lutz Krause so laut er kann an Waldis massiver Wohnungstür. Dann versucht er es abermals mit wiederholten, kurz unterbrochenen Klingelzeichen. Endlich scheint sich in der Wohnung etwas zu bewegen. Ein verschlafenes weibliches Gesicht erscheint an der nur einen Spaltbreit geöffneten Eichentür. Lutz kann sich ein breites Lächeln nicht verkneifen.
»Wohl spät geworden gestern, ihr Schlafmützen?«
»Ist ja unmenschlich, Leute so ungestüm mitten in der Nacht zu wecken, du Unhold!«, vermag ihm Nili mit einem Gähnen entgegenzuhalten.
»Was heißt hier Mitternacht? Es ist bereits halb elf am Vormittag und dazu noch ein Scheißwetter draußen, aber ihr sollt trotzdem zu uns zum Brunch heraufkommen! Marion wartet schon sehnsüchtig auf dich, Nili, sie hat bereits alle Zutaten für die Katiuschka parat – oder wie das Zeug heißt, für das sie dein Rezept bekommen hat. Die soll gleich ausprobiert und zusammen mit dir gebrutzelt werden. Also, was ist? Schafft ihr es heute noch aus den Federn?«
»Lieb von euch! Klar, Lutz, wir kommen gern. Aber eine schnelle Dusche müsst ihr uns noch zubilligen. Das Gericht heißt übrigens Shakshouka und ist sehr lecker, wirst schon sehen! Gib uns bitte zwanzig Minuten, ja?« »Okay, aber keine Minute länger, damit das klar ist – ich sterbe nämlich vor Hunger!«
Etwa eine halbe Stunde danach stehen die beiden Frauen am Herd. Nachdem das Tomaten- und Paprikagemüse, vermischt mit Chilischoten, Zwiebel- und Knoblauchscheiben, die halbierten Oliven und Kabanossiwürfel in den beiden Pfannen in heißem Olivenöl gut durchgeschmort sind, macht Nili darin die Mulden für die sechs Setzeier frei, und nachdem diese darin vorsichtig deponiert wurden, erhält jede Pfanne einen Deckel und die Herdplatten werden ausgeschaltet.
»Nun sollen die Eier etwa fünf Minuten lang poschieren, dann ist die Shakshouka5 fertig!«, verkündet Marion verheißungsvoll.
»Wird auch wirklich Zeit, Mama, mein Magen knurrt schon ziemlich laut!«, raunt Tim, der jüngste Sohn der Krauses, scherzend. Tims Bruder Jan, ihr Vater Lutz und Waldi sitzen ebenso ungeduldig harrend am Tisch in der Wohnküche.
Lutz greift nach dem Korb mit den Brötchen und reicht ihn herum. »Du könntest uns schon mal den Kaffee einschenken, junger Mann!«
Tim, der nach seinem Fachabitur vor einigen Monaten eine Lehre als Mechatroniker bei den Lübecker Drägerwerken angetreten hat und bisweilen nur das Wochenende ›bei Muttern‹ genießt, steht grienend auf und folgt der Aufforderung. »Bist ja ebenso schlimm wie mein Meister, Vadder! Für den muss ich auch dauernd was holen!«, beklagt er.
»Mach dir nicht ins Hemd, Kleiner!«, witzelt Jan. »Jammern gilt nicht! Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre, das is ’ne alte Weisheit, nicht wahr, Vater?«
»Und du mach dich nicht so wichtig, mein Großer«, ermahnt ihn die Mutter. »Noch bist du kein Herr Professor!« Grinsend droht sie ihm mit dem Pfannenheber. »Holt man schon die Teller heran, damit wir Nilis leckerere Kreation auf den Tisch bringen können!«
Jan macht eine duale Ausbildung: Weil er in die Fußstapfen des Vaters treten möchte, belegt er neben seiner bereits fast abgeschlossenen Lehre als chemischer Labortechniker in Kiel ein Fernstudium am Institut für Kriminologie an einer privaten Hochschule in Berlin. Sein Ziel ist der Bachelor-Abschluss.
»Wie auch immer, Nili, das Warten hat sich wirklich gelohnt, deine Katiuschka schmeckt wirklich hervorragend!«, lobt Lars und schmatzt bewusst laut.
Alle lachen und stimmen ihm zu.
»Ich will mich ja nicht mit fremden Federn zieren«, klärt Nili auf, »aber das Rezept für die Shakshouka habe ich von unserer Habiba bekommen und sie hat uns damit schon des Öfteren verwöhnt.«
»Hat keinen Sinn, Lars zu korrigieren«, stellt Waldi grinsend fest. »Du musst dich damit abfinden, Nili, dass dein famoses Gericht soeben unwiderruflich umgetauft wurde!«
Als sie sich alle satt gegessen und ausreichend Kaffee dazu getrunken haben, der Tisch abgeräumt und Geschirr samt Besteck in die Reinigungsobhut der Spülmaschine übergeben wurden, gehen die Erwachsenen hinüber ins Wohnzimmer, um ein gemütliches Plauderstündchen als Ausklang zu genießen. Die beiden jungen Leute ziehen sich in ihre Zimmer zurück, der Ältere, um zu lernen, sein Bruder, um am PC zu spielen.
Nachdem Waldi und Nili abwechselnd von der gestrigen Feier berichtet haben, bemerkt Lutz: »Wir hatten’s nicht so behaglich wie ihr beiden!«, und erzählt von dem Leichenfund im Forst. »Das war ganz schön hübsch hässlich, würde unser seliger Father Brown alias Heinz Rühmann bei einem solch grausigen Anblick bemerkt haben. Mit der düsteren Erscheinung von durch Gewaltverbrechen Getöteten musste ich mich ja inzwischen wohl oder übel abfinden, aber diese da, die hat mich total schockiert. Nicht nur, weil sie schon von Wildschweinen angefressen war, sondern vielmehr weil Gesicht und Oberkörper des Opfers total verunstaltet waren. Wer auch immer der armen Frau all das angetan hat, muss eine bestialische Wut in sich gehabt haben. Unglaublich!« Offensichtlich wirkt der furchtbare Eindruck noch nach, denn der sonst kühl und nüchtern daherkommende Kriminaltechniker scheint zutiefst bestürzt.





