Raue Februarwinde über den Elbmarschen

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»Hast du nun endlich deine Entscheidung getroffen, Schwiegervater? Die Bedenkzeit, die Regine und ich dir vor zwei Wochen gegeben haben, ist um. Wir müssen nun endlich erfahren, woran wir sind.«
Norbert Bahlke fängt sich einen scheelen Blick des Altbauern Theo Thode ein. »Ick hef yum segt, ick lass mi nie nich de Pistol op de Bost setten!«, antwortet er stur.
»Dann dait uns dat mannig leid, Vadder, dann schalt wi nun uttrecken!«, verkündet seine Tochter Regine mit von Tränen erstickter Stimme.
Der Altbauer springt von seinem Stuhl auf, hinkt hinüber zu seiner Tochter und umarmt sie. »Woll du worhaftig dien ol’n Vadder leddig loten, mien Deern?«
»Kannst du uns nicht wenigstens etwas entgegenkommen?«, fragt Norbert Bahlke. »Natürlich möchten Regine, die Kinder und auch ich keineswegs von hier weg. Du musst aber verstehen, dass es so, wie es bisher war, nicht weitergehen kann. Wir haben kein Geld mehr in der Kasse, sind praktisch pleite und müssen jede Woche zwei Milchkühe dem Schlachter überlassen. Sieh doch der Realität ins Gesicht! Diese Art Landwirtschaft wirft in der heutigen Zeit keinen Gewinn mehr ab, von dem wir alle einigermaßen anständig leben könnten. Und ich muss an unsere Zukunft und an die unserer Kinder denken. Die sollen doch was Ordentliches lernen! Leider haben sie hier auf dem Hof kaum noch eine Zukunft, und ohne Bildung bekommen sie keinerlei Chance für ihr Leben. Die Windräder wären unsere Rettung. Glaube mir, wir meinen es nicht böse mit dir, aber ich kann doch nicht weiter mit ansehen, wie meine ganze Familie darbt, nur weil du uns diese uns einzig verbliebene Möglichkeit vereitelst.«
Regine sieht ihren Vater flehend an. »Vadder, denk doch an unsere liebe verstorbene Modder, dien Siglinde, die hätte uns ganz bestimmt recht gegeben!«
Altbauer Theo Thode wendet sich von seiner Tochter ab und dreht sich zu seinem Schwiegersohn um. Dieser bemerkt verwundert, dass zwei dicke Tränen über die wettergegerbten, runzligen Wangen des Alten kullern. Mit heiserer Stimme gibt sich Theo Thode geschlagen. »Dann mokt man in Gottes Nomen, wat ihr wullt!« Schwer hinkend verlässt er die Wohnküche.
Erleichtert fallen sich Norbert und Regine in die Arme.
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»Ruf bitte all die Freunde zusammen, Elisabeth! Es gibt brisante Neuigkeiten!«
»Was ist denn los, Martha, weshalb die Aufregung?«, flötet Elisabeth Beckstein, die Erste Vorsitzende des BÜGEWIR – Bürger gegen Windräder e. V. – mit Sitz in Neufeld am Dithmarscher Nordseeufer, verwundert ins Telefon.
Die Aktivistin Martha Waldberg antwortet: »Jonas hat mich gerade angerufen. Er sagt, dass in einer Fundamentgrube am neuen Windpark bei Oldenmoor eine Leiche gefunden wurde. Ob das einer von unseren Leuten ist?«
»Mensch, Martha, denk doch mal nach! Glaubst du wahrhaftig, dass bei diesem miserablen Wetter auch nur einer von denen hier eintrifft? Auf der B 5 und auf der Zufahrtsstraße nach Neufeld türmen sich meterhohe Schneewehen. Unter diesen Umständen glaube ich kaum, dass wir die Freunde überhaupt zusammenkriegen! Weiß man denn nicht, wer der Tote ist?«
»Soweit ich erfahren konnte, ist nichts darüber bekannt. Aber allein die Tatsache des makabren Fundes ausgerechnet an diesem neuralgischen Ort lässt doch die Vermutung zu, dass es einer von uns ist. Rein psychologisch würde das zudem bestens in unsere Liste der Argumente gegen diesen verfluchten Windpark passen. Doch wahrscheinlich hast du recht. Bei diesem Wetter traut sich wohl kaum jemand vor die Tür, geschweige denn in sein Auto, um zu dir hinauszufahren. Aber bitte ruf doch alle unsere Freunde an und informiere sie. Sie sollen ihre Lauscher offen halten und alles zusammentragen, was sie in Erfahrung bringen können. Wir treffen uns dann, sobald wir mehr wissen und sich die Wetterlage beruhigt hat.« Martha hält einen Moment inne und fährt dann fort. »Sag mal, da fällt mir noch etwas ein: Weißt du, wo unser Lübecker Mitstreiter abgeblieben ist? Ich habe schon seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört. Auch auf meine Mails hat er nicht geantwortet.«
Als Elisabeth Beckstein sich dazu äußern will, wird sie von Martha unterbrochen. »Du auch nicht? Komisch! Na, dann man tschüss, liebe Elisabeth, hol di und erfriere ja nicht an deinem Deich!« Sie legt auf und überlegt. Vielleicht hat ihre ein wenig überkandidelte Aktivistin Martha gar nicht so unrecht mit dem Gedanken, dem verhassten Windkraftprojekt ein wenig ans Bein – oder eher zutreffend an den Mast – zu pinkeln. Sie ruft bei ihrem Vize, dem Gymnasiallehrer Menno Brauer, an und hat dessen Ehefrau Julia am Apparat. Ihr Mann sowie ihr Sohn Jonas seien unterwegs, erklärt Julia Brauer und versichert ihr, den beiden Bescheid zu geben, sobald diese wieder zu Hause eintreffen. Schließlich informiert Elisabeth Beckstein die medizinische Beraterin des Vereins, Frau Dr. Grete Voss. Diese verspricht, mit ihrem Kollegen, Herrn Dr. Vollmert, Kontakt aufzunehmen, von dessen Frau sie beiläufig beim heutigen Sonntagsgottesdienst erfahren habe, dass dieser zu einer Leichenschau gerufen worden sei.
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Nili und Waldi winken ihren Kollegen hinterher, bis der Streifenwagen von der Hofauffahrt auf die Hauptstraße abgebogen ist. Während sie wieder in das Haus gehen und Waldi die Tür schließt, sagt er leise: »Sag mal, meine Schnuggelfrau, wo können wir uns hier ungestört ein wenig unterhalten? Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen.«
Nili schaut ihn zunächst verwundert an. »Ich habe wohl bemerkt, dass Ihnen etwas über die Leber gelaufen sein muss, mein geliebter Herr EKHK Mohr!«, bemerkt sie, nun lächelnd. »Bitte folgen Sie mir unauffällig!« Sie geht voran und öffnet die Tür zu Onkel Olivers Büro. »Hier dürfte uns heute wohl kaum jemand stören. Also, Liebster, was beschwert dein Gemüt?« Nili setzt sich in den Bürosessel am Schreibtisch.
Nachdem Waldi ihr gegenüber auf dem Lehnstuhl Platz genommen hat, räuspert er sich und schaut auf den Boden. »Ich weiß nicht genau, wie und wo ich beginnen soll.« Er versucht erst einmal seine Gedanken zu ordnen. Nach kurzer Pause setzt er fort: »Also, ich muss da etwas weiter ausholen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass zurzeit – und besonders hier im nördlichen Schleswig-Holstein – eine bittere Fehde zwischen Befürwortern und Gegnern von Windkraftanlagen ausgebrochen ist. Sicher, seit der Energiewende ist es nötig geworden, die nach und nach stillgelegten Kernkraftwerke durch Erzeugung alternativer Energien zu ersetzen. Dabei ist allerdings der Zuwachs an Windrädern in dieser Region um einiges zu hastig erfolgt. Dies geschah auch – und das muss ich leider betonen –, ohne die direkt davon Betroffenen vorab zu informieren und zu beraten, ihnen zuzuhören und vor allem ihre Zustimmung einzuholen. Den Bauern hier geht es bekanntlich nicht gut und sie waren wohl zum Teil sehr darauf erpicht, ihr schmächtiges Einkommen mit der Verpachtung von Landflächen zur Aufstellung der Windräder wesentlich aufzubessern. So weit, so gut. Doch besonders in den letzten drei Monaten haben wir eine rasante Zunahme der militanten Gegnerschaft bemerkt, die mit zahlreichen und teilweise berechtigten, aber auch ebenso an den Haaren herbeigezogenen Scheinargumenten ein regelrechtes Kesseltreiben gegen die Erbauer der Windkraftanlagen und deren Befürworter veranstalten. Was ich dir jetzt sage, Nili, ist selbstverständlich vertraulich. In unserem LKA-Dezernat 21 haben wir versucht, die Sachlage zu analysieren, sind aber immer wieder an Grenzen gestoßen, weil unsere Informanten – je nach ihrer persönlichen Einstellung – weitestgehend subjektive und besser gesagt weniger objektive Berichte abgeliefert haben.«
»Ist die Sachlage tatsächlich derart drastisch, dass sich sogar das LKA dafür interessiert?«, wirft Nili ein wenig verwundert ein.
»Nun ja, unsere beiden obersten Bosse, die Kriminaldirektoren Timo Freiberg und Rüdiger Voss, sowie mein Chef, Kriminaloberrat Andreas Heidenreich, sind offenbar dieser Meinung und befürchteten eine Eskalation. Um dieser Eventualität vorzubeugen, haben sie vor einiger Zeit beschlossen, einen verdeckten Ermittler in die Reihen der Windkraftgegner einzuschleusen, damit wir uns ein umfassendes Bild von den tatsächlichen Strömungen und Aktivitäten für und gegen Windkraft machen können.«
»Euch erscheint also diese Angelegenheit wirklich derart akut?« Nili hat ein ungutes Gefühl.
»Nun, um dir die Wahrheit zu sagen, habe ich bis heute auch nicht unbedingt daran geglaubt. Und nun hat sich auf einmal die Lage verändert.«
»Was veranlasst dich zu dieser Aussage, Waldi? Du meinst doch damit nicht die aufgefundene Leiche, oder? Die kann jeder beliebige Täter ganz einfach dort deponiert haben, ohne dass dieses Verbrechen in irgendeinen direkten Zusammenhang mit ›pro‹ oder ›contra Windkraftanlagen‹ gebracht werden kann.«
»Da muss ich dir leider widersprechen, meine geliebte Nili. Ich habe nämlich das Gesicht des Toten gesehen und ihn erkannt: Es ist unser LKA-Kollege Kriminalkommissar Werner Köppen!«
Nili ist sprachlos. »Oh mein Gott, der Arme! Das trifft einen hart und tut wirklich weh! Warum hast du denn den hiesigen Kollegen nicht gleich gesagt, dass du den Toten erkannt hast?«
»Aber Nili, denkt doch mal nach! Was meinst du, welch ein Tumult losbricht, wenn die Leute erfahren, dass hier ein verdeckter Ermittler des LKA eingeschleust und vermutlich deswegen sogar ermordet wurde? Es ist viel besser, wenn man in dieser Sache zunächst ein wenig im Dunkeln tappt, bevor die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Auf jeden Fall muss ich schleunigst zurück nach Kiel, um persönlich Meldung zu erstatten. Sollen sich doch die verantwortlichen Herren Gedanken machen, wie sie aus dieser Nummer wieder herauskommen!«
»Natürlich hast du recht, Waldi! War dumm von mir!«
Dieser will protestieren, doch Nili erhebt sich und geht mit einem vielversprechenden Gesichtsausdruck auf ihren Geliebten zu. Waldi steht auf, sie umarmen sich und geben sich einen sehr, sehr langen Kuss. Der enge körperliche Kontakt ihrer Leiber bleibt nicht ohne deren natürliche Folgen. Langsam zieht Waldi Nilis Jogginghose über ihre Hüften, dann tut Nili dasselbe bei ihm. Wenig später sitzen beide fast vollständig nackt in Onkel Olivers Bürosessel. Während sie sich abermals eng umarmen und liebkosen, dringt Waldi behutsam in sie ein, und bald schweben sie in den Wolken eines himmlischen Orgasmus.
Rasch ziehen sie ihre Kleidung wieder an, wurde doch soeben mehrfach nach ihnen gerufen. Gerade haben sie sich zurechtgemacht und wieder hingesetzt, öffnet Tante Madde die Bürotür. »Ach, hier seid ihr!«
»Ja, Tante Madde, Waldi und ich hatten etwas Berufliches zu besprechen.«
»Weiß jemand, wann der nächste Zug nach Kiel geht?«, versucht Waldi abzulenken. »Ich muss mich dann wohl mal auf die Socken machen, ich will nämlich morgen früh unbedingt pünktlich in meinem Büro sein!«
Nili schüttelt den Kopf. »Ich weiß leider nicht, wann von Oldenmoor aus die Züge gehen. Wahrscheinlich ist es besser, ich bringe dich nach Wrist. Von dort aus hast du, soweit ich weiß, stündlich eine direkte Regio-Verbindung. Ich hole mir nur schnell Imas Autoschlüssel, dann fahre ich dich erst einmal zu unserem Onkel Suhls Haus, damit du deine Sachen holen kannst.«
Während sie eine Stunde später in Ima Lissys VW Taro nur mühsam auf der verschneiten Landstraße vorankommen und hier und dort die vom Wind zusammengefegten Schneewehen überwinden müssen, unterhalten sie sich weiter über den grausamen Tod des Kollegen.
»Vielleicht ist es ein günstiger Wink des Zufalls, dass du die nächsten Tage hier verbringen kannst, Nili. Es wäre sicherlich nützlich, wenn du – natürlich möglichst unauffällig – ein wenig auf die Pirsch gehst. Vielleicht erfährst du dabei ja etwas Nützliches.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Ist doch nur natürlich, wenn ich meinen früheren Arbeitskollegen ein wenig unter die Arme greife, oder? Ich ahne sowieso, dass es nicht lange dauern wird, bis man mich um Unterstützung bittet. Brauchst keine Angst zu haben, selbstverständlich weiß ich überhaupt nichts davon, dass der arme Tote unser KK Werner Köppen ist, das müssen die hiesigen Kollegen schon selbst herausfinden, wenn sie es überhaupt ohne die Unterstützung durch das LKA schaffen. Am besten wäre es, wenn es dem LKA irgendwie gelingen sollte, die Leiche in die Rechtsmedizin der Uni in Kiel zur Obduktion überführen zu lassen. Lasst euch doch dazu etwas Passendes einfallen!«
3. Verschollen
»Und mehr habt ihr mir nicht zu berichten?«, keift Kriminaloberrat Heinrich Stöver in seiner üblichen missmutig tadelnden und lauten Art seine beiden Kriminaloberkommissare sowie die KTU-Mitarbeiter des gestrigen Einsatzes an. Nicht umsonst wird er von seinen Untergebenen hinter vorgehaltener Hand »Hein Gröhl« genannt. Fahrig schiebt der dickliche, unsympathisch wirkende Choleriker die auf dem Tisch liegenden Aufnahmen vom Tatort hin und her.
»Mäßigen Sie doch bitte Ihren Ton, sehr geehrter Herr Kriminaloberrat! Ich bin es weder gewohnt noch bin ich gewillt, hier eine derartig unproduktive Arbeitsatmosphäre zuzulassen.« Staatsanwältin Dr. Cornelia Bach, eine aparte schwarzhaarige Erscheinung mit leicht milchkaffeebraunem Teint und in ein gut sitzendes Kostüm gekleidet, hat dieses ewige Genörgel satt. »Unter den gestrigen äußerst widrigen Wetterbedingungen war der Einsatz in der Tat eine extrem ungünstige Situation für alle Beteiligten. Dies sollten Sie entsprechend zu würdigen wissen, auch und nicht zuletzt deshalb, weil Sie nicht persönlich daran beteiligt waren!« Mit einem deutlichen Tadel in der Stimme betrachtet sie den mit einem feuerroten Kopf dasitzenden und vor Wut kochenden Leiter der Bezirkskriminalinspektion Große Paaschburg in Itzehoe.
Alle seine Mitarbeiter tauschen heimlich schadenfrohe Blicke aus. Endlich hat jemand dem Griesgram Paroli geboten und ihm ordentlich die Meinung gegeigt!
»Also, meine Damen und Herren«, Staatsanwältin Dr. Cornelia Bach lässt ihren Blick durch die Runde schweifen, »lassen Sie uns jetzt bitte zu unserem Fall zurückkehren. KOK Steffens, was haben wir?«
»Na ja, ein wenig muss ich doch unserem Chef recht geben, Frau Staatsanwältin. In der Tat haben wir nicht viel vorzuweisen. Zwei Mitarbeiter der Windkraftfirma sollten den Zustand ihrer Maschinen am Windpark inspizieren und fanden die Leiche in einer bereits im letzten Jahr ausgebaggerten und nur zum Teil fertigen Fundamentgrube. Ein in einer wohl ausrangierten Lkw-Plane eingehüllter und bisher nicht identifizierter toter Mann, blondes Haar, blaue Augen, schätzungsweise dreißig Jahre alt. Wahrscheinlich wurde das Opfer an einem anderen Ort getötet und dann vor ein bis zwei Wochen in der Baugrube abgelegt. Wegen des starken Schneefalls konnte die Spusi vor Ort keine verwertbaren Spuren entdecken. Einziger Fund war sein Portemonnaie mit etwas Geld darin, ansonsten keine Papiere. Der Leichenbeschauer, ein Herr Doktor Günther Vollmert aus Sankt Margarethen, hat den Totenschein ausgestellt, auf dem er die Rubrik ›unnatürlicher Tod‹ angekreuzt hat, zumal er als Todesursache einen Genickbruch annimmt. Außer den beiden am Kopf des Opfers vorgefundenen konnte er keine weiteren äußerlichen Verletzungen feststellen. Die Bergung des Leichnams aus der Baugrube gestaltete sich ziemlich kompliziert, sie musste mit Hilfe des Baggers gehoben werden und wurde dann in die Pathologie des hiesigen Klinikums zur Obduktion überführt.«
»Vielleicht sollten wir der Vollständigkeit halber erwähnen«, bemerkt KOK Dörte Westermann mit leichter Unsicherheit in der Stimme, »dass wir auf dem Weg zum Einsatzort zufällig auf zwei Kollegen stießen. Das war zum einen Haukes frühere Kollegin KHK Nili Masal, die zusammen mit ihrem Gefährten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr vom LKA in Kiel, auf dem Radweg neben der Landesstraße joggte. Da es gerade in diesem Augenblick heftig zu schneien begann, baten wir sie zu ihrem Schutz in unseren Wagen – wir konnten sie doch nicht einfach mitten auf dem Land stehen lassen, oder? Und so ergab es sich, dass wir die beiden zum Tatort mitnahmen. Danach setzten wir sie bei Nilis Onkel am Holsternhof wieder ab.«
»Das ist ja die Höhe!« Kriminaloberrat Heinrich Stöver explodiert geradezu. »Das hat uns gerade noch gefehlt, dass das Landeskriminalamt die Nase in unseren Fall steckt!«, fügt er mit viel leiserer Stimme hinzu, als er den strafenden Wink der Staatsanwältin bemerkt.
»Wenn das so war, wie Sie berichten, Frau Westermann, dann haben Sie durchaus richtig gehandelt, denn man lässt ja nicht Kollegen im Regen – oder in diesem Fall im Schnee – stehen«, kommentiert der ebenfalls anwesende Dr. Paul Kramer, Assessor bei der Staatsanwaltschaft Itzehoe.
»Zwei zu null!«, murmelt mit offensichtlichem Vergnügen KTU-Leiterin Lilo Papst und erntet einen missbilligenden Blick ihres Kriminaloberrats. Dann ergreift die hübsche und jugendlich erfrischend wirkende Frau das Wort: »Wir haben bereits ein Foto des Toten an alle Polizeidienststellen und an das LKA in Kiel gesendet, aber noch keine Rückmeldung erhalten. Auch das Durchforsten unserer Kartei brachte bislang kein Ergebnis. Sobald wir hier fertig sind, machen wir uns an die Untersuchung der Lkw-Plane, in der der Leichnam eingehüllt war. Der Kollege Uwe Wildemann konnte einige wahrscheinlich fremde DNA-Abstriche von der Decke entnehmen, diese sind bereits in Bearbeitung. Zudem fanden wir an einem Saum der Plane einen Etikettenrest des Herstellerlogos, auf dem zu erkennen war, dass sie von der Firma Covertarp in Wilster hergestellt wurde. Also werden wir morgen dort nachfragen. Vielleicht können wir erfahren, für wen diese Lkw-Decke hergestellt wurde, und kommen auf diese Weise ein Stück voran. Außerdem planen wir, uns morgen Vormittag, falls dann der Schnee ganz verschwunden sein sollte, erneut an den Fundort zu begeben, um eventuell doch noch Spuren zu sichern. Der Leichenfundort wurde polizeilich abgesperrt. Sicherheitshalber wollten die Oldenmoorer Kollegen die Stelle entsprechend absichern und weiterhin bewachen.«
Die Staatsanwältin nickt zufrieden. »Sehr gut, weiter so! Ich schlage vor, wir beenden jetzt die Lagebesprechung und machen uns alle an die Arbeit. Sobald der Obduktionsbericht vorliegt oder andere wichtige Indizien auftauchen sollten, treffen wir uns wieder. Danke also für Ihre Berichte. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und noch einen schönen Tag!« Während sie den Teilnehmern der Besprechung auf ihrem Weg aus dem Raum hinterhersieht, bittet sie ihren Assessor, noch ein wenig zu bleiben.
»Was halten Sie von der Sache, Herr Doktor? Ich bin ja erst seit Kurzem hier an der Stelle des nach Kiel versetzten Herrn Uwe Pepperkorn. Sie hingegen haben längere Erfahrung vor Ort. Braust Kriminaloberrat Heinrich Stöver immer gleich so auf? Was ist das überhaupt für ein Mensch? Man hatte mir berichtet, er sei ein guter Polizist, aber so, wie er sich heute hier produziert hat, meine ich eher, dass er nicht gerade geeignet für die Rolle als Kripo-Führungsfigur sein dürfte.«
Dr. Paul Kramer, ein stets ernst dreinblickender, ziemlich hagerer Geselle mit fortgeschrittener Glatze, in einen dunklen Zweireiher, ein weißes Hemd und eine schmal gebundene schwarze Krawatte gekleidet, antwortet: »Da bin ich überfragt, sehr geehrte Frau Staatsanwältin. Sehen Sie, ich hatte bisher wenig oder besser gesagt keinen direkten Kontakt zu unserem Herrn Kriminaloberrat. Alles, was ich im Laufe der Zeit über ihn erfahren habe, ist Hörensagen. Aber das, was man so hört, hat sich heute in seinen hier gezeigten Umgangsformen, vor allem gegenüber seinen Untergebenen, voll bestätigt. Nach diesem Auftritt kann ich nur sagen, dass ich sehr froh bin, Sie als Vorgesetzte zu haben und nicht ihm zu unterstehen. Andererseits – die Bemerkung gestatte ich mir – ist mir die angeblich rein zufällige Anwesenheit der beiden Kieler LKA-Beamten auch nicht unbedingt recht. Dabei muss ich gestehen, dass ich von Kriminalhauptkommissarin Masals gutem Renommee als Ermittlerin gehört habe. Sie hat ihre Karriere an der Polizeidienststelle in Oldenmoor begonnen und ist im Zuge der Strukturreform zum LKA nach Kiel gekommen. So hat es mir zumindest unser Kriminaloberkommissar Steffens berichtet. Ich sage dies nur wegen der Sorge, dass die Kieler diesen Fall an sich heranziehen sollten.«
»Herr Doktor Kramer, was halten Sie davon, wenn Sie meinen Vorgänger in Kiel anrufen und vorsichtig sondieren, ob man dort diesen Fall bereits kennt, und gegebenenfalls, wie er ihn beurteilt.«
»Das tue ich sehr gern, Frau Doktor. Ich hatte mit Herrn Pepperkorn immer eine äußerst vertrauensvolle und angenehme Zusammenarbeit.«
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Hannelore Maas, die in einem Nebenjob das Amt der Pressereferentin der Wind-Powermasters Genossenschaft ausübt, legt tief betroffen den Hörer auf. Geschäftsführer Alfred Rademacher hat ihr soeben von dem Leichenfund auf dem Areal ihres Windparkprojekts berichtet und sie gebeten, sich vorsorglich einige Gedanken zwecks einer eventuell zu publizierenden Erklärung für die Medien zu machen. Die äußerst attraktive, langbeinige und wohlgeformte Fünfundzwanzigjährige erregt mit ihrer langen brünetten Haartracht und den strahlenden grünen Augen die besondere Aufmerksamkeit der Männerwelt, wo auch immer sie auftaucht. Bei besonderen Gelegenheiten wie dem Gildefest im Kolosseum oder dem Feuerwehrball in der Elbdeichhalle ist sie ein gern gesehener Gast und von zahlreichen Tanzfreaks ständig umschwärmt. Eines Tages befand sich unter diesen ein gestandenes Mannsbild namens Harald Maas, seines Zeichens Brandmeister bei der hiesigen Freiwilligen Feuerwehr. Als Lkw-Fahrer hatte er sich vor drei Jahren – vorerst mit nur einem, später noch mit einem zweiten Lastzug – selbstständig gemacht. Seitdem betreibt er eine kleine Speditionsfirma, die sich ausschließlich mit dem Transport von Gemüse aus den benachbarten Gebieten rund um Glückstadt beschäftigt. Hannelore fühlte sich, gleich nachdem sie einander zum ersten Mal begegnet waren, zu diesem besonders männlichen Typ stark hingezogen und wurde ihm bald willig. So kam es, dass sie schon nach kurzer Zeit ihrer Liaison schwanger wurde. Nach einigem Zögern wurde Harald schließlich seiner Verantwortung gerecht und machte ihr einen Heiratsantrag. Hannelores Eltern bewirtschaften in dritter Generation einen der vielen mittelgroßen Höfe am Elbdeich der Blomeschen Wildnis nahe Glückstadt, auf dessen nährstoffreichem Marschboden heimische Gemüsearten besonders ertragreich wachsen. Seitdem Hannelore den Einzelhandels-Kaufmannslehrgang an der Berufsschule in Itzehoe erfolgreich absolviert hat, betreibt sie auf dem Gelände einen kleinen Hofladen, in dem sie sowohl die saisonalen Erzeugnisse aus eigener Ernte, darüber hinaus ihren Kunden aber auch Freiland-Eier und Poularden von Lissy Masals Eulenhof anbietet. Zudem steht auf dem Hofladen eine »Tankstelle« für Frischmilch und es werden Sahne, Joghurt, Butter und diverse Käsesorten vom Holstenhof der Familie Keller angeboten. Johann und Bärbel Schwarz waren von Hannelores Männerwahl keineswegs begeistert, hätten sie doch einen in der Landwirtschaft gut bewanderten Schwiegersohn bevorzugt, damit dieser später ihren Hof übernahm. Zumindest war das Familienmitglied in spe durch den Transport ihrer Erzeugnisse aus dem Gemüseanbau sozusagen mit ihnen verschwägert, also gaben sie – insbesondere weil sich bereits Nachwuchs anmeldete – schlussendlich der Vermählung ihren Segen, dem eine Bürgschaft für den benötigten Bankkredit zwecks Anschaffung eines zweiten Lastzuges folgte. Als sich Hannelore bereits im siebten Schwangerschaftsmonat befand, erlitt sie bedauerlicherweise eine Fehlgeburt, an der sie, als Folge einer Notoperation, beinahe gestorben wäre. Das war für die Familie ein tiefer Schock, umso mehr, als sich herausstellte, dass Hannelore nie wieder Kinder bekommen würde. Ihr Mann veränderte sich seit dieser tristen Begebenheit und ihre Beziehung kühlte sich – vor allem in geschlechtlicher Hinsicht – merklich ab. Es gab zwar keine handfesten Auseinandersetzungen, jedoch war die Intensität ihrer vormaligen Zuneigung gedämpft. Harald konzentrierte sich zunehmend auf seine Arbeit und fuhr täglich kurz nach Mitternacht zum Großmarkt in Hamburg. Sein angestellter Fahrer, Herbert Pfannenschmidt, hingegen steuerte jeden Tag Kiel an. Und so ist es heute noch. Wenn die beiden nachmittags zurück sind, beschäftigen sie sich mit dem Abholen der Ware aus der benachbarten Umgebung. Beide – sowohl Harald Maas als auch Herbert Pfannenschmidt – kommen fast immer erst am späten Abend von der Tour zurück, parken ihre Kühl-Lastkraftwagen in einer eigens dafür gebauten Remise und verzehren schließlich gemeinsam ihr Abendbrot in der Wohnküche des Hofes. Zu so später Stunde hat sich der Rest der Familie bereits zur Ruhe begeben.





