Raue Februarwinde über den Elbmarschen

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Zwei Wochen zuvor ist es auf dem Thodehof am Rande der Kleinstadt Oldenmoor hoch hergegangen. Während die Familie in der Wohnküche beim Mittagessen versammelt ist, verkündet halblaut Jungbauer Norbert Bahlke seiner Ehefrau Regine: »Ich habe heute Vormittag mit dem Filialalleiter der Holsteinischen Bank verhandelt und wir sind uns einig geworden. Herr Sievers sagte mir den Kredit für den Ankauf von fünf Genussscheinen der Wind-Powermasters Genossenschaft zu. Sie werden zur Sicherheit bei der Bank deponiert und der Kredit wird mit den fest zugesicherten Zinsen, die die Genussscheine abwerfen, abgegolten, sodass uns dadurch praktisch keine Spesen entstehen.«
»Verdammich nomol! Hört dat nie op?« Altbauer Theo Thode haut mit der Faust so hart auf den Tisch, dass das gesamte Geschirr klappert. »Ick kun juun bloides Gesabbel nie nich mehr höörn! Un erpressen lass ick mich schon gor nich!« Wutentbrannt schiebt er den nur bis zur Hälfte leer gegessenen Teller Erbsensuppe von sich, knallt den Löffel auf den Tisch, steht auf und verlässt schwer hinkend die Wohnküche. Er hat sich die Verletzung vor zwei Jahren zugezogen, als er in ziemlich angetrunkenem Zustand vom eigenen Trecker gefallen ist und dabei auch noch sein rechtes Bein von dessen mächtigem Hinterrad überfahren wurde. Der längere Krankenhausaufenthalt und ein vom Unfall verbliebener Gehschaden haben ihn dazu bewogen, den Bauernhof samt Viehwirtschaft sowie die 65 Hektar großen Ackerflächen seiner Tochter Regine und dem Schwiegersohn Norbert Bahlke in Erbpacht zu überlassen. Mit Anfang sechzig war er zu der Zeit zwar noch zu jung, um sich vom seit Generationen ererbten Hof der Thodes zu lösen, aber er musste erkennen, dass ihm nach dem Verlust seiner treuen Siglinde, die vier Jahre zuvor an Brustkrebs verstorben war, jegliche Lebenslust – samt der vormaligen Freude an der Landwirtschaftsarbeit – abhandengekommen war. Der einst so gesellige und unternehmungslustige Kerl mutierte zu einem sehr stillen, in sich gekehrten und stets muffigen männlichen Wesen, das sich mehr der Flasche als der Familie und den Belangen des Gutshofs widmete. So brachte er dem Begehren der Tochter und ihres Mannes nach seiner Abdankung aufgrund des unhaltbar gewordenen Zustandes von Finanzen, Haus und Hof kaum Widerstand entgegen. Ja, er gestand sich insgeheim sogar ein, dass er darüber froh war, von diesen lästig gewordenen Bürden entbunden zu werden. Obwohl er damit die gesamte Wirtschaft und Verantwortung seiner Nachkommenschaft überließ und sich nur dann über das Tagesgeschehen äußerte, wenn er danach gefragt wurde, gab es in einer Hinsicht – nämlich jener der eventuellen Aufstellung von Windenergieanlagen auf seinem Grund und Boden – eiserne Ablehnung. »So’n Schietmobil kommt mi nie nich op mien Land! Da ward man bloss vun ramdösig. Un de Keu, de warn bregenklöterig un givt dann ok keen Melk mehr!« Die jungen Bauersleute, die von nun an für das Überleben des finanziell ziemlich ramponierten Gutes Sorge zu tragen hatten, sahen dies allerdings ganz anders, versprach doch die Jahrespacht für die Aufstellungsfläche einer Windenergieanlage – je nach erbrachter KWh-Leistung – bis zu 25.000 Euro. Sie versuchten deshalb dem Altbauern die Erlaubnis für die Verpachtung einer etwas weniger als 6 Hektar großen Fläche für die Aufstellung von vier Windrädern abzuringen. Die Rechnung, die die Tochter dem sturen Vater vorlegte – bei einem durchschnittlichen Ertrag von 8 Tonnen Weizen je Hektar wären auf diesem Ackerstück bestenfalls 48 Tonnen und ein Bruttoerlös von gerade mal 8.200 Euro erzielbar; dagegen stünden bis zu 100.000 bare Euro jährlich! –, konnte ihn dennoch nicht überzeugen, war doch seine Abneigung gegen diese ständig Schatten werfenden und in der Nacht rot blinkenden Ungeheuer unumkehrbar. Total entnervt haben ihm daraufhin heute Tochter und Schwiegersohn tatsächlich die Pistole an die Brust gesetzt, indem sie ihn vor die Alternative gestellt haben, entweder seine Zustimmung zu erteilen, im gegenteiligen Fall aber den Erbpachtvertrag sofort zu lösen und den Hof samt Kindern und Enkeln zu verlassen.
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Trotz der eisigen Kälte und des starken Windes in den frühen Morgenstunden dieses Sonntags hat Nili es geschafft, ihren Waldi aus dem mollig warmen Bett zu scheuchen und nach Einnahme eines heißen Bechers schwarzen Tees mit Minze mit ihr auf ihrer üblichen Joggingstrecke entlangzutraben. Die eisige Luft, die ihnen entgegenweht, treibt ihnen die Tränen in die Augen, nur mühsam kommen sie gegen die oft böigen Luftmassen an.
»Guck mal, Nili, der Wind ist so stark, dass die ganze Reihe Windräder dort hinten zum Stillstand gekommen ist!«, bemerkt Waldi mit keuchender Stimme.
»Ja, das habe ich auch schon beobachtet«, antwortet Nili. »Das bedeutet, dass die Windgeschwindigkeit neunzig Stundenkilometer überschritten haben muss, denn da schalten die Windräder automatisch ab! Aber lass dich von dem Wind nicht ärgern und streng dich ruhig noch etwas an. Auf dem Rückweg laufen wir dafür mit achterlichem Wind viel leichter.«
Kurz darauf hören sie von weit hinten das Martinshorn eines Polizeistreifenwagens, der sich ihnen mit Blaulicht und rasender Geschwindigkeit nähert. Neugierig bleiben sie stehen und beobachten den Wagen. Die Insassen haben sie offensichtlich erkannt, denn die Fahrerin steigt abrupt auf die Bremse und das Auto kommt etwa fünfzig Meter hinter ihnen zum Stehen. Nili und Waldi traben bis an das heruntergefahrene Fenster des Beifahrers.
»Mensch, Nili, das ist aber eine echte Überraschung! Hallo, Herr Erster Hauptkommissar Mohr, Sie auch hier?«
»Moin moin, Hauke, was macht ihr denn hier so früh am Morgen und bei diesem Schietwetter?« Nili schüttelt ihrem ehemaligen Kollegen Kriminaloberkommissar Hauke Steffens von der Polizeidienststelle in Oldenmoor, der wegen der Strukturreform zur Kripo Itzehoe versetzt wurde, freudig die Hand.
In diesem Moment beginnt es heftig zu schneien. Starke Böen wirbeln die Schneeflocken wild durcheinander.
»Steigt rasch ein, Leute, es wird verdammt ungemütlich da draußen!«
Nili und Waldi lassen sich das kein zweites Mal sagen und sind froh, als sie die Wagentüren hinter sich schließen können.
»Mannomann«, Hauke Steffens schüttelt sich, »wahrlich das optimale Wetter für einen Einsatz! Darf ich vorstellen? Meine Kollegin Kriminaloberkommissarin Dörte Westermann, die erfahrene Frau am Steuer. Dörte, diese beiden sind Kollegen vom LKA in Kiel.«
Während Dörte anfährt und wieder aufs Gas drückt, bemerkt sie, ohne den Blick von der mit Schneeflocken bedeckten Frontscheibe abzuwenden: »Hallo, Sie sind also Nili und Waldi, die berühmten Kollegen, von denen mir Hauke schon so viel erzählt hat. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
»Auch wir freuen uns, Frau Kollegin. Wohin des Weges?«, möchte Nili wissen.
»Du kannst dich doch sicher an unseren Herrn Kriminaloberrat Heinrich Stöver erinnern, nicht wahr, Nili? Also, dieser ungnädige ›Hein Gröhl‹ rief uns einfach aus der heiligen Sonntagsruhe heraus und beorderte uns – wie immer in seiner betont freundlichen Tonart – zu diesem verwünschten Einsatz inmitten der Walachei. Es handelt sich um einen Leichenfund ausgerechnet in einer von zwei noch vor Frosteinbruch Ende des letzten Jahres ausgehobenen Fundamentgruben für den neuen Windpark.«
Nur Minuten später trifft der Wagen an der Fundstelle ein, nachdem KOK Westermann von der Hauptstraße auf einen spärlich befestigten Pfad abgebogen ist. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Pkw stehen bereits in der Nähe eines Baggers, mit dem offensichtlich die beiden Gruben ausgehoben wurden.
Mit Vergnügen erkennt Nili ihren zweiten ehemaligen Kollegen, den Polizeiobermeister Seifert, der gerade aus einem der Streifenwagen aussteigt und freudestrahlend auf sie zueilt. Der Schneefall hört abrupt auf, der Himmel klart gerade ein wenig auf. »Hallo, Willi! Schön, dich zu sehen!«
Die beiden begrüßen sich herzlich und POM Seifert macht, während sie alle in Richtung der Gruben gehen, sie und Waldi mit seinen beiden Kollegen der Polizeidienststelle Oldenmoor, Polizeimeister Dieter Klages und Polizeimeister-Anwärterin Helga Timm, bekannt.
Nachdem sich auch der Rest der Truppe gegenseitig begrüßt hat, fragt KOK Hauke Steffens: »Wer hat die Leiche überhaupt gefunden?«
»Diese Herren hier sind Wilfried Beuck und Sigfried Förster, Kranführer und Monteur der Windparkfirma«, stellt POM Seifert die beiden in Zivil gekleideten Männer vor. »Sie haben ausgesagt, ihr Vorarbeiter Alfred Klages hätte sie wegen der schlechten Wetterlage hergeschickt, um nach Bagger und Kran zu sehen. Als Förster dabei zufällig über den Grubenrand schaute, bemerkte er den länglichen Gegenstand in der dicken blauen Plane. Beuck startete den Bagger und ließ Förster mit der Schaufel herunter. Als dieser die Plane geringfügig aufwickelte, sei die Leiche zum Vorschein gekommen. Die beiden haben sofort bei der Polizeidienststelle in Oldenmoor angerufen. Weil ja Sonntag ist, werden Anrufe automatisch in die Wohnung des derzeit wegen hohen Fiebers bettlägerigen Dienststellenleiters geleitet. Hauptkommissar Boie Hansen hat daraufhin seine gesamte Crew herbeordert und danach gleich die Kripo in Itzehoe alarmiert.«
»Wisst ihr schon, um wen es sich handelt?«, fragt KOK Dörte Westermann.
»Ich habe mir den Toten nur oberflächlich ansehen können, da wir nichts berühren wollten, bevor die Spusi da ist. Eine mir unbekannte männliche Leiche, schätzungsweise um die dreißig. Sieht so aus, als ob sie schon länger da unten liegt.«
Waldi begleitet Hauke bis an den Rand des kreuzförmigen und ungleichmäßig tiefen, weil offensichtlich noch nicht vollständig ausgebaggerten Fundamentgrabens und schaut hinunter. Der Tote liegt in einem Bereich, der etwa zweieinhalb Meter tief ist. Mit versteinertem Blick betrachtet Waldi dessen Gesicht, macht abrupt kehrt und geht wieder zurück.
PM Dieter Klages schüttelt sich, offensichtlich ist ihm noch mulmig von seiner gruseligen Erkundungsfahrt in die Grube.
»Es ist Döspaddels2 erster Leichenfund«, raunt Kollege Willi Seifert Nili zu und grient.
Nili muss ebenfalls schmunzeln, erinnert sie sich doch an Willis damaligen Bericht, als er über Dieter Klages’ Versetzung von der geschlossenen Polizeistation Beidenfleth nach Oldenmoor berichtete und dabei dessen Spitznamen erwähnte.
In diesem Moment treffen zwei weitere Fahrzeuge ein. Die beiden Beamten der KTU, in weiße Schutzkleidung gehüllt, stellen sich vor. Anschließend gehen Chemotechnikerin Lilo Papst und Laborant Uwe Wildemann zur Leichenfundstelle und werden vom Baggerführer in die Grube hinabgelassen. Kurz darauf gesellt sich der Allgemeinmediziner Dr. Günther Vollmert zu ihnen, um die Leichenschau durchzuführen. Nach Ankunft einer lang gezogenen schwarzen Begräbnislimousine steigen zwei dunkel gekleidete Männer aus und tragen einen Metallsarg bis an den Rand der Grube. Als erneut starke Windböen aufkommen und abermals heftiger Schneefall einsetzt, sucht die gesamte Mannschaft eiligst Schutz in ihren Autos.
»Hat wohl keinen Sinn mehr, Dörte, was meinst du?«, bedauert Hauke Steffens.
KOK Westermann schüttelt den Kopf. »Ich glaube, bei diesem Wetter sind sowieso keine brauchbaren Spuren zu finden, aber wir sollten wenigstens abwarten, ob der Arzt uns etwas Brauchbares berichten kann. Oder was meinen die Kollegen vom LKA?«
Waldi sieht Nili an und sie nickt. »In der Tat, jetzt dürfte hier nicht viel zu holen sein. Wenn wir noch länger warten, ist die Grube sowieso halb zugeschneit. Ich glaube, es wäre das Beste, die Leiche herauszuheben und sie eiligst zur Obduktion in die Pathologie zu überführen, richtig, Waldi?«
Dieser stimmt ihr zu und meint: »Seht mal dort, Doktor Vollmert wurde gerade vom Bagger wieder hochgeholt. Er geht jetzt zu seinem Wagen. Wollen wir ihn nicht gleich befragen?«
Hauke, der am Steuer des Streifenwagens sitzt, lässt den Motor an, wendet und fährt in die unmittelbare Nähe von Dr. Vollmerts Pkw. Dieser steigt zu ihnen ins Auto. »Das war für mich wahrlich eine Premiere: So eine Leichenschau wie diese habe ich in der Tat vorher noch nie erlebt. Das ist aber auch ein Schietwetter!«
»Zugegeben, sehr geehrter Herr Doktor, aber was sollen wir denn tun? Können Sie uns vielleicht schon etwas vorweg sagen?« Hauke zückt Block und Kugelschreiber. »Also gut: Wie es aussieht, liegt der Tote schätzungsweise seit ein bis zwei Wochen in der Grube, Genaueres kann ich natürlich unter diesen Umständen nicht sagen. Er ist etwa ein Meter achtundsiebzig groß, sein Lebendgewicht dürfte bei fünfundsiebzig bis achtzig Kilogramm gelegen haben. Blonde Haare, blaue Augen, Alter so um die Mitte zwanzig. Sehr viel konnte ich da unten bei diesem Wetter nicht feststellen, aber er scheint einen harten Schlag mit einem dumpfen Gegenstand auf dem Hinterkopf abbekommen zu haben und muss dann wegen der Wucht des Schlages ziemlich heftig frontal gegen eine Wand geprallt sein – darauf deutet zumindest ein Hämatom an der Stirn. Ich vermute, es handelt sich um eine unnatürliche Todesursache durch Genickbruch, verursacht entweder durch den Schlag oder den Aufprall. Gemäß Aussage Ihrer KTU-Kollegen hatte der Tote weder Papiere noch Kreditkarten bei sich, die seine Identität preisgegeben hätten, auch kein Handy. In seinem Portemonnaie sollen sich fünfundsiebzig Euro befunden haben. Weitere Erkenntnisse kann nur eine ordentlich durchgeführte Obduktion an den Tag bringen, tut mir leid!«
»Herzlichen Dank, Herr Doktor, das war doch schon ’ne ganze Menge!« KOK Steffens drückt dem Mediziner die Hand, dieser winkt den anderen zu und steigt zugleich mit ihm aus.
Hauke geht auf die anderen Polizeifahrzeuge zu und ordnet den Abbruch an. Die Leiche soll sofort geborgen und in die Pathologie im Klinikum Itzehoe überführt werden. Dann kehrt er zu seinem Fahrzeug zurück, schüttelt sich die Schneeflocken von der Kleidung und steigt ein. »Das war’s wohl für heute. Dann fahr man los, Dörte.« Er wendet sich an Nili und Waldi. »Wo sollen wir euch absetzen?«
Während Nili sich anschnallt, antwortet sie. »Erinnerst du dich noch an den Holstenhof? Wie an jedem Sonntag trifft sich dort auch heute unsere gesamte Familie zum Brunch oder besser gesagt zum ›Frühmittag‹, wie es meinem Onkel Oliver beliebt, weil er diese modischen Amerikanismen nicht mag.«
Ein wenig unsicher meldet sich KOK Dörte Westermann zu Wort: »Tut mir leid, Frau Kriminalhauptkommissarin, aber ich weiß nicht, wo das ist!«
»Macht nichts!« Nili winkt ab. »Und bitte lasst uns doch bei ›Dörte‹, ›Waldi‹ und ›Nili‹ bleiben, okay?« Ohne eine Reaktion abzuwarten, spricht sie weiter: »Also, ich sag dir, wo’s langgeht! Fahr erst einmal zurück auf die Bundesstraße.«
Unterwegs kommentieren sie angeregt den Befund der Leichenschau, bis Nili eine Idee hat und zu Hauke gewandt sagt: »Ich biete euch einen kostenlosen Brunch gegen eine Kopie deines Berichts!« Als dieser grinsend nickt, greift sie zu ihrem Handy. »Moin, Onkel Oliver, ich bin’s, Nili. Sagst du bitte Tante Madde Bescheid, dass außer Waldi und mir noch zwei weitere hungrige Mäuler auf dem Weg zu euch sind! Also dann bis gleich, Tschüss!«
»Das geht doch nicht, Hauke!«, protestiert Dörte halbherzig. »Wir müssen sofort zurück ins Präsidium!«
»Ach was!«, kontert Nili. »Schließlich ist gleich Mittagszeit, zudem ist auch noch Heiliger Sonntag. Und nach dieser Strapaze haben wir uns wohl alle ein kleines Labsal ehrlich verdient. Euer geschätzter Vorgesetzter ›Hein Gröhl‹ kann sich gern einmal gedulden!« Sie grinst und tippt Dörte auf die Schulter. »Noch etwa einen Kilometer, dann von der Hauptstraße links auf die Hofauffahrt einbiegen!«
2. »Heiliger Sonntag«
»Herzlich willkommen auf unserem Holstenhof!« Nilis Vetter Hans-Peter öffnet den Gästen die Haustür. Er geht auf Nili zu und umarmt sie, dann schüttelt er Waldi die Hand. Schließlich sagt er: »Hallo, Hauke, lange nicht gesehen!«
»Und doch wiedererkannt!«, erwidert dieser. »Entschuldigt unseren Überfall, aber Nili hat uns hierzu verdonnert. Ich darf dir meine Kollegin KOK Dörte Westermann vorstellen!«
»Zieht euch doch eure nassen Sachen aus, ihr müsst halb erfroren sein!«, bemerkt Hans-Peter, während er und Dörte sich die Hand geben.
Sie legen ihre durchnässten Jacken ab und hängen diese an die große Wandgarderobe.
»Und zieht bitte auch eure Schuhe aus!«, fügt Nili an. »Dort hinter der Garderobentür findet ihr genügend Puschen zur Auswahl!«
Hans-Peter führt die Gäste in die warme und gemütliche Wohnküche, in der Platz für alle ist. Die gesamte Truppe wird von den Familienmitgliedern mit großem Hallo empfangen. Hausherr Oliver umarmt zunächst seine Nichte Nili, dann verkündet er unwillkürlich auf Spanisch: »Bienvenidos en ésta su casa!«
»Aber Onkel Oliver, meine Freunde verstehen doch kein Spanisch!« Nili lacht und wendet sich Hauke und Dörte zu. »Was er euch sagen wollte, ist: ›Willkommen in diesem, eurem Hause!‹ Es handelt sich um eine im spanischen Sprachbereich weitverbreitete Begrüßung. Meine Großeltern haben zusammen mit ihren Kindern, also mit Oma Clarissa, Onkel Oliver und meiner Ima Lissy, die Nazizeit im bolivianischen Exil verbracht und kommunizieren auch heute noch in dieser Sprache. Für mich ein großes Plus, denn schon aus dem Grund bin auch ich mit dieser Sprache aufgewachsen.«
Nachdem sich die beiden Gäste des Hauses mit der Familie bekannt gemacht haben, lässt Hauke es sich nicht nehmen, Nilis inzwischen sechsundneunzig Jahre alte Großmutter ganz besonders herzlich zu begrüßen. »Ich freue mich, sehr geehrte Frau Keller, Sie nach so langer Zeit mal wieder zu treffen. Ich muss Ihnen ein Kompliment aussprechen, gnädige Frau: Sie sehen immer noch fantastisch aus, alle Achtung!« Ehrerbietig verbeugt er sich vor der alten Dame und deutet galant einen Handkuss an.
Oma Clarissa, der die Sache zunächst ein wenig unangenehm zu sein scheint, greift nach Haukes Hand und fragt mit einem Augenzwinkern: »Sag mal, Nili, war dein Kollege immer so ein Charmeur?« Dann, an diesen gerichtet: »Danke, lieber Hauke, das war sehr lieb von dir! Aber woher hast du diese vornehme Art? Jedenfalls tut es einer alten Frau wie mir gut, ab und zu einmal so richtig hofiert zu werden!«
Ihren Worten folgt allgemeines, sehr vergnügtes Gelächter.
Nili ist von Haukes Auftritt sehr berührt, geht auf ihn zu und umarmt ihn. »Genug geklönt, Leute! Greift zu, die Spiegeleier und die Würstchen werden nicht heißer!« Onkel Oliver geht mit gutem Beispiel voran und bedient sich. »Wo hast du denn deine beiden Kollegen getroffen?«, erkundigt sich Lissy.
»Waldi und ich waren auf unserer üblichen Joggingstrecke, als Hauke und Dörte zufällig vorbeifuhren. Da es gerade heftig zu schneien begann, haben sie uns einfach in ihrem Wagen mitgenommen!«
Hauke nickt: »Wir fuhren zu einem Einsatz – macht doch nichts, Dörte, sie erfahren es sowieso morgen aus der Presse und im Radio – in dem neuen Windpark am Nordrand von Oldenmoor. Man hat dort eine unbekannte Leiche gefunden, und da hilft weder Zähnefletschen noch Müdesein, auch nicht an diesem Sonntag, wo so ein hundsmiserables Wetter ist. Also mussten wir wohl oder übel dorthin.«
Dörte, die kurz davor gewesen war, Hauke zu unterbrechen, nahm schweigend etwas von dem Rührei, das Oliver ihr reichte.
»Wisst ihr schon, wer der Tote ist?«, fragt Oskar, der jüngste von Nilis Cousins.
»Nein, leider nicht. Bei dem Wetter konnte weder die Polizei noch der Kriminaltechnische Dienst groß etwas an der Fundstelle ausrichten. Wir mussten deshalb kurzerhand den Einsatz abbrechen.«
Ein wenig verwundert sieht Nili ihren Waldi an, der mit seiner Erklärung offenbar versuchen wollte, von dem leidigen Thema abzulenken. Dann eilt sie ihm zu Hilfe: »Hast recht, Waldi, lasst uns lieber von etwas Angenehmerem reden!«
Als Dörte und Hauke sich etwas später verabschieden, hat es zwar aufgehört zu schneien, doch die gesamte Landschaft ist nun von einer dicken weißen Schneeschicht bedeckt, die von starken östlichen Windböen verweht wird und sich an manchen Stellen bereits meterhoch auftürmt.
Waldi und Nili begleiten die beiden hinaus: »Fahrt vorsichtig, Freunde! Wenn Petrus so weitermacht, geht hier bald auf den Straßen nichts mehr«, orakelt Nili.
Bevor Hauke in den Wagen steigt, fragt er: »Sagt mal, liebe Kollegen, würdet ihr uns bei diesem Fall eine Hand reichen? Mir schwant, dass wir allein nicht weiterkommen werden. Es hat wegen der Windräder in letzter Zeit einen ziemlichen Aufruhr in der Bevölkerung gegeben. Wenn dieser Fall irgendwie damit zu tun haben sollte, na denn Mahlzeit!«
»Im Prinzip sehr gerne, nicht wahr, Waldi?«, sagt Nili. »Aber ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass euer Boss, der ehrenwürdige Herr Kriminaloberrat Stöver, so etwas zulassen würde. ›Hein Gröhl‹ ist doch berühmtberüchtigt wegen seiner Abneigung gegen jede ›Einmischung‹ von außen, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern!«
»Versucht doch erst einmal die Leiche zu identifizieren«, beschwichtigt Waldi. »Wenn ihr wisst, um wen es sich handelt, und dann tatsächlich Hilfe benötigt, gebt uns Bescheid! Dann ergibt sich vielleicht eine passende Gelegenheit. Und nun ab mit euch, bevor es wieder schneit. ’ne gute Fahrt und tschüss!«
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Kranführer Wilfried Beuck parkt sein Audi Q5 vor dem Eingangstor des Barghus. »Komm schon, Sigfried, wir müssen dem Chef Bericht erstatten.«
Monteur Förster steigt ebenfalls aus. Beide betreten die geräumige Diele des ehemaligen Bauernhauses, in dem der Sitzungssaal der Genossenschaft eingerichtet wurde. Sie gehen weiter bis zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Technischer Leiter« und dem Namen des Diplomingenieurs – Wolfgang Schneider – angebracht ist.
»Herein!«, ertönt es von innen, nachdem Beuck angeklopft hat. Schneider begrüßt die beiden, überrascht über ihr unerwartetes Erscheinen.
Der Kranführer berichtet kurz von der Anordnung des Montageleiters Klages, die sie zur Inspektion der Gerätschaften an die Baustelle geführt hatte, und von dem dabei erfolgten grausamen Fund.
»Oh weh, das ist ja fürchterlich! So etwas hat uns gerade noch gefehlt! Verdammt noch mal, womit haben wir nur dieses Schlamassel verdient? Wer uns das wohl eingebrockt hat!« Schneider lässt die beiden ausführlich berichten. »Habt ihr sonst irgendjemandem von dem Leichenfund erzählt?« Als Wilfried Beuck und Sigfried Förster verneinend die Köpfe schütteln, greift Wolfgang Schneider zum Telefon. »Dann macht jetzt mal Feierabend, Jungs. Ich kümmere mich darum. Seid so nett und haltet die Schnauze über diesen Vorfall. Wir müssen ja nicht unbedingt alle Hunde wecken. Das werden mit Sicherheit andere zur Genüge tun, vor allem die feindseligen Medien!«
Die Angesprochenen murmeln nur noch ihr »Auf Wiedersehen, Chef!« und verschwinden lautlos durch die Tür.
»Hier ein aufgebrachter Alfred Rademacher am Hörer! Wer wagt es, meine heilige Sonntagsruhe derart zu stören?« Der Geschäftsführer der Genossenschaft ist offensichtlich über den Anruf wenig erfreut.
»Tut mir leid, Herr Rademacher, dass ich Ihre Siesta unterbreche, aber ich muss Ihnen ein sehr bedauerliches Ereignis melden, das zudem keinen Aufschub erlaubt!« Schneider erzählt seinem Vorgesetzten von dem Vorfall, so wie dieser ihm soeben gemeldet worden war.
Nachdem Alfred Rademacher seinem ersten Entsetzen lauthals Luft gemacht hat, beruhigt er sich und senkt seine Stimme. »Mensch, Schneider, das kommt ja wohl wirklich zum allerunglücklichsten Zeitpunkt. Keine Ahnung, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte? Ich meine, hat er irgendetwas mit unserem Unternehmen, mit unseren Gegnern oder etwa mit unserem Projekt zu tun?«
»Soweit unsere Mitarbeiter mir soeben berichteten, ist die Antwort eindeutig nein! Es scheint sich um eine uns völlig unbekannte Person zu handeln, jedenfalls hat keiner der dort ermittelnden Beamten irgendwie erkennen lassen, dass die Identität des Toten bekannt sei. Mir scheint, der Täter hat einfach nur nach einem günstigen, weil weitab gelegenen und kaum frequentierten Ort gesucht.«
»Ihr Wort in Gottes Ohren, mein lieber Schneider! Fällt Ihnen irgendetwas ein, was wir eventuell tun sollten?«
»Ich denke, zunächst am besten die Ruhe bewahren, sehr geehrter Herr Rademacher. Informieren Sie doch erst einmal die anderen Vorstandsmitglieder. Meiner Meinung nach sollten wir ›abwarten und Tee trinken‹, wie der alte, weise Friese sagt. In der augenblicklichen Situation können wir sowieso nichts anderes tun. Vielleicht lässt sich unsere PR-Dame vorsorglich einen passenden Text für die Verlautbarung an die Medien einfallen. Das könnte sich durchaus positiv für uns auswirken, sobald der Vorfall publik wird.«





