Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag

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Nach einer Pause meldet sich Nili zu Wort: »Ich kann dir das absolut nachfühlen, lieber Lutz! Jedes Mal, wenn ich einen Tat- oder Fundort betreten muss, befällt mich tiefe Beklemmung, und wenn ich mit einer so tristen Aufgabe konfrontiert werde, ergreift mich große Trauer. Nie werde ich mich ganz daran gewöhnen können. Auch wird es mir kaum gelingen, die gebotene mentale Distanz zum Opfer zu halten, die unsere psychologischen Betreuer uns abverlangen. Es passiert mir immer wieder, an jedem Ort eines Gewaltverbrechens, dagegen kann ich nichts tun.«
Waldi nimmt sie in den Arm. »Lass es gut sein, Nili, ich halte es für durchaus normal, dass sich bei derart erschütternden Anlässen derart starke Gefühle melden.«
Um das Thema zu wechseln, fragt Nili plötzlich: »Habt ihr irgendwelche Spuren gefunden, die auf die Identität der Frau hinweisen?«
»Siehste, Waldi, da erwacht die sprichwörtliche Witterungslust in unserer lieben Frau Kriminalhauptkommissarin! Gut, dass du fragst, Nili, denn da war in der Tat etwas, was ich beinahe vergessen hätte!« Rasch schwingt sich Lutz aus dem Sessel und eilt hinaus in den Flur. Kurz danach kommt er mit einem Plastikbeutelchen in der Hand zurück. »Ich will euch keineswegs den Verdauungsplaisier der soeben genossenen ›Katiuschka‹ vermiesen – die hat übrigens tatsächlich wunderbar geschmeckt, ehrlich! –, aber da Nili so direkt fragt, kriegt sie auch ’ne direkte Antwort.« Er legt das Tütchen auf den Couchtisch.
Waldi und Nili schauen ihn fragend an.
»Na ja, ihr wundert euch vielleicht, dass dieses Beweisstück noch in meinem Besitz ist. Lasst es euch erklären: Ich hatte eigentlich gestern einen freien Tag, um Überstunden abzubummeln, aber Kollege Andresen rief mich im Auftrag unserer Fallanalytikerin Frau Prinz an. Die bat mich, zum Tatort zu kommen. Ich fand dies zufällig, nachdem man längst die Spurensuche beendet hatte und die Kollegen bereits abgefahren waren. Als ich mich gerade meiner Schutzkleidung entledigte, fiel mir der Kuli aus der Tasche, und während ich ihn aufhob, bemerkte ich einen Blutfleck und in dessen Mitte lag das da.« Er zeigte auf das Tütchen. »Die Bache, die dem armen Opfer die Finger abgebissen hat, muss ihn wieder ausgespuckt haben! War wohl nicht ganz ihr Geschmack!«
Nili greift nach dem Tütchen. »Sieh mal, Waldi, ein Ehering!« Sie blickt auf die Innenseite: »In ewiger Liebe – Berti und 07.05.2009 sind da eingraviert«, liest sie vor.
»Nicht gerade erleuchtend, um die Frau anhand dessen zu identifizieren, nicht wahr?«, meint Lutz trocken. »Und bevor ihr die Frage stellt: Ja, die Liste der eingegangenen Vermisstenanzeigen wird bereits geprüft.«
Nili reicht das Beweisstück an Waldi weiter, dann meint sie: »In der Tat kein großer, aber immerhin ein Ansatz. Wenn man im Institut nichts dagegen hat, könnte ich meinen bewährten Kollegen Ferdl daran setzen, bei den Standesämtern im Kieler Umkreis die Liste der Ehen anzufordern, die an diesem Datum geschlossen wurden. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht den besagten Berti und seine Angetraute.«
»Das ist eine gute Idee, Nili!«, räsoniert Waldi und gibt das Tütchen an Lutz zurück. »Am besten, du informierst eure Fallanalytikerin Frau Prinz, damit sie im Bilde ist.«
Lutz schüttelt den Kopf. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das für mich übernehmen würdest, Waldi. Unsere ›Eiserne Jungfrau Annegret‹ ist nämlich sehr zimperlich, wenn es um die Einhaltung der vorschriftsmäßigen Richtlinien für die fallanalytische Arbeitsweise geht. Sie nimmt das mit ihrer Aufgabe penibel ernst und kann ’ne wirklich ungemütliche Kratzbürste sein, wenn man ihr in ihrem Metier zu nahetritt. Wahrscheinlich ist sie sowieso sauer, wenn sie erfährt, dass ich hierüber mit euch schon gesprochen habe, ehe sie davon erfährt.«
»Ruhig Blut, Kumpel, lass das mal meine Sorge sein. Ich konnte die Dame bereits bei der Arbeit beobachten und sie schien mir trotz ihrer Pingeligkeit durchaus kompetent. Liegt aber in der Natur der Aufgabe, dass systematische Genauigkeit nun mal eine Grundlage für den Erfolg der Fallanalyse ist, mein Lieber! Das weiß doch niemand besser als du, denn im Grunde bist auch du nicht sehr viel anders: stets besonnen und methodisch, dabei auch mal grantig, wenn’s dir gegen den Strich geht.«
»Mein Lutz ist eben ein kleiner Chauvi, wenn es um Damen im Beruf geht!«, ulkt Marion und streicht ihrem Mann liebevoll über die Haare.
Nili schmunzelt. »Hoffe doch sehr, dass ich davon ausgenommen bin.«
»Ist doch gar nicht wahr!«, protestiert Lutz heftig. »Auf diese äußerst unfaire Beschuldigung brauche ich einen ordentlichen Schluck Verteiler. Noch jemand? Ouzo, Korn, Sankt Margarethener?«
*
Behaglich sitzen Nili und Waldi im Wohnzimmer vor dem wohlige Wärme spendenden Kamin und hören klassische Musik; sanft erklingt gerade das Adagio aus Mozarts einundzwanzigstem Klavierkonzert, das der virtuose Wladimir Ashkenazy mit den Berliner Philharmonikern meisterhaft interpretiert. Waldi labt sich währenddessen beim Rauchen seiner Pfeife, ein Genuss, den er sich nur noch seltener gönnen darf, ist doch fast überall das Rauchen – und zudem jenes einer Pfeife –, wenn schon nicht gar verboten, doch zumindest arg verpönt. Nili sitzt neben ihm auf dem Sofa und schnuppert den aromatischen Geruch des gesottenen Latakia-Shags. Sie tippt auf der Tastatur ihres Laptops und gibt ihrem sachkundigen IT-Fachinspektor Ferdinand Csmarits – dem jüngstens dem Sonder-Ermittlungsteam zugeordneten österreichischen Austauschkollegen aus Eisenstadt – die kargen Daten per E-Mail durch, die sie vom Ehering der aufgefundenen toten Frau entnommen hat.
»Ist ziemlich dürftig, geschätzter Ferdl, aber seien Sie bitte so nett und sehen Sie zu, ob Sie etwas daraus machen können. Noch ein schönes Wochenende wünschen Ihnen Dr. Mohr und Nili«,schreibt sie als Letztes und klickt auf ›Senden‹.
»Der Ferdl ist wirklich ein Glückstreffer für uns, Waldi. Bis jetzt war er mit seiner gewieften Sucherei im Netz immer erfolgreich!«
Seit dem grauen Morgen hat es den ganzen Tag über heftig geregnet und sie haben sich deshalb nach dem üppigen Brunch bei Krauses in Waldis vier Wände zurückgezogen. Gerade als sie gegen Abend am Küchentisch sitzen und ein karges Mal aus Schwarzbrot mit Wilstermarschkäse und ein paar Scheiben von einem bereits ziemlich trocken gewordenen Salamizipfel zu sich nehmen, macht sich Nilis Laptop mit einem Piep bemerkbar. Rasch geht sie ins Wohnzimmer hinüber und kehrt, freudig auf das Display ihres Laptops zeigend, zurück: »Siehste, ich hab’s doch gewusst: Auf uns Ferdl ist Verlass!«
*
Das launige Aprilwetter setzt sich – wie stets seit Anfang Mai – zunächst fast ununterbrochen fort. Gelegentlich weicht das sonnige und schon lauwarme Wetter unverhofft einem kräftigen Schauer, der dann auch von heftigen Windböen begleitet wird. Wenige Augenblicke später scheint wieder die Sonne ganz unschuldig zwischen den vom Westwind abgetriebenen Wolken herab, als ob nichts geschehen wäre. Nur die um etliche Grade abgefallene Temperatur erinnert dann noch an die jähe Unterbrechung. So auch an diesem Sonntagmorgen, als Nili und Waldi trotz des unsanften Wolkenbruchs, der unverhofft auf sie niederprallt, tapfer ihr morgendliches Joggingpensum absolvieren. Völlig durchnässt und bibbernd vor Kälte, obwohl vom Schweiß gebadet, landen sie wieder in Waldis Zuhause, ziehen sich rasch die nassen Sachen aus und eilen gemeinsam unter die Dusche. Hier, unter dem wiederbelebenden heißen Wassererguss, erwacht in beiden ein heftiges Verlangen, das in einem leidenschaftlichen Liebesspiel gipfelt. Völlig ermattet kriechen sie wieder unter die Federdecke und sind im Nu in enger Umarmung eingeschlafen.
Es ist schon fast fünf Uhr nachmittags, als Nili sich aus der Umklammerung des Liebsten löst und auf den Wecker schaut. Sie setzt einen zarten Kuss auf Waldis Stirn, der nur mit einem leichten Grunzen quittiert wird. Grinsend dreht sie sich um und will gerade aus dem Bett steigen, als ein fester Griff an ihrem Handgelenk sie daran hindert. Mit einem kräftigen Ruck landet sie wieder an Waldis Brust.
»Die Flucht vor dem Feind ist arge Feigheit und wird auf der Stelle strengstens bestraft«, ertönt es von unterhalb der Bettdecke, unter die sie nun gezogen wird.
»Ich bekenne mich schuldig und sehne mich nach deiner Bestrafung«, flüstert Nili, indem sie Waldi auf den Mund küsst und sich anschließend auf ihn legt. »Was gibt’s hier heute Leckeres zum Abendbrot?«, fragt sie spitzbübisch, weiß sie doch ziemlich genau, dass Waldi fast nie etwas Nennenswertes, weder in seinem Kühlschrank noch in der Speisekammer, vorrätig hält.
»Was für dich der ›Grieche um die Ecke‹, deine Taverna Syrtaki mit dem liebenswerten Georgios und seiner Marita ist, ist bei mir mein ›grande amico‹ Massimo in der Feldstraße«, antwortet Waldi mit einem breiten Lächeln. »Nachdem uns Lutz und Marion bereits einige Male bei sich zum Essen hatten, habe ich die beiden für heute Abend eingeladen und einen Tisch bestellt, denn erfahrungsgemäß ist dort am Sonntag immer ›full house‹!«
»Ja, ich weiß, Waldi«, sagt Nili, küsst ihren Liebsten ein weiteres Mal und steigt aus dem Bett. »Wir waren ja schon einmal bei ihm. Aber für mich heißt es heute definitiv: nur eine Insalata Caprese zum Dinner. Sieh mal, ich kriege die Hose kaum noch zu!«
»Deine gute Absicht in Ehren, meine Liebe. Aber warte mal ab, bis du einen Blick auf Massimos Menükarte geworfen hast. Ich möchte nicht mit dir wetten, ob du dann noch bei deinem heroischen Entschluss bleibst!«
»Du mieser Schuft!«, schimpft Nili laut lachend und zieht sich an. »Aber ich möchte bitte keine Klagen hören, wenn du deswegen bald eine fette und hässliche Polizistin umarmen must!«
Ein wenig später sitzen beide Paare im Ristorante da Massimo an einem Tisch am Fenster, durch das man auf die Straßenterrasse mit Glasdach und -fensterwände blickt, für die es allerdings zurzeit in den frühen Abendstunden noch etwas zu kühl ist. Massimo, bei dem Waldi schon seit vielen Jahren Stammgast ist, heißt sie mit einem breiten »Benvenuti, carissimo dottore ed amici!« herzlich willkommen. »Wunderbar, Sie gerade ’eute zu mir da sind fur meine Spezial Osso buco! ’abe extra gemackt fur buoni amici mit Kalbs’axe kommt von Bio’of Kuhl in Krumbeck; due Kalbe hat er esclusivi fur meine Ristorante geschlachtet!«
»Dann muss ich mich eben wohl oder übel meinem Schicksal ergeben!«, seufzt Nili resigniert, nachdem keiner ihrer Einwände Massimos begeisterndem Redeschwall gewachsen war.
Waldi grinst. »Habe ich dir doch prophezeit, oder?« Er lauscht in Richtung eines der Nachbartische, wo Massimo gerade seinen Block gezückt hat, um die Bestellung aufzunehmen.
»Qui bei Massimo nix Pizza! Hier eccellente Ristorante! Wenn du Pizza wollen, dann geh’ Bahnhof!«, dröhnt die empörte Stimme des ›Padrone‹. Vergnügt beobachtet die Viererrunde den aufgebrachten Ein-Stern-Gastronomen, der sogleich die Banausen, die es gewagt haben, bei ihm eine Pizza zu bestellen, zur Tür hinauskomplimentiert.
»Salve, dottore Walter, buona sera, signori«, begrüßt wenig später eine adrette Frau mittleren Alters die Runde und stellt eine dunkle Flasche Olio di oliva extravergine dal Vall’Prino der Marke Frantoio Banzini, Dolcedo sowie eine Schale mit kleinen schwarzen Taggiasca-Oliven und einen Korb mit selbst gebackenem Brot auf den Tisch. »Come sempre, dottore! Wünsche wie immer buon appetito mit dem ›Primuruggiu‹ meines Zio Alberto.« Sie lächelt ihnen freundlich zu und entschwindet genauso lautlos, wie sie an den Tisch gekommen ist.
»Mille grazie, carissima Laura!«, ruft Waldi ihr hinterher. »Massimos Tochter«, erläutert er. »Dieses Primuruggiu ist ein wahres Juwel unter den nativen Olivenölen aus Ligurien. Ich lernte es vor fünf Jahren kennen und schätzen, als Massimo mir anbot, in seinem kleinen Häuschen Urlaub zu machen. Es liegt in dem malerischen Bergdorf Canneto Soprano inmitten von Olivenbäumen an einem Südhang oberhalb von Imperia. Das Dorf zählt vielleicht gerade mal zwanzig Häuser, von denen etwa die Hälfte noch von einheimischen Olivenbauern bewohnt ist. Die restlichen Häuser gehören heute Deutschen, Schweizern und Franzosen, die dort nur gelegentlich einige Urlaubswochen verbringen. Ich lernte im Ort sehr liebe Nachbarn kennen, denn dank meiner dafür gerade noch ausreichenden italienischen Sprachkenntnisse gelang es mir, rasch mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Besonders freundete ich mich mit dem Olivenbauernehepaar Maria und Angioletto an. Eines Tages nahm mich Angioletto mit in das Nachbardorf Dolcedo zum sogenannten Frantoio – das ist eine Ölmühle. Dorthin brachte er seine am Vortag so mühsam an den terrassenförmigen und sehr steilen Hängen von Hand geernteten kleinen Taggiasca-Oliven zur Pressung. Es war früh im Februar und die in diesem Monat geernteten Früchte sind bei der Familie Banzini – ein Schwager unseres Massimo – ziemlich begehrt, weil Lauras Onkel Alberto daraus diesen besonderen ›Nektar der Götter‹ – wie er ihn bezeichnet – herstellt. Zu Saisonbeginn und wenn sofort verarbeitet, haben nämlich Oliven einen markant hohen Anteil an ungesättigten Ölsäuren, was sie, von Diätetikern empfohlen und von Kennern besonders begehrt, sehr wertvoll und teuer macht. Diese Taggiasca-Oliven – nach der kleinen Ortschaft Taggia in der Nähe von San Remo benannt –, die nur an den Hängen der ligurischen Täler gedeihen, sind zwar klein, haben aber einen sehr aromatischen und charakteristischen Geschmack, wie ihr hier selbst feststellen könnt.« Waldi pickt demonstrativ ein paar Oliven mit einem ZahnstocTitleher und probiert sie. Nachdem er die abgenagten Kerne auf dem kleineren Teller abgelegt hat, führt er fort: »Stimmt doch, oder? Also, obwohl heute die Oliven nach dem Aussortierern und Waschen üblicherweise von modernen Trommel-Mahlwerken samt ihren Kernen zu Brei gemahlen werden, bedient sich Alberto für dieses spezielle Öl noch immer eines althergebrachten ›Mulino a pietra‹, des traditionellen Naturmühlensteins, der auf dem ebenfalls steinernen Mühlenbett langsam kreisend die Olivenkerne behutsam zerquetscht und zum Brei maischt. Die Maische wird anschließend in aus Naturfasern selbst geflochtene korbähnliche Biete überführt und diese in der handbetriebenen Holzpresse gestapelt. Nun wird der Pressstempel heruntergefahren und nur ganz leicht auf das Maischepaket gelegt, sodass das fast klare Öl aufgrund des Eigengewichts von selbst langsam aus den Körben herabtröpfelt und sich in der Abflussrinne der Presse ansammelt. Von dort wird es in den Vorratstank oberhalb der Flaschenfüllanlage gepumpt und sofort abgefüllt. Das ist der berühmte Primuruggiu, ein Ausdruck im ligurischen Dialekt, den man sinngemäß mit ›erstem Erguss‹ übersetzen kann: das pure, reine Öl, die Seele der Olive, wie mir Angioletto verklärt vermittelte.«
Waldi öffnet die Flasche und gießt eine Portion des hellgrün schimmernden und leicht trüben Öls auf einen Teller. Dann greift er sich eine Scheibe von dem Brot, bricht davon ein kleines Stück ab und stippt es hinein.
»Probiert es! Für den ungeübten Gaumen mundet es vielleicht ein wenig pikant, aber mit Sicherheit habt ihr noch nie ein besseres Öl genossen!«
Alle machen es ihm nach und sind ebenfalls von dem außerordentlich gut schmeckenden Erzeugnis begeistert. Tatsächlich erweist sich der nach fast einer halben Stunde servierte Osso buco – wie von dessen Urheber versprochen – als ebenso vorzüglich. Der trockene rote Brunito Toscana aus Montalcino ist ein würdiger Begleiter und wird ebenfalls genüsslich dazu getrunken.
Plötzlich merkt Nili auf, zieht einen Zettel aus der Tasche und überreicht ihn Lutz. »Damit du gleich morgen früh deine ›Jungfrau Annegret‹ besänftigen kannst«, sagt sie auf seine fragende Miene hin.
Lutz stutzt kurz, schaut sich dann aber das Schriftstück näher an. Ein erfreutes Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus. »Das müsst ihr euch unbedingt anhören: Sehr geehrte Frau Chefin, nachstehend alles, was ich bisher herausfinden konnte: Als besagter Berti käme ein gewisser Bertram Klinck in Frage: Leutnant zur See, Bundesmarine (geb. 07.07.1979 in Kiel), und seine Frau Jenny, geb. Bartels, Stenotypistin (geb. 28.10.1982 in Oldenmoor); sie schlossen die Ehe am 07.05.2009 um 10:30 Uhr auf dem Standesamt Eckernförde.
Lt. z. S. Klinck ist gegenwärtig Erster Offizier auf der M 1049 Olpenitz, ein Minenjagdboot vom Typ 332, das zum 3. Minensuchgeschwader gehört und im Tirpitzhafen – Marinestützpunkt Kiel – beheimatet ist. Das Paar soll sich bereits vor etwa vier Monaten, kurz bevor der Ehemann für längere Zeit auf See ging (Grund unbekannt), getrennt haben (telefonische Aussage einer Nachbarin, Frau Karin Weiden, Am Steinweg 2, Suchsdorf).
Jenny Bartels-Klinck, die Ehefrau, ist bei der Verwaltung der SecurVita Versicherung in Kiel tätig. Sie verließ die gemeinsame Wohnung und zog nach der Trennung von ihrem Ehemann zu ihrem Jugendfreund Julian Volkmann – Anlageberater (geb. 07.12.1981 in Maasholm/Schlei) –, ist auch daselbst gemeldet am Jütlandring 9 in Kiel Mettenhof. Hoffe, Sie können damit was anfangen. Ihnen und dem Herrn Doktor noch einen schönen Sonntag. Csmarits, Ferdinand, Fachinspektor.« Begeistert setzt er hinzu: »Mann, euer Ferdl ist wahrlich ein Tausendsassa!«
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Drei Tage zuvor.
»Mach auf, Irmgard, du verfluchtest Biest, oder ich trete die Tür ein!«, dröhnt die wutentbrannte männliche Stimme durch die Badezimmertür, während zwei geballte Fäuste wild von draußen darauf eintrommeln.
Die Frau sitzt auf dem gefliesten Boden des Badezimmers, den Rücken gegen die Tür gelehnt, und wischt sich das Blut, das ihr aus der Nase rinnt, mit Papiertüchern aus der neben ihr stehenden Cleanex-Box. Sie hat es gerade noch geschafft, hierher zu flüchten und die Tür abzusperren, nachdem ihr Ehemann sie bereits beim Heimkommen überfallen und sofort mit heftigen Schlägen und Hieben traktiert hat.
»Wo hast du dich herumgetrieben, bist wohl mal wie so oft in Hitze, du streunende Hündin!? Hast wieder mit deinem Macker in der Firma rumgemacht, was? Mach auf, sag ich dir zum letzten Mal, oder du kannst was erleben!«
Mit Tränen in den Augen greift die verzweifelte Frau zu ihrem Handy und wählt die 110. Flüsternd bittet sie um Hilfe, gibt keuchend ihren Namen und die Adresse durch. »Kommen Sie bitte schnell, er bringt mich um!«, fleht sie. Ein erneuter Tritt mit nachfolgendem Knall hallt durch das Badezimmer, wie um ihre Aussage zu bestätigen.
»Mit wem quatschst du da?«, ruft er mit noch lauterer Stimme als zuvor. »Mach endlich auf, du schändliches Geschöpf! Betrügst deinen Mann am helllichten Tag! Hast du überhaupt keinen Anstand, du Hure!«
»Warum bist du nur so gemein zu mir, Torben?«, entgegnet sie mit schwacher Stimme. »Das stimmt doch alles gar nicht, was du mir da vorwirfst! Woher nimmst du immer solche abwegigen Gedanken? Du weißt doch genau, dass ich nur dich liebe und dir immer treu gewesen bin! Also warum das Ganze?«
»Du lügst schon wieder, so wie du mich immer und von Anfang an belogen hast! Seit deiner Jugend machst du mit diesem Mirko rum, auch damals, als wir uns kennenlernten! Und ich kann mir nicht einmal sicher sein, ob unsere Marion wirklich mein Kind oder ob sie ein Bastard von diesem räudigen Hund ist, der dir dauernd unter den Rock greift. Aber wart’s nur ab! Dieses Mal lass ich mich nicht von dir bequatschen! Jetzt wird ein Vaterschaftstest gemacht, ich muss mir endlich Gewissheit verschaffen!« Nochmals rüttelt er wütend an der Badezimmertür, dann wird es plötzlich ruhig in der Wohnung.
Kurz sind Schritte im Flur zu vernehmen, die Haustür geht auf und wird geräuschvoll wieder zugeschlagen. Draußen heult ein Motor laut auf, dann wird es gespenstisch still.
Die Frau verharrt einige Minuten im Badezimmer, bis sie das Geräusch eines heranfahrenden und anhaltenden Wagens vernimmt. Es klingelt an der Haustür.
»Hier ist die Polizei! Bitte machen Sie auf!«, ruft eine weibliche Stimme.
Ächzend vor Schmerzen erhebt sich die Frau, schließt die Badezimmertür auf und schleppt sich mühsam den Flur entlang, um den Beamten zu öffnen. »Tut mir leid, mein Mann ist soeben weggefahren, es ist alles wieder in Ordnung!«, beteuert sie.
»Von wegen in Ordnung! Haben Sie sich mal im Spiegel betrachtet, beste Frau?« Der Streifenbeamte blickt die blutverschmierte Gestalt, deren Gesicht bereits an einigen Stellen anschwillt, mitleidig an.
Seine Kollegin ergänzt: »Ich denke, wir sollten Sie zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen, damit Sie einen Beweis für Ihre Anzeige wegen körperlicher Misshandlung in Händen haben.«
»Aber nein«, wehrt sich die Frau, »das brauchen Sie wirklich nicht, es wird keine Anzeige geben. Mein Mann hat sich beruhigt, als sich herausstellte, dass alles nur ein Missverständnis war. Er hat sich auch entschuldigt, musste dann aber dringend zur Arbeit fahren. Danke, dass Sie sich herbemüht haben. Sie können mir jedoch glauben, dass wirklich alles in Ordnung ist. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie umsonst hierhergerufen habe, bitte entschuldigen Sie! Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend.« Sie nickt den beiden Streifenbeamten freundlich zu, wobei ihr erzwungenes Lächeln eher wie eine schmerzliche Grimasse anmutet, ebenso wie die klaffende Lücke in ihrem Mund einen offensichtlich ausgeschlagenen Zahn erkennen lässt, und schließt dann langsam die Haustür.
»Immer wieder die gleiche Scheiße mit diesen verstocTitlekten Weibern«, schimpft der Streifenbeamte, »ich kann das einfach nicht verstehen! Da vertrimmt der Mann sie nach Strich und Faden und prügelt sie krankenhausreif, und sie erduldet das Ganze und tut es einfach ab – bis zum nächsten Mal! Und immer, immer wieder! Wer soll so etwas verstehen? Kannst du mir das erklären, du bist doch eine Frau, Paula! Wieso?«
»Tut mir leid, Frank, das kann ich ebenso wenig begreifen wie du. Aber eins sage ich dir: Sollte es mal irgend so ein Hundskerl überhaupt nur wagen, seine Hand gegen mich zu erheben, dann trete ich ihm so lange in die Eier, bis er zum Eunuchen wird, das schwöre ich dir!«
*
Am Tag darauf.
Der Mann steigt aus seinem Auto und geht hinüber zum Wagen der Frau, die soeben auf den Parkplatz des Restaurants gefahren ist. Sie stellt den Motor ab und notiert noch rasch den Kilometerstand in ihrem Fahrtenbuch. Galant öffnet der Mann ihr die Tür, sie steigt aus und die beiden geben sich kurz die Hand, bevor sie ihren kleinen Mazda abschließt und den Schlüssel in ihre Handtasche steckt. Die beiden betreten das Lokal durch den Hintereingang. Die etwas ältere asiatische Bedienung begrüßt sie freundlich, nimmt ihnen die Mäntel ab. Sie führt sie an den reservierten Tisch und reicht ihnen die Menükarten. Er blickt zunächst in die Weinliste, deutet auf die gewählte Marke. Sie gibt ihr Einverständnis zum Grauen Burgunder vom Kaiserstuhl. Sie wählen einige Gerichte aus und unterhalten sich. Er redet auf sie ein, offensichtlich bemüht, sie für sich zu gewinnen. Sie scheint nicht unbedingt ablehnend, aber eben noch nicht ganz bereit dazu, entzieht ihm mehrmals die Hand, die er zu fassen versucht. Die Bedienung bringt den Wein, zieht den Korken, schnuppert daran und gießt die obligate Kostprobe ein. Sie darf probieren, nickt zustimmend. Sie prosten sich zu. Eine Aushilfe bringt die Warmhalteplatten, dann folgen die bestellten Schüsseln mit den diversen Speisen ihrer Wahl. Er benutzt mit geübter Hand die Stäbchen, zeigt ihr, wie es geht. Sie gibt nach einem kurzen Versuch auf und wechselt zu Gabel und Löffel. Sie trinken, er füllt ihr Glas immer gleich nach. Sie gibt zu bedenken, dass sie ja mit dem Auto da sei, noch fahren müsse. Macht nichts, sagt er, es gäbe ja auch Taxis. Erneut versucht er vergebens, ihre Hand zu tätscheln. Offensichtlich missmutig aufgrund seiner wiederholten plumpen Anbiederungsversuche, gibt sie ihm das zu verstehen. Sie steht auf, entschuldigt sich und geht zur Toilette. Er steht ebenfalls auf, folgt ihr wenige Meter und bittet mit einem reumütigen Lächeln um Vergebung.
»Warts nur ab, du Zicke, ich krieg dich noch!«, murmelt er sehr leise, während er stehen bleibt und ihr voller Erregung hinterherblickt. Er schaut sich um, setzt sich rasch wieder und zieht ein dunkles Fläschchen aus der Tasche seines Sakkos. Ein paar Tropfen genügen fürs Erste, denkt er sich.
Wenig später kommt sie zurück. Hat sich im Bad entschieden: Sie will gehen, und zwar sofort und allein! Er verlangt die Rechnung, überredet sie, zumindest noch das Glas Wein auszutrinken. Sie tut es widerwillig, trinkt das ganze Glas in einem Zug leer, sie will nur weg und den aufdringlichen Kerl endlich loswerden. Die Kellnerin bring die Rechnung, er zahlt in bar, dann gehen sie zur Garderobe. Er hilft ihr galant in den Mantel. Sie gehen zum Parkplatz hinaus, niemand ist dort zu sehen. Irgendwie fühlt sie sich plötzlich komisch, ihr wird flau in den Beinen, aber sie schafft es noch bis zu ihrem Wagen. Als sie versucht, den Autoschlüssel aus ihrer Tasche zu fischen, fällt ihr dieser aus der Hand, sie knickt zusammen. Der Mann kann sie gerade noch auffangen, lehnt sie an die Motorhaube. Er greift nach dem Schlüssel, drückt auf die Automatik für die Türöffnung, manövriert die Frau auf den Beifahrersitz und legt ihr den Gurt an. Dann setzt er sich ans Steuer.





