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In La Paz angekommen, haben Frauke und Josef zunächst standesamtlich geheiratet. Mit Glück fanden sie ein großes Haus mit mehreren Zimmern, Innenhof, Küche und Bad in einer kleinen Sackgasse, die von der Avenida Ecuador im Nobelviertel Sopocachi abgeht. Josef und Frauke mieteten es und tauften es wegen seiner Außenfarbe auf den Namen „Casa Azul“ – „Blaues Haus“. Sie nahmen sich vor, darin einigen der so zahlreich in Bolivien eintreffenden Flüchtlinge eine erste Bleibe zu bieten. Durch Zufall wurden sie kurz darauf fündig und erwarben eine Hacienda, ein landwirtschaftliches Gut, das zum Verkauf stand. Es befindet sich in der subtropischen Region der Yungas, etwa 80 Kilometer von La Paz entfernt. Dort sind auch einige der von den Rembowskis unterstützten Flüchtlinge untergekommen, die noch dazu ihre Erfahrung in der Landwirtschaft einbringen konnten, etwas, woran es Josef in der ersten Zeit mangelte. Die Flüchtlinge verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf der Hacienda, indem sie emsig beim Aufbau eines langsam, aber sicher Ertrag bringenden Agrarunternehmens mithalfen.
Etwa ein Jahr später zogen Frauke und Josef hinüber in eine kleine, möblierte Villa direkt gegenüber der Casa Azul. Sie gehörte einer französischen Dame, Madame Isabel, Ehefrau von Señor René Adrian senior, ein erfolgreicher Warenimporteur, der ständig auf Geschäftsreise war. Madame Isabel wohnte mit ihrem Mann und dem Söhnchen René junior, den sie liebevoll „Pirulo“ nennen, in einem größeren Einfamilienhaus nebenan, in dem auch ihr Atelier untergebracht war. Sie war Hutmacherin und konnte Fraukes Hilfe in ihrem kleineren stilvollen Salon sehr gut gebrauchen, da diese beim Parisaufenthalt bei ihrer Cousine Françoise von dieser gründlich in die ersten Schritte dieses Metiers eingeführt worden war. So entwickelte sich nach und nach „Maison Isabel“ zu einer bekannten Adresse für jene gehobene Schicht der modebewussten La Pazer Damenwelt.


* * *
Nachdem Heikos Zug von El Alto in ausgedehnten Schleifen langsam den Abhang bis zur Estación de Trenes in La Paz überwunden hat und dort endlich im Bahnhof eingefahren und zum Halten gekommen ist, steigen er und Josef aus. Heiko verabschiedet sich von seinem Abteilgefährten, dem sympathischen Herrn Aaron Levy, mit dem er während der viertägigen Überfahrt sehr angenehme und interessante Gespräche führen konnte. Nachdem Heiko von Josef seine neue Adresse erfahren hat, tauschen die beiden Herren ihre Anschriften aus und verabreden ein baldiges Wiedersehen.
„Langsam, langsam, lieber Amigo, du befindest dich hier immer noch auf 3.800 Meter über dem Meer. Hier ist die Luft sehr dünn und du und dein Körper müssen sich erst allmählich darauf einstellen“, mahnt Josef den voreiligen Heiko, der geschwind nach seinem Gepäck sehen will. „Außerdem ist es hier nicht üblich, sein Gepäck selbst zu tragen, dafür sind die Cargadores da. Sieh mal, dort.“ Er deutet auf einen bizarr in weißes Rohleinenhemd und Hose gekleideten, dunkelhäutigen Einheimischen – ein Indio mit einem bunten Poncho und einer mit Ohrenklappen versehenen Zipfelmütze aus braun-weiß gefärbter Lamawolle auf dem Kopf. Er trägt einen riesigen Schiffskoffer huckepack, den er mit einem grob gegerbten, rauen Rindlederseil befestigt hat, welches über seiner Brust straff verknotet ist. In raschen kleinen Schritten auf seinen mit ausgedienten Autoreifen besohlten Sandalen folgt der Lastenträger einer in einem weiten, ausladenden Faltenrock gekleideten, ebenso dunkelhäutigen Frau, die sich einen fein gewebten Umhang über die Schultern geworfen hat und einen eigenwillig geformten, festen Filzhut trägt. „Dies ist eine der hiesigen Mischlingsfrauen, eine Chola“, erklärt Josef. „Du wirst dich noch auf so manche Eigenart der heimischen Bevölkerung einstellen müssen. Aber nun lass uns erst einmal dein Gepäck holen.“
Nachdem der Träger Heikos beide Handkoffer in dem Kofferraum von Josefs Auto – es war ein schmucker Packard Sedan Modell 1933 – verstaut und Josef ihm ein paar Münzen in die Hand gedrückt hat, fahren sie hinunter in die Stadt.
Im Vorbeifahren gewinnt Heiko die ersten Eindrücke von seiner neuen Heimat. Verwundert nimmt er das für ihn ungewöhnliche Straßenbild wahr. Sie fahren entlang der meist ein- bis zweistöckigen Gebäude mit in allen Farben gestrichenen Wänden und er sieht eine unendliche Schar von dunkelhäutigen Passanten in ihrer außergewöhnlichen Kleidung. Fasziniert betrachtet Heiko eine asthmatisch anmutende elektrische Straßenbahn, die mühevoll eine steile Straße emporklimmt.
Zutiefst gerührt von der Wiedersehensfreude umarmen sich kurz darauf Frauke und Heiko mit feuchten Augen. Frauke erwartet sie zur Begrüßung mit einem schmackhaften Mittagessen. Danach begleiten sie und Josef Heiko über die enge Straße hinüber in die Casa Azul, wo sie für ihn und die hoffentlich bald nachkommende Clarissa samt Kindern bereits eines der Zimmer eingerichtet haben.
* * *
Als der Zug in einer Höhe von etwa 4.000 Metern über Meereshöhe die Grenze zwischen Chile und Bolivien bei Charaña überschreitet, erfolgt hier die Passkontrolle. Bei mehreren Reisenden stellen sich bereits Atembeschwerden ein. Die Schaffner verteilen ein probates Mittel der Einheimischen gegen dieses Unwohlsein, den sogenannten Soroche, einen heißen Mate de Coca, ein Aufguss aus jenen Cocablättern, die von den andinen Indios ständig gekaut werden. Auch auf Oliver übt der Trunk vorübergehend eine die quälenden Bauchschmerzen lindernde Wirkung aus. Dennoch ist sein Fieber bereits auf besorgniserregende 39,7 Grad gestiegen und Dr. Blumberger greift zur Notbremse, indem er dem Jungen Chinintabletten verabreicht.
Als der Zug gegen Abend des nicht enden wollenden vierten Reisetages in die Station von Viacha einfährt, überraschen plötzlich Heiko und Josef Clarissa und die Kinder in ihrem Schlafwagenabteil. Unendlich groß ist die Wiedersehensfreude, viele Küsse und Umarmungen folgen. Der arme Oliver kriegt in seiner Fiebertrance kaum etwas mit. Er wackelt mit dem Kopf auf dem Kissen hin und her und murmelt: „Papilein, mein lieber Papilein ist wieder da!“ Während Heiko bei seiner Familie bleibt, steigt Josef gerade noch rechtzeitig aus dem Zug und fährt mit seinem Auto geradewegs nach La Paz voraus, um für die ärztliche Versorgung Olivers zu sorgen.
Als der Zug dann endlich im Bahnhof von La Paz einfährt, ist Josef mit der geräumigen Limousine zur Stelle. Rasch sind Handgepäck und Reisende eingeladen. Während sie hinunter in die Stadt fahren, beruhigt Josef Clarissa und Heiko, die sich um den stöhnenden Oliver Sorgen machen. „Ich habe Dr. Salomon, einen Emigranten, benachrichtigen lassen, er wird morgen früh kommen, um Oliver zu behandeln. Und um euer großes Gepäck kümmere ich mich ebenfalls gleich morgen früh, ihr müsst mir dafür aber die Frachtpapiere geben.“ Es ist schon spät in der Nacht, als die Kinder in der Casa Azul in ihren Betten liegen und Heiko und Clarissa in ihrer neuen Heimat endlich ein wenig zur Ruhe kommen. „Träume etwas Schönes, Prinzessin“, murmelt Heiko seiner Frau leise ins Ohr. „Du weißt ja: Was man in der ersten Nacht in seinem neuen Bett träumt, wird wahr.“ Clarissa hört diese Worte nicht mehr. Erschöpft ist sie in Heikos Arm eingeschlafen.

2. La Casa Azul
Zwei Monate später, im Juli 1940
Clarissa, die inzwischen das Küchenregiment in dem mit sechzehn Personen voll belegten Haus führt, hat zusammen mit ihren beiden Gehilfinnen, Sara Kahn und Ruth Kovacs, den umfangreichen Abwasch bewältigt. Sie cremt die von der ihr noch ungewohnten, harten Küchenarbeit geröteten und etwas wund gewordenen Hände mit Melkfett ein. Dann setzt sie sich an den großen Tisch im Esszimmer, an dem sonst alle Bewohner der Casa Azul gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen.
Seit ihrer Ankunft in La Paz hatte sie noch keine Gelegenheit, ihre sonst übliche Unterhaltung mit dem geliebten Tagebuch zu führen. Zu viele Ereignisse sind in dieser Zeit auf sie eingestürzt und sie hat nun allerhand nachzuholen. Clarissa legt sich das Tagebuch zurecht, zieht den inzwischen vertrockneten Füllfederhalter mit der von Heiko gestern mitgebrachten Tinte auf und legt in freudiger Erwartung auf das, was sie nun zu Papier bringen wird, los:
Liebes Tagebuch, es ist so viel passiert, seit ich die vorangehenden Seiten geschrieben habe. Es war Lissys fünfter Geburtstag, der Tag, an dem wir endlich in Arica von Bord der MN Conte Biancamano gingen, oder, besser gesagt, von starken Matrosenarmen in die wild umhertanzenden Ruderboote getragen wurden. Ich war erstarrt vor Schrecken und Angst. All das kommt mir auch heute noch wie ein aufbrausender Traum vor, von dem ich erst wieder allmählich erwachte, als wir endlich an Land waren. Dann kam die Aufregung wegen der Verladung des ganzen Gepäcks. Oliver hatte zwar bemerkt und mir zugerufen, dass einer unserer Schiffskoffer ins Wasser gefallen sei, doch ich nahm das erst in der Zollhalle wahr. Zur Besinnung kam ich erst wieder, als wir endlich im fahrenden Zug waren.
Dann, mitten in der Nacht, das entsetzliche Entgleisen der Lokomotive. Der arme Lokführer kam dabei ums Leben. Schließlich die schlimmen, endlosen Wartestunden in der Wüstenhitze, ohne Wasser und ordentliches Essen! Ich kann mir nicht helfen, mir kam doch der Gedanke, dass die bösen Geister, vor denen wir aus Deutschland geflohen waren, uns noch weiter verfolgten. Offensichtlich hat Klein Lissy, Gott sei Dank, die Strapazen ohne seelische und körperliche Kratzer überstanden, leider aber nicht unser lieber Oliver, der unterwegs ganz plötzlich von starken Bauchschmerzen, Durchfall und hohem Fieber befallen wurde. Ich bin Dr. Blumberger ewig dankbar dafür, dass er uns in der Not half. Er riskierte dabei so manches, da er ja hier noch nicht als Arzt zugelassen ist! Ich kann nur hoffen, dass niemand ihn verpetzt.
Jedenfalls besuchte uns schon am Morgen nach der Ankunft der Arzt Dr. Salomon – von dem ich etwas später erfuhr, dass er zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls noch keine bolivianische Zulassung hatte. Dieser untersuchte Oliver und stellte die Diagnose, der Junge leide unter akuter Blinddarmentzündung und müsse umgehend operiert werden. Er verständigte daraufhin sofort die Klinik des Chirurgen Dr. Aparicio in der Avenida Arce. Heiko und Josef, der inzwischen auch schon etwas Spanisch spricht, verhandelten mit der Klinik, in die Oliver zwei Tage später eingeliefert wurde, wo er am darauf folgenden Tag seinen Blinddarm nebst zwei weiteren Drüsen, die den Operateuren auffällig erschienen, opferte. Mein armer Liebling litt noch während einer weiteren Woche unter den Operationsschmerzen, aber wenigstens waren sowohl das Fieber als auch der hartnäckige Durchfall besiegt.
Nachdem Oliver vom Krankenhaus zurück nach Hause gekommen war, brauchte er noch etwa zwei Wochen, um sich von dem schweren Eingriff zu erholen. Er war vollkommen abgemagert und musste erst wieder zu Kräften kommen. Langsam kehrte auch etwas Farbe in seine blassen Wangen zurück. Lissy und er verstehen sich prima und spielen unbeschwert miteinander. Die Sackgasse, der Callejón Ecuador, in der sich unsere Casa Azul befindet, wird kaum von Autos befahren, und so sind die Kinder an der Luft und unter der zumeist scheinenden Sonne ungefährdet. Inzwischen haben Frau Adriáns Sohn, der ein Jahr jüngere Pirulo, Lissy und Oliver nähere Bekanntschaft gemacht und Freundschaft geschlossen und die drei Kinder spielen auch öfter im Garten des Hauses. Erstaunlich ist, dass Oliver und Lissy jeden Tag mit neuen spanischen Wörtern nach Hause kommen – erfreulich, wie sie diese im Fluge aufnehmen.
Unser jetziges Zuhause teilen wir mit einem Dutzend weiteren, ebenso wie wir hier gestrandeten Leuten. Dieses geräumige Blaue Haus, das Josef uns so großzügig kostenlos zur Verfügung stellt, umfasst acht unterschiedlich große Zimmer, wovon der größte und zentrale Raum, der einerseits direkt mit der Küche verbunden ist und dessen lang gezogene Front zum Innenhof zeigt, uns allen als Speisesaal dient. Unsere Mitbewohner sind durchweg von Hitlers Rachsucht kunterbunt zerstreute Menschen, von denen wir als einzige die ungarische Familie Samuel, Ruth und Moses Kovacs bereits aus Oldenmoor kennen. Auch ihnen half letztlich Josef, aus Nazi-Deutschland zu entkommen, und bot ihnen hier als Erstes diese Unterkunft.
Inzwischen ist es Schuhmacher Kovacs gelungen, eine Arbeitsstelle an der Ledernähmaschine beim Koffermacher Freudenthal zu bekommen, worüber er natürlich sehr glücklich ist. Mein ehemaliger Grundschüler, sein Sohn Moses, ist jetzt sechzehn Jahre alt, besucht die Tertia an einem staatlichen Gymnasium, hat ziemlich rasch Spanisch gelernt und kommt gut im Unterricht mit. Er ist zu einem hübschen jungen Mann herangewachsen und die Eltern können stolz auf ihn sein. Auch seinen besonders geliebten Geigenunterricht durfte er dank einer glanzvoll bestandenen Aufnahmeprüfung am Conservatorio Nacional de Música, das ihm daraufhin ein Stipendium gab, wieder aufnehmen. Wir hören ihm gern zu, wenn er auf dem Hof stundenlang seine Etüden übt.
Dann ist da das Ehepaar Sturm aus Nürnberg. Max ist Jude, seine Ehefrau Elfriede katholisch. Sie folgte ihm freiwillig ins Exil, als man von ihr verlangte, sie solle sich doch „von dem Juden scheiden lassen“. Man merkt ihr aber an, dass sie unter den jetzigen Umständen seelisch leidet. Bis wir hier eintrafen, hat sie in der Küche gewirkt, angeblich war man aber mit den von ihr zubereiteten Speisen nicht sehr zufrieden. Obwohl ein wenig polterig, ist der ziemlich korpulente Max doch eigentlich sympathisch, wären da nicht die übel riechenden Zigarrenstumpen, die er gelegentlich raucht. Wir mussten ihn deshalb bitten, dies entweder auf dem Hof oder auf der Straße vor dem Hause zu tun.

Ehepaar Jakob und Sara Kahn mit den beiden Kindern Thea (13) und Alfred (ebenso alt wie Oliver) sind aus Gera in Thüringen geflüchtet und bewohnen zwei Zimmer. Beide Kinder besuchen die hiesige jüdische Schule. Herr Kahn ist für Josef als fleißiger Vertreter tätig und verkauft in der Stadt die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Hacienda, denn gut sortierte Lebensmittelläden wie bei uns in Deutschland gibt es hier nicht. Die benötigten Esswaren kauft man hier entweder auf dem Mercado – Markt – oder in kleinsten, dunklen Tiendas, das sind Gewölbe, in denen Indiofrauen nebst einigen wenigen Konservenbüchsen nur die hier üblicherweise vorhandenen Erzeugnisse feilhalten. Die Immigranten sind froh, wenigstens ab und zu ihnen von zu Hause bekannte Gemüsearten wie Rot- und Weißkohl, grünen Salat, Gurken, Radieschen, Schnittlauch und Rote Beete, aber auch frische Butter und Eier sowie Weißkäse, Quark und Buttermilch angeboten zu bekommen. Gelegentlich gibt es bei Herrn Kahn sogar frisch geschlachtetes Kaninchen- oder Kalbfleisch zu kaufen.
Ein kleineres Einzelzimmer wird von dem pausenlos Zigaretten rauchenden Herrn Ullmann bewohnt, ein kauziger Mathematiker aus Marburg, der felsenfest davon überzeugt ist, das Rätsel der Quadratur des Zirkels lösen zu können. Heiko sagt, es könne sich nur um einen großen, netten Fantasten handeln, denn es sei allseits bekannt, dass es für diese Scheinaufgabe keine Lösung gäbe. Irgendwie erinnert mich dieser nett daherschauende alte Mann an unseren lieben Onkel Suhl.
Ungefähr einen Monat vor meiner Ankunft mit den Kindern belegten Fritz und Fritzie Grünbach, ein jüdisches Wiener Paar, das einzige bis dahin noch freie Zimmer. Sie wohnten zunächst in Boliviens Hauptstadt, Sucre, zogen aber gern her, nachdem man Frau Fritzie eine Stellung als Biologie-Laborantin beim hiesigen Servicio de Sanidad, dem staatlichen Gesundheitsdienst, angetragen hatte. Sie nahmen dankend an, denn bisher konnten weder Fritz als Architekt noch sie in Sucre entsprechende Arbeit finden. Beide sind sehr lustige Leute, Fritz erzählt immerzu Witze. Es ist gut, dass sie im Hause sind, denn die meisten von uns müssen das herzhafte Lachen erst wieder lernen.
Und schließlich bewohnen wir, die vier Kellers, gemeinsam das verbliebene der acht Zimmer. Hier haben wir den besonderen Luxus, über ein eigenes Waschbecken zu verfügen, müssen uns also nicht alltäglich mit den anderen vor der Tür zum Badezimmer anstellen. Allerdings verfügen wir alle zusammen nur über ein einziges Spülklosett, das erfahrungsgemäß immer dann gerade besetzt ist, wenn man besonders dringend muss. Wir schlafen auf vier einfachen Eisenbetten, haben dazu noch zwei Nachtkästchen und einen mittelgroßen Schrank, in dem naturgemäß nur sehr wenig Raum für die von vier Personen benötigte Kleidung ist. Deswegen haben wir unsere gesamte Habe aus den zwölf Schiffskoffern derart umgepackt, dass sich das alltäglich Nötige in zwei dieser Koffer befindet, die aufeinandergestapelt in einer Zimmerecke stehen. Unser erstes apartes „Möbelstück“ habe ich mit einem bunt gewebten, großen Indioteppich drapiert, den ich auf dem Markt erstanden habe. Die restlichen zehn Koffer lagern zusammen mit dem vielen Gepäck unserer Mitbewohner in einem Schuppen hinter Josefs Villa. Im Haus ist dafür einfach kein Platz.
Es gibt einen Wochenplan, nach dem die Nutzung der Wanne im Badezimmer für jede Partie genau eingeteilt ist. Hierfür wird ein gefährliches Ungetüm, genannt „Calefón“, in die bereits mit Wasser gefüllte Wanne gestellt. Dieser Tauchsieder ist ein Holzgestell, das mit einer mit mehreren Löchern versehenen Linoleumhülle bespannt ist. In dem Gestell glühen fünf Elektro-Heizspiralen, sobald man den ungeschützten, zweipoligen Steckschalter an der Wand betätigt, der mittels eines Verbindungskabels mit dem Gerät verbunden ist. Nur darf man dann nicht ins Wasser greifen, denn das gibt einen augenblicklichen, den Tod bringenden Stromschlag! Mir ist jedes Mal unheimlich, wenn ich in die Wanne steige, und das, obwohl dieses Monstrum bereits abgeschaltet und aus dem Wasser entfernt worden ist. Übrigens müssen, damit das Gerät auch die volle Leistung bringen kann, gleichzeitig sämtliche Lampen im Hause ausgeschaltet sein, sonst brennt beim Einschalten des Calefóns auf der Stelle eine Hauptsicherung durch!
Wie schon angedeutet, hat mir bald nach der Ankunft Josef hier die Regie in der Küche übertragen, denn das, was die einfältige Elfriede Sturm den Bewohnern vorgesetzt hat, war in der Tat nicht immer genießbar. So gab es hier für mich zunächst wirklich viel Neues zu lernen!
Erst einmal Grundsätzliches: Hier, auf einer Höhe von 3.800 Metern, kocht Wasser nicht erst bei 100 °C wie auf Meereshöhe, sondern bereits bei 84 °C! Dies ist bedingt durch den verminderten atmosphärischen Druck in dieser Höhe. Das hatte ich ja auch irgendwann im Flensburger Lehrerseminar gelernt, aber natürlich längst wieder vergessen! Das bedeutet, dass man viel mehr Zeit als bei uns zu Hause braucht, um Speisen zu garen. Besonders schwierig ist es beim Fleisch – dies muss endlos lange kochen und ist dann meistens total ausgelaugt und faserig. Zudem sind alle Speisen, wenn sie auf den Tisch kommen, höchstens noch lauwarm, aber daran kann man sich schnell gewöhnen. Es soll ja auch nicht so gesund sein, immer so heiß zu essen, hat Fritzie Grünbach uns kürzlich verkündet. Sie muss es ja wissen, als Biologin.
Da ich soeben das Thema „Wasser“ erwähnte: Leitungswasser aus dem Hahn ist hier keineswegs gleichzusetzen mit gesundem Trinkwasser. Das ursprünglich reine Wasser stammt aus der Schneeschmelze in den hohen Bergen, fließt aber zunächst über offene Kanäle und Rohrleitungen in die Stadt und wird auf diesem Wege durch Tier und Mensch verunreinigt. Wir dürfen deshalb niemals ungekochtes und ungefiltertes Wasser trinken oder zum Waschen von roh essbaren Lebensmitteln verwenden. Auf dem Innenhof wurden zwei große Berkefield-Filter aufgestellt, die mit dem vorab mindestens zehn Minuten lang abgekochten Wasser nach dem Abkühlen befüllt werden. Das Wasser dringt durch die Keramikpatronen und wird dabei von Schwebestoffen befreit und gereinigt.
Viele Immigranten waren bereits von den im Leitungswasser mitgeführten Krankheitserregern, vor allem Typhusbakterien, befallen und erkrankten schwer. Etliche von ihnen sind sogar daran gestorben. Josef hat uns deshalb, wie auch alle anderen Hausbewohner, zur Typhusimpfung zum Amerikanischen Gesundheitsdienst gebracht, wo wir eine sehr schmerhafte Spritze erhielten. Fast alle hatten an den nachfolgenden zwei bis drei Tagen erhöhte Temperatur und der Oberarm war um die Einstichstelle herum stark gerötet und tat recht stark weh. Einige Wochen danach mussten wir noch einmal dorthin und wir wurden gegen Viruela, die schwarzen Pocken, geimpft, die hier ebenfalls überall grassieren. Beide Impfungen müssen alljährlich wiederholt werden.
Ebenso bedeutend: In dieser Höhe hat die Luft beachtlich weniger Sauerstoff, deshalb geht einem beim schnelleren Gehen oder gar bei einer der vielen steil ansteigenden Straßen in dieser Stadt rasch die Puste aus. Aus gleichem Grunde ist das Anzünden der primitiven, einflammigen „Primus“-Petroleumkocher, auf denen wir die Mahlzeiten zubereiten, schwierig und etwas langwierig: Zunächst wird ein Stück zusammengedrehtes Zeitungspapier mit einem Streichholz angezündet und in die Düsenwanne des Primus hineingesteckt, damit sich diese Stelle erwärmt. Man könnte das auch mit leichter entzündlichem Brennspiritus tun, denn dafür ist eigentlich die kleine Wanne am Kocher vorgesehen, aber dies ist umständlich und auch gefährlicher, weil der Spiritus leicht überläuft und dann beim Anzünden ein wildes Feuer entfachen kann. Brandflecken am Küchentisch bezeugen, dass so etwas schon passiert ist! Also: Wenn das Papier fast abgebrannt ist, dreht man die Verschlussschraube am Petroleumtank dicht und setzt diesen mittels Kolbenpumpe unter Druck, damit das Petroleumgas aus der Düse in die Brennkammer des Primus strömt. Hat man seltenes Glück, entzündet sich ein Kranz mit vielen kleinen blauen Flämmchen. Oder es ragt eine giftgelbe Flammfahne empor, die wild rußt und erbärmlich stinkt! Wir verfügen über zwei kleinere und ein großes dieser Ungeheuer.
Noch eine unliebsame Begleiterscheinung beim Kochen auf den Primuskochern ist, dass die Töpfe von dem Petroleum stark verrußen. Dieser klebrige, schwarze Belag lässt sich nur durch starkes Scheuern mit einem Naturkalksteinpulver entfernen, das die Indios uns als „Pockhe“ an der Tür verkaufen. Entsprechend gerötet und wund sehen unsere armen, geschundenen Hände nach dieser Operation aus.
Wie bereits beim Anheizen des Badewassers erwähnt, haben wir im Hause zwar elektrischen Strom, aber die geringe Leistung, die jedem Haushalt von der Bolivian Power Co. zugeteilt wird – so heißt hier die Firma, die den Strom liefert –, reicht gerade einmal für die etwa fünfzehn 25-Watt-Funzeln für unsere Zimmerbeleuchtung. Und auch das ist oft ein Glücksspiel, denn Stromausfälle sind hier an der Tagesordnung.

Nicht zu vergessen der obligate tägliche Gang zum Einkaufen in dem fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernten Frischmarkt, dem Mercado Sopocachi. Obwohl ich mich in Begleitung von Frau Kahn befand, wurde mein dortiger erster Besuch zum Kulturschock. Abgesehen von den unbeschreiblichen Gerüchen, die einem beim Betreten des geschlossenen Gebäudes entgegenwehen, trifft man darin auf etwa drei Reihen von etwa einem Meter vom Boden erhöhten Betonpodesten, auf denen die mit bunten Polleras und den typischen steifen Filzhüten bekleideten Marktcholas inmitten ihrer Waren thronen. Meistens tragen sie auch noch ein in ein buntes Tuch stramm eingewickeltes Kleinkind auf dem Rücken.






