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Als die Kinder das umzäunte Gelände betreten, krähen die beiden Hähne aufgeregt, zahlreiche Hühner laufen erschrocken davon, andere flattern zum Vergnügen der jungen Besucher wild gackernd umher. Lissy hält sich die Hände schützend vor das Gesicht, ist aber nicht bange. Durch die Geräusche hellhörig geworden, kommt ein blondes, etwa zwölfjähriges Mädchen, das mit einem viel zu großen Overall und Gummistiefeln bekleidet ist, aus Richtung des Stallungstors auf sie zu. Überrascht blicken Lissy und Oliver die Erscheinung an. „Hallo, ihr müsst Oliver und Lissy sein, nicht wahr? Ich heiße Bärbel und bin die Tochter von Hans und Rosa Adler – die habt ihr ja schon gestern kennengelernt.“
„Hallo, guten Morgen, Bärbel“, antworten die Kinder einer nach dem anderen. Moses geht zu ihr und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Bärbel errötet und versucht abzulenken: „Wollt ihr mir beim Eiersammeln helfen? Dann kommt doch mit herein.“
Gespannt folgen Alfred, Oliver und Lissy der Aufforderung, nachdem die beiden Letzteren ein zustimmendes Nicken von Clarissa vernommen haben. Im großzügig angelegten Stallraum befinden sich Wandregale, die fast bis an die Decke reichen. In diesen stehen unzählige mit Stroh ausgelegte Holzkisten, in denen die Hühner ihre Eier ablegen. Bärbel und Alfred steigen die Leitern hinauf, woraufhin die Hennen aufgeregt gackernd umherflattern und lautstark gegen die Eindringlinge protestieren. Bärbel und Alfred reichen Oliver die eingesammelten Eier herunter, der sie vorsichtig in die dafür bereitstehenden Strohkörbe legt. Lissy stöbert inzwischen in den unteren Legekisten und hält kurz darauf Oliver mit perplexem Gesichtsausdruck ein weißes, hölzernes Ei vor die Nase. Alfred hat es bemerkt und erklärt, dass diese Schummeleier die Hühner täuschen und sie dazu animieren sollen, dem Gelege weitere Eier hinzuzufügen.
„Warum macht ihr das denn?“, fragt Lissy.
Alfred wendet sich hilfesuchend an Bärbel.
„Sieh mal, Lissy, wenn man alle Eier im Nest lassen würde“, erklärt diese, „dann setzen sich die Hühner darauf und bebrüten sie mit ihrem Körper einige Tage lang, und zwar so lange, bis die kleinen Küken aus den Schalen schlüpfen. Wir wollen aber die Eier entweder selbst essen oder sie verkaufen. Deswegen müssen wir sie den Hühnern wegnehmen, bevor sie mit dem Brüten anfangen.“
„Habt ihr denn gar keine Küken hier?“, fragt Oliver.
„Doch, da kommt mal mit.“
Alfred und Bärbel klettern wieder herunter. Dann betreten sie alle zusammen durch eine kleine Tür den ebenfalls kleinen Nebenraum. Dort laufen zu Lissys größtem Entzücken zwei Hennen auf dem Boden herum, denen je ein Dutzend schwach piepsender, goldgelber Küken hinterhereilen.
Während sich die Jüngeren mit Bärbel erneut auf Eierpirsch begeben, meint Thea zu Moses: „Ich hab keine Lust, nochmals den Hühnern unter den Popo zu fassen. Wollen wir nicht lieber wieder zurückgehen? Außerdem hatte ich Frau Schloß ja versprochen, ihr bei den Vorbereitungen für das Mittagessen zu helfen.“
Etwas verunsichert antwortet Moses: „Ja, ist vielleicht auch besser so. Ich muss noch meine heutige Geigenübung absolvieren und habe einiges nachzuholen. Also gut, gehen wir!“
Die beiden holen Frauke und Clarissa, die bereits vorgegangen sind, auf dem Weg zur Casa Vieja ein.
Neben dem Hauptgebäude treffen sie auf Josef Schloß, den tüchtigen schwäbischen Gärtner aus Waiblingen, der in seinem Gemüseeden gerade dabei ist, Zwiebeln, Karotten und Yuca, eine hier gut gedeihende einheimische Maniokknolle, die als Kartoffelersatz dient, für das Mittagessen zu ernten. Die kleine, schrullige, immer lustige und gut aufgelegte Gestalt, stets mit dem kalten Pfeifferl im Mund, grient die beiden Damen freundlich an und hält ihnen die von dunkler Gartenerde beschmutzten Hände entgegen. „Heute gibt’s frische Zwiebele, Kohlrabiles, Möhreles und das vermaledeite Yuca zum Fraß. Gute Kartoffeles mögen ja in dieser ruchlosen Gegend nicht gedeihen! Maledetto, maledetto!“, grunzt er. Dann wendet er sich, ein Lied vor sich her summend, wieder seiner Arbeit zu.
Neben ihrer Arbeit im Gemüsegarten und in der Küche greift das Ehepaar Josef und Martha Schloß jeweils in der Früh und am Abend den Adlers beim Melken tüchtig unter die Arme, denn mehr als fünfzig Milchkühe bevölkern den großen Kuhstall. Der Corral befindet sich abseits und etwa 200 Meter tiefer gelegen als die Casa Nueva. Ober- und unterhalb des lang gezogenen Stallgebäudes erstrecken sich weite, eingezäunte Stallungen und Koppeln an den sanften Hängen, in denen Jungbullen und Färsen getrennt die Nächte verbringen. Die Kälber werden in einem vom Stall seitlich abgetrennten Abteil gehalten. In einem Nebengebäude ist sowohl die kleine Käserei als auch die Wohnung der Familie Adler untergebracht.

Martha Schloß, die unterstützt von Luisa und Violeta in der Küche agiert, tritt heraus und begrüßt Frauke und Clarissa freundlich. Gerade geht Thea Kahn der Gehilfin Violeta beim Rösten von Kaffeebohnen zur Hand. In einem verrußten, schrägen Tontopf auf der offenen Holzflamme am Herd befinden sich die bereits gebräunten Bohnen, die mit einem Holzstab ständig in Bewegung gehalten werden. Dicker Rauch und ein herbes Aroma nach gebranntem Kaffee erfüllen den Küchenraum. Luisa weicht das luftgetrocknete dunkle Rindfleisch, die flachen Charque-Platten, in einer mit Wasser gefüllten Wanne ein, damit es aufquillt und wieder essbar wird. Frisches Fleisch gibt es hier nur, wenn Hühner, Kaninchen oder bisweilen gar ein Kalb geschlachtet werden. Schweinefleisch von den Indios aus der Umgebung gäbe es zur Genüge, aber man verzichtet darauf, aus Rücksicht sowohl auf die hier wohnenden und die als Gäste bewirteten Juden. Die gelegentlich auf den Tisch kommenden Wurstwaren stammen ausschließlich von Isaak Goldfarb, dem einzigen jüdischen Schlachter in La Paz. Darüber hinaus werden keine besonderen rituellen Vorschriften bei den Speisen eingehalten.
Luisa, Violeta und Rosita gehören der achtköpfigen Landarbeiterfamilie Saavedra an. Diese ist schon seit Generationen im Dienst Guayrapatas und wird auch weiterhin von Josef beschäftigt. Die Familie bewohnt ein kleineres weißes, mit Wellblech bedachtes Haus unterhalb der Casa Vieja inmitten eines zumeist mit Mais bepflanzten Ackers. Señor Saavedra ist bereits seit Langem verstorben, aber sieht man sich die sechs weiblichen und den einzigen männlichen Nachkommen der ziemlich korpulenten Señora Maria näher an, ist es wahrscheinlich, dass es nach ihm noch weitere Señores als deren Erzeuger gegeben haben muss.
Josef Schloß tritt vor die Küche, voll beladen mit zwei großen Körben Gemüse. Zum ersten Mal vernimmt Clarissa amüsiert seinen stets wiederkehrenden Singsang: „Si señor, no señor, wie kommst du mir denn vor?“
Unterhalb des großen Patios der Casa Vieja steht rechts neben den Stammholmen der Eingangspforte die kleine Kapelle der Hacienda. Daraus ertönen leise die Tonleitern und Etüden, die Moses gerade auf seiner Geige erzeugt.
Während Martha und ihre beiden Gehilfinnen emsig mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt sind, decken Clarissa und Frauke den Tisch für die zwanzig hungrigen Münder, die wohl bald eintreffen werden. Pünktlich um 12:00 Uhr erscheint Rosa Adler und betätigt kräftig den Klöppel der Glocke, die vor dem Magazin hängt. Die drei Glockenschläge und dazu der laute Ausruf: „Akuli!“ signalisieren den Landarbeitern in der Aymarasprache, dass jetzt Pause sei. Für die anderen ist es der Ruf zum Mittagsessen. Zu all jenen, die sich inzwischen miteinander bekannt gemacht haben, gesellt sich jetzt auch das Schweizer Urgestein Urs Brunner, der hauptsächlich den Adlers im Kuhstall assistiert.
Schon ganz früh am Morgen, sobald es hell wird, treibt Hans Adler mit Hilfe von Urs Brunner die Maulesel von der Koppel hinauf in den Vorhof der Casa Vieja und schließt hinter ihnen die Holme in der Pforte. Mit geübtem Griff wirft Hans den Tieren, die an diesem Tag dran sind, ein Seil um den Kopf und bindet sie an einem Balken fest. Dann prüfen die beiden die Rückenpartien der Mulas, denn einige weisen Bisswunden auf, die ihnen während der Nacht von Vampir-Fledermäusen zugefügt wurden. Mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tampon geht Urs von Muli zu Muli, um sie alle zu verarzten, denn in diesem tropischen Klima infizieren sich die Wunden rasch. Zudem legen bösartige Fliegen ihre Eier darin ab. Diese Behandlung ist für die Tiere wenig angenehm. Ärgerlich stampfen sie mit den Hufen. Einige schlagen rabiat mit den Hinterläufen aus oder versuchen gar den Aggressor zu beißen. Die beiden Männer sind jedoch routiniert und lassen sich von diesem Drohgehabe nicht einschüchtern.
Zum Schutz der verletzten Matas wird den verarzteten Mulis ein sauberes Leinentuch aufgelegt. Darauf legen Urs und Hans nacheinander zahlreiche Decken – auch eine mit Hinterzeug. Dessen breite Borte wird unter dem Schwanz des Tieres platziert, damit Sattelzeug und Ladung im abschüssigen Gelände nicht verrutschen. Zuoberst kommen bei Reittieren der Sattel und bei Lasttieren breite, flache Ledergurte. Mit einem sehr kräftigen Zug müssen nun gegen den Widerstand der trotzig aufgepumpten Leiber der Tiere die Befestigungsriemen angezogen werden. Dieser Trick hat schon manch unerfahrenen Mulatero überlistet, der die festgezurrt geglaubte Carona plötzlich am Bauch des Tieres hängend und seine Ladung am Boden wiederfand. Als die Riemen tatsächlich fest sind, öffnet Urs die Tranquera und entlässt die freien Mulis auf ihre Koppel.
Rosa Adler und Martha Schloß kochen inzwischen Eier und bereiten belegte Butterbrote für die Abreisenden vor. Nach diesem schönen verlängerten Wochenende auf Guayrapata heißt es für die erwachsenen Besucher Abschied nehmen, denn sie alle müssen an ihr Tagewerk zurück. Die Kinder haben es besser, sie dürfen während der gesamten Ferien hierbleiben, allerdings unter Rosa Adlers strenger Obhut.
Da die Adobeziegel für den Backofenbau noch nicht ausreichend getrocknet sind, haben Josef und Heiko den spanisch sprechenden Santiago instruiert, wie er und Iraya beim Aufbau des Ofendomes vorgehen sollen. Herr Kahn hat inzwischen die eiserne Ofentür wieder instand gesetzt. Mit der Hilfe von Hans Adler haben sie die abgebrochenen durch neu geschmiedete Scharniere ersetzt und diese angeschweißt.
Bedripst stehen die Jüngeren, vor allem Lissy, bei dem Gedanken an die vorübergehende Trennung vor ihren Eltern auf dem Hof. Bitter weinend vergräbt das Mädchen sein Gesicht in Theas Schulter, während die berittene Maulesel-Karawane das Gut durch die offene Tranquera verlässt. Hans Adler und Urs Brunner, der ihn heute nach Puente Villa begleitet, bilden zu Fuß die Nachhut.
Auch diesmal gestaltet sich die Rückfahrt nach La Paz für die Damen der Gruppe vorteilhaft, denn wiederum sind für sie im Colectivo des Hotels Chulumani Sitzplätze frei. Die Männer müssen es sich dagegen so gut es geht auf den hölzernen Eier- und Käse-Transportkisten eines voll beladenen Camión bequem machen.
Sobald die letzten Maulesel außer Sichtweite sind, erfolgt der aufmunternde Ruf Rosa Adlers: „Also, bitte kein Trübsal blasen. Ihr kommt alle mit mir in den Kuhstall, dort haben wir heute noch viel zu tun und ihr könnt euch dabei nützlich machen. Jetzt los, alle folgen mir!“
6. Kinderparadies
Etwa eine Viertelstunde braucht die Gruppe, um bis zum Kuhstall zu gelangen. Begleitet werden sie von den beiden Schäferhunden Chiquita und Dickusch. Zunächst wandern sie entlang der schattigen Allee mit den hohen und früchtebeladenen Mispel- und Limabäumen sowie den Bäumen, von denen saftige – leider bittere! – Orangen leuchten. Danach führt sie der Weg an einem seichten Hang entlang. Weiter unten, inmitten des Maisfelds der Saavedras, vernehmen die Kinder ein seltsames Trommeln. Dieses wird hervorgerufen durch den sehr hageren jungen Miguel, der mit einem Holzklöppel rhythmisch auf einen alten Topfdeckel schlägt und mit seinem Singsang – „Huayko, Huayko, Huayko“ – bestrebt ist, die Schnepfen und Rebhühner von den vielen bereits heranreifenden Maiskolben zu verscheuchen.
Am Abhang wächst ein undurchdringliches Dickicht stacheliger Brombeerbüsche. Ein Blick nach rechts oben verrät etwas weiter vorn, inmitten von hochgewachsenen Eukalyptusbäumen, die Dachkontur der Casa Nueva. Endlich erspäht man weiter unten, halb versteckt unter üppigen Bananenblättern, das lang gezogene Wellblechdach des Corral. An den beiden großen Tränken vorbei führt dann der Weg hinunter zu den Stallungen. Rechts eine Koppel, auf der der mächtige Holstein-Bulle Hans mit einem Ring durch die Nase bedrohlich die vorbeiziehende Kinderschar beäugt. „Vor dem müsst ihr euch in Acht nehmen“, rät Bärbel. „Nur mein Vater traut sich näher an ihn heran, und das auch immer mit großer Vorsicht.“
Josef und Martha Schloß waren zusammen mit Rosita und Juanita Saavedra zum Stall vorgeeilt. Die beiden jungen Frauen helfen immer dann beim Melken aus, wenn, so wie heute, Hans und Urs anderweitig beschäftigt sind. Die Kühe stehen sich, an den Längswänden angebunden, in zwei Reihen gegenüber, jede unter einer Schiefertafel. Neben „Martha“, „Anna“ und „Lieselotte“ sind darauf auch „Meikuh“, „Meikalb“, „Faßele“, „Einhörnle“, „Sturkopp“, „Stößerin“ und andere mehr oder weniger ausgefallene Namen zu lesen.
Ehrfürchtig betreten die Kinder die Stallung. Auf den ein- oder dreibeinigen Schemeln sitzen die melkenden Frauen. Den Eimer zwischen den Knien festgeklemmt, bearbeiten sie fleißig die mageren Euter. Martha redet leise auf ihre Kuh ein, sie möge doch ihre Milch hergeben.
Lediglich karges Grünfutter finden die Rinder an den oberen Berghängen Guayrapatas, auf die sie nach dem Melken getrieben und dort für den Rest des Tages sich selbst überlassen werden. Deswegen erhält jede Kuh beim Melken einen Eimer mit angemachtem Afrecho als Ergänzungsfutter, damit wenigstens eine Tagesleistung von zwei bis drei Litern Milch je Kuh erreicht werden kann. Erfreulich hoch ist dagegen deren Rahmgehalt, der zwischen sechs und sieben Prozent liegt.
Vater Schloß, der gerade das Afrecho – Weizenkleie mit Wasser – knetet, bekommt Hilfe von Bärbel und Alfred, die diese Prozedur schon kennen. Moses und Oliver erhalten die Anweisung, einige große Lecksalzwürfel mit einem Hammer zu zerkleinern, um einige Brocken dem Futter hinzuzufügen. Die beiden Jungs schleppen dann die gefüllten Futtereimer in den Stall, damit die Melkerinnen sie ihren Kühen hinstellen können.
Rosa Adler hat sich Eimer und Schemel genommen und melkt ein Muttertier, das während der letzten Nacht gekalbt hat. Hans wurde um ein Uhr morgens von lautem Muhen geweckt und kam gerade rechtzeitig dazu. Das Neugeborene lag bereits auf dem Streu und er konnte die Nabelschnur durchtrennen, sie abbinden und desinfizieren. Er ist erfreut über den Zuwachs für die Herde, denn es ist ein Weibchen. Hans trägt es vorsichtig in den benachbarten Kälberstall. Mühelos gewinnt nun Rosa die gelbliche Biestmilch, die aus dem prall gefüllten Euter der gekalbten Kuh fließt und reich an wertvollen Inhalts- und Abwehrstoffen ist. Diese werden ihrem Kälbchen gleich zugutekommen.
„Ay, caramba!“, schreit Rosita wütend, denn sie hat soeben einen Schlag mit dem Kuhschwanz mitten ins Gesicht bekommen. Ihre Kuh stampft mit den Hufen und schnauft heftig in ihren Afrechoeimer hinein, um die lästige Fliegenschar zu vertreiben, die ihr beim Fressen um den Kopf herumschwirrt. Gerade noch kann Rosita den schon zu einem Viertel vollen Melkeimer retten.
Vorsichtig trägt Vater Schloß die Eimer mit der frischen Milch zu einer besonderen Schubkarre, auf der ein Tank fest montiert ist. Hier hinein gießt er die Milch und bringt dann das Leergut zurück in den Stall. Die Karre mit dem vollen Milchtank wird rasch in die Käserei gebracht. Dort werden Hans Adler und Urs Brunner am Abend die Morgenmilch zusammen mit der am Nachmittag gemolkenen verarbeiten.
Rosa Adler ist fertig mit dem Melken ihrer Kuh und trägt den fast vollen Melkeimer. Dann ruft sie: „Wollt ihr jetzt zu den Kälbchen? Dann kommt mit mir!“ Die Kinder lassen sich das nicht zweimal sagen und folgen Rosa. Alfred, Thea und Moses tragen ebenfalls volle Milcheimer, die ihnen Vater Schloß bereitgestellt hat.
Fünf Kälber kommen ihnen neugierig entgegen, als Bärbel die Türe öffnet. Noch etwas schwach steht der Neuankömmling auf zittrigen Beinen. Rosa gießt etwa die Hälfte der wertvollen Muttermilch in einen hölzernen Eimer, den Alfred ihr hinhält.
Oliver und Lissy sehen fasziniert zu. „Wie süß, darf ich es streicheln?“, fragt sie entzückt.
„Warte noch ein bisschen, mein Kind, erst muss das Kleine gefüttert werden.“ Dann fragt Rosa: „Wer will? Aber Vorsicht, es wird sicher stark mit dem Kopf in den Eimer stoßen!“

Thea hält das Kälbchen fest, während Moses ihm schräg den Eimer vor die Schnute hält und ihm drei Finger der zuvor in die Milch getauchten Hand zeigt. Bärbel hilft nach und steckt dem Säugling den Kopf in den Eimer. Dieser begreift sofort und macht sich gierig an seine Mahlzeit. Wie von Rosa vorausgesagt, muss Moses einige Kopfstöße des Kälbchens auffangen, aber alles läuft gut, bis es den Behälter leergesogen hat. Auch danach lutscht es noch kräftig an Moses’ Finger. Dann erinnert sich Moses plötzlich daran, dass er doch mit den Fingern sehr vorsichtig sein muss – er darf sich nicht verletzen. Das wäre schlimm für seine größte Leidenschaft, das Violinenspiel. Für ihn steht die Berufswahl schon seit seiner Kindheit fest: Er will unbedingt Musiker werden. Er ist tatsächlich sehr begabt, übt fleißig mehrere Stunden am Tag und ist der beste Schüler von Señor Osvaldo D’Amore, der sein Geigenlehrer am Konservatorium ist.
Inzwischen versorgen die anderen Kinder die restlichen Kälber, die alle durstig nach ihrer Milch lechzen, in gleicher Weise, wie Moses es getan hat. Oliver steht unentschlossen dazwischen und hätte auch große Lust, ein Kalb zu füttern, aber noch fehlt ihm dazu der Mut. Lissy schaut verträumt umher und ist gefesselt von diesem Bild.
„Was meint ihr, Kinder, wie wollen wir das neue Kälbchen nennen?“, fragt Rosa. Alle auf Guayrapata geborenen Kälber bekommen üblicherweise die Namen der gerade anwesenden Ferienkinder. So stehen da natürlich schon eine „Bärbel“ und eine „Thea“ in der Gruppe. Auch „Moisés“ und „Alfredo“ sind dazwischen, allerdings sind die kleinen Stiere weit weniger begünstigt als die Weibchen, denn ihnen droht schon nach wenigen Monaten der Weg zum schnöden Schlachter.
„Meint ihr nicht, wir sollten sie Lissy nennen?“, schlägt Thea vor. „Und da ist auch der kleine Stier, der noch keinen Namen hat, den nennen wir Oliver.“
Durch einstimmige, laute Akklamation wird der Vorschlag angenommen. So hat nun jedes der Kälbchen seinen Taufpaten und Lissy darf endlich ihr Patenkind streicheln. Schüchtern streicht sie mit ihrer Hand über das weiche, schwarz-weiß gefleckte Fell. Mit frohem Lachen quittiert sie die feuchte Schnauze, die ihr das Tier plötzlich unter den Rock steckt und diesen zur Belustigung aller hochhebt.
Glücklich und zufrieden verlassen die Kinder wenig später den Kälberstall. Bärbel verriegelt vorsichtig die Tür.
Als alle Kühe gemolken sind, werden sie losgebunden. Nach und nach verlassen sie den Stall. Meikuh und Faßele tragen kleine Kuhglocken um den Hals. Auch die Färsen, die noch nicht gekalbt haben und keine Milch geben, werden ins Freie gelassen. Nach labendem Aufenthalt an den Tränken trotten sie gemächlich auf den Berg, um hier und dort auf das begehrte Grünfutter zu stoßen. Stetig fressend steigen sie allmählich den Hang empor, bis man sie schließlich inmitten des dichten, grünen Gebüschs aus den Augen verliert. Nur ab und zu verrät ein Läuten, wo sie sich gerade aufhalten.
Martha Schloß macht sich rasch auf den Weg zurück in die Casa Vieja, um dort für das Mittagessen zu sorgen. Für die anderen ist es an der Zeit, den Stall auszumisten. Alle ziehen Gummistiefel an. Kräftig schieben die beiden Saavedra-Mädchen gemeinsam mit Vater Schloß die nächtliche Fladen-Hinterlassenschaft der Rinder auf dem Betonboden des Stalls zusammen. Alfred und Moses helfen tatkräftig mit, auch Oliver versucht sich an der Schaufel und die drei füllen Schubkarre für Schubkarre mit den Kuhfladen. Vater Schloß fährt die voll beladenen Karren durch die hintere Stalltür hinaus, wo der Dung auf einen Haufen am Hang hinabgeschoben wird. Dann spritzt er im Stall die Dungreste mit einem Wasserschlauch vom geriffelten Estrichboden. Das grünliche Abwasser fließt zur Stallmitte und unter der mit Gitterrosten abgedeckten Abflussrinne ins Freie.
Rasch vergehen die Stunden, dann müssen sich alle sputen – es ist Mittagszeit. Schon während des gehetzten Händewaschens vernehmen sie das Läuten der Mittagsglocke und den durchdringenden „Akuli“-Ruf Rosa Adlers. Höchste Eisenbahn also, um zu Tisch zu eilen!
Zur Freude der Kinder gibt es heute nach der unweigerlichen Gemüsesuppe Rindswürstchen vom Schlachter Goldfarb aus La Paz, dazu Kartoffelsalat. Zum Nachtisch hat Luisa einen Grießbrei vorbereitet, der mit dem selbst gemachten Brombeersirup übergossen wird. Nach dem Essen heißt es: Siesta bis um halb drei Uhr. Alle ziehen sich zurück. Da draußen die Sonne brennt und es sehr heiß ist, ist man froh, sich im Haus etwas abkühlen und dabei ausruhen zu können. Die Hunde Chiquita und Dickusch dösen im Schatten vor dem Magazin. Nur die beiden Saavedramädchen sind noch da: Sie decken den Tisch ab, waschen Geschirr und Kochtöpfe ab und säubern schließlich Esszimmer und Küche. Dann gehen auch sie hinunter in ihr Häuschen.
Pünktlich um halb drei läutet nochmals die Glocke. Diesmal ist es Vater Schloß, der ein lautes „Akuli listo!“ in die Luft schmettert. Damit ist für alle die Mittagspause beendet. Dann stimmt er vergnügt sein immer wiederkehrendes „Si señor, no señor, wie kommst du mir denn vor?“ an und wendet sich seiner Arbeit im Gemüsegarten zu.
Luisa hat bereits große Kannen mit duftendem Kaffee für die Erwachsenen und kalte Milch für die jungen Leute auf den Tisch gestellt. Dazu stehen große Stücke Gugelhupf bereit, den Heiko zusammen mit Ruth Kovacs am Vortag im kleinen Backofen der Küche gebacken hat. Miguel Saavedra, mit einem übergroßen Sombrero aus Stroh auf dem Kopf und einem langen Hirtenstab in der Hand, stößt jetzt auf die Gruppe. Er wird von allen begrüßt und mit Oliver und Lissy bekannt gemacht. Auch er bedient sich an Kaffee und Kuchen, denn er leitet das allnachmittägliche Heimholen der Rinder von den Feldern und Wäldern, wohin die Tiere während ihrer Tageswanderschaft auf der Suche nach Futter geraten sind. Dem geschickten Späher gelingt es stets, auch die hinterlistigsten versteckten Kühe zu finden und sie aus ihrem Schlupfloch herauszutreiben. Bei ihm kann man sicher sein, dass alle Rinder vollzählig in den Corral zurückkehren.
„Wer trommelt jetzt bei dir auf dem Maisfeld, während du weg bist?“, fragt Oliver neugierig.
Miguel antwortet belustigt: „Meine Mutter, Doña María, aber die kann nicht so laut rufen wie ich, deswegen haben es nun die Rebhühner für drei Stunden leichter, an ihr Futter zu herankommen. Aber es macht nichts, die müssen ja auch leben, und außerdem, wenn sie schön fett sind, schießen wir gern einige von ihnen zum Essen ab. Gebraten schmecken nämlich Perdices und Becasinas wirklich sehr gut!“
Nachdem sie sich gestärkt haben, macht sich die Gruppe aus Bärbel, Alfred und Thea unter Miguels Führung auf den Weg, um die Rinderherde hereinzuholen. Die beiden Schäferhunde laufen ihnen freudig hinterher. Moses kann nicht mitkommen, er geht hinunter zur Kapelle. Da er den ganzen Vormittag im Corral verbracht hat, muss er jetzt seine Übungsstunden nachholen. Bald darauf ertönen leise Geigentöne aus dem kleinen Bethaus.
Rosa Adler schlägt Oliver und Lissy vor, mit ihr wieder in den Kuhstall zu gehen, um sich dort an das Käsewenden zu machen. „Hans und Urs müssten mit den Mulas bald wieder hier sein. Sobald sie abgeladen sind, könnt ihr zur Casa Vieja zurückreiten.“
Die beiden Kinder folgen der flott vorausgehenden Rosa bis in den Corral. Dort angelangt, gehen sie um den Stall herum bis zur dahinter gelegenen Käserei. Hans Adler hat eine ehemals neben diesem Gebäude in den Berg geschlagene Grotte erweitert, deren Wände mit Mörtel geglättet und dann weiß gekalkt. Anschließend wurden Holzregale an die Wände gebracht, auf denen jetzt viele etwa dreißig Zentimeter große, runde Käselaibe jeweils zwei bis drei Monate lagern, um zu reifen. Ein schweres, mit einer dicken Kette und einem Schloss versehenes hölzernes Tor sichert den Eingang zum dunklen und kühlen Gewölbe. Unter Rosas Anleitung werden nun alle Käselaibe nacheinander auf einen Tisch gelegt, mit trockenen Leinentüchern abgewischt, mit Salzlake bepinselt und schließlich mit der zuvor unteren Seite nach oben wieder ins Regal gelegt. „Dies machen wir alle zwei Tage, damit der Käse trocknen, sich aber kein Grünschimmel an der Oberfläche bilden kann, denn der ist gesundheitsschädlich“, werden die Kinder belehrt.






