Das Unsichtbare sichtbar machen

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Deswegen lernt Chris jetzt alles, was er als Typ-1-Diabetes-Neuling über seinen Körper wissen sollte: messen und spritzen, Kohlenhydrate berechnen, Faktoren anpassen – und entscheiden, wie viel er essen muss, wenn der Zucker zu tief, wie viel er spritzen muss, wenn der Zucker zu hoch ist. Nach ein paar Tagen im Krankenhaus wird seine Einstellung im Moment ambulant angepasst. „Ich habe einen genauen Plan: Abends um neun spritze ich mein Langzeitinsulin, morgens immer sechs Einheiten fürs Frühstück. Da versuche ich, immer das Gleiche zu essen. Mittags und abends esse ich, was ich will, berechne die Kohlenhydrate und spritze dann dafür. Im Moment soll ich eine Einheit für 10 g Kohlenhydrate spritzen. Wenn ich also eine Portion Nudeln mit 90 g Kohlenhydraten esse, brauche ich neun Einheiten. Manchmal esse ich nur eine Scheibe Brot, dann brauche ich nur zwei Einheiten.“ Bei der Berechnung hält er sich an seine Kohlenhydratliste aus dem Krankenhaus und eine App, in der er viele Lebensmittel findet. „Noch toller wäre, wenn ich einfach meinen Teller fotografieren könnte und die App mir dann sagt, wie viele Kohlenhydrate drauf sind“, meint Chris. „Aber das kommt bestimmt in der Zukunft irgendwann, hoffentlich bald.“
Regelmäßige Termine in der Ambulanz
Noch läuft natürlich nicht alles ganz rund und Chris geht alle zwei Wochen mit seinem Blutzuckertagebuch in die Ambulanz, um eine Therapieanpassung zu besprechen. „Gestern Abend zum Beispiel war ich drei Stunden nach dem Abendessen bei 70 mg/dl (3,9 mmol/l) und habe mich ein bisschen zittrig gefühlt. Also habe ich einen Schokoriegel gegessen und war dann später wieder auf 150 mg/dl (8,3 mmol/l). Ich glaube, da bräuchte ich eigentlich weniger Insulin.“ Gerade sind all die neuen Informationen und Veränderungen eben noch ganz schön viel. Um das Basalinsulin abends nicht zu vergessen, stellt Chris sich einen Wecker, oft erinnert ihn auch seine Frau daran. Er versucht auch, weniger oder gar keinen Zucker zu essen – die zwei Würfelzucker im Tee hat er schon gegen Süßstoff ausgetauscht. Und er trinkt weniger Alkohol, vor allem weniger Bier und Cider, auch wenn ihm das fehlt.
„Mein Kind macht mich zu einem besseren Menschen“
Vater zu werden, hat für ihn alles verändert, sagt Chris, schon bevor die Diagnose Diabetes kam: „Mein Sohn macht mich zu einem besseren Menschen. Ich will für ihn ein Vorbild sein, auf das er stolz sein kann. Ich will ihm zeigen, dass er mit harter Arbeit viel erreichen kann und dass man sich Ziele setzen und die dann auch verfolgen sollte. Natürlich mache ich mir jetzt Sorgen um meine und auch seine Gesundheit. Darüber, ob ich Spätfolgen bekomme, vielleicht blind werde, ein Bein verliere oder sogar im Schlaf sterbe wie mein Bruder. Aber im Alltag komme ich eigentlich gut klar, und für mich ist das Glas immer eher halb voll als halb leer. Sollte er irgendwann auch Diabetes bekommen, dann kann ich ihn immerhin super unterstützen. Ich will mich auf die guten Dinge in meinem Leben konzentrieren und das Beste daraus machen.“
Mit Hoffnung in die Zukunft
Deswegen macht Chris jetzt eine Ausbildung zum Erzieher – mit Kindern zu arbeiten macht ihm Spaß, und er findet es spannend, bei seinem kleinen Sohn in Echtzeit die Entwicklungen zu beobachten, von denen in seinen Lehrbüchern die Rede ist. Seine Freizeit verbringt er am liebsten mit seiner Familie und abends spielt er gerne mit Freunden im Pub Darts und Pool. Und wenn ihm das Jonglieren mit Kohlenhydraten und Korrekturfaktoren in Fleisch und Blut übergegangen ist, dann hätte Chris gerne irgendwann eine Insulinpumpe und einen Sensor, denn: „Das wäre schon praktisch, mich nicht immer stechen und spritzen zu müssen, mit einer Pumpe wäre ich viel flexibler. Aber eines nach dem anderen. Erst mal müssen meine Faktoren stimmen und ich muss die Grundlagen verstehen.“
Connor
» Insulin, Sport und Essen sind meine Medizin. «

Connor ist ein 23 Jahre junger Architekt aus Ayre und arbeitet in Glasgow. Diabetes hat er seit seinem elften Lebensjahr. Drei Jahre später bekam er als einer der ersten in seiner Region eine Insulinpumpe. Heute genießt er die Freiheit, die ihm Pumpe und Sensor ermöglichen. Er treibt viel Sport und achtet mittlerweile auch intensiv auf seine Ernährung. Vor allem die Kohlenhydrate hat er dabei im Blick.
Ungewollter Abnehm-„Erfolg“
Der Weg zur Diagnose für Connor war lang: „Damals bin ich mit meiner Mutter immer zu wöchentlichen Abnehm-Treffen gegangen und habe mich zum Spaß auch jede Woche gewogen. Ich war der erfolgreichste Abnehmer der Gruppe, ohne irgendwas dafür zu tun.“ Statt den unerwarteten Erfolg genießen zu können, fühlte sich Connor aber dabei vor allem erschöpft, abgeschlagen und schrecklich durstig.
„An dem Wochenende vor meiner Diagnose war ich dann mit einer Gruppe von der Schule in den Bergen: campen und wandern. In der Nacht bin ich plötzlich aufgewacht und war so durstig, dass ich einen ganzen Liter Saft heruntergekippt habe. Danach bin ich aufgestanden. Ich habe den nächsten Bach gesucht und aus dem Bachlauf getrunken. Am nächsten Tag habe ich dann alle ständig um ihr Wasser angebettelt, weil ich so einen Durst hatte. Keine Ahnung, wie ich diese Wanderung dann überhaupt noch geschafft habe.“
» Ich habe anfangs gar nicht begriffen, dass Diabetes bleibt. «
„Ich dachte, ich könnte mich selbst heilen“
Nach dem Wochenende brachte Connors Mutter ihn zum Arzt. Dieser schickte den Jungen wieder nach Hause, das sei nur eine Migräne. Nach einigen Tagen der zweite Arztbesuch, dieses Mal mit Blutzuckermessung – und schon fand sich Connor im Krankenhaus wieder, wo er messen und spritzen lernte. „Einige Tage vor meiner Entlassung haben sie mir dann Pen und Messgerät in die Hand gedrückt, damit ich das selbst mache. Ich habe anfangs gar nicht begriffen, dass Diabetes bleibt. Ich war davon überzeugt, mich selbst heilen zu können, wenn ich nur gesund esse, mich bewege und mich insgesamt so gesund wie möglich verhalte.“ So einfach war es aber nicht, und so musste Connor irgendwie in der Schule und im Rest seines Alltags damit umgehen, zu bestimmten Zeiten zu messen, zu essen oder zu spritzen. Gerade in der Schule fiel ihm das schwer: „Ich war sehr schüchtern und die Lehrer in meiner Schule waren ganz schön streng. Wenn man im Unterricht beim Essen oder Kaugummikauen erwischt wurde, wurde man vor die Tür geschickt. Also habe ich, wenn meine Werte zu tief waren, immer versucht, heimlich Traubenzucker zu essen. Und wenn ich vergessen hatte, in der Pause zu spritzen, dann habe ich lieber zu hohe Werte in Kauf genommen, als etwas zu sagen oder aufzufallen.“
Diabetes trifft auf Alkohol
Als Jugendlicher wollte Connor einfach normal sein und dazugehören. Alkohol spielte dabei wie bei vielen seiner Altersgenossen eine große Rolle. „Das ging nicht lange gut, ich bin zweimal mit einer Ketoazidose im Krankenhaus gelandet. Heute versuche ich, möglichst gar nichts Alkoholisches zu trinken.“ Ab und an ein oder zwei Gläser sind kein Problem, aber mehr kann gefährlich werden, egal in welchem Alter: „Vor ein paar Monaten hat meine Freundin mir vermutlich das Leben gerettet: Ich war abends mit Freunden unterwegs und habe doch mehr getrunken als normalerweise. Nachts hat sie dann gemerkt, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Sie hat meinen Zucker gemessen – 30 mg/dl! (1,7 mmol/l) – und mich dann wachgerüttelt, um mir Essen geben zu können. Das war verdammt knapp!“
Selbsthilfe wirkt: „Merken, dass meine Probleme nicht nur meine sind“
Die Unterstützung durch seine Freundin und auch seine Familie, insbesondere seine Mutter, sind wichtige Säulen in Connors Leben mit Diabetes: „Meine Mutter ist der Wahnsinn. Nach meiner Diagnose hat sie sich sofort eingelesen und dann sogar eine Selbsthilfegruppe für Kinder und deren Familien gegründet. Da helfe ich heute noch gelegentlich aus. Erst vor Kurzem hat sie die Leitung der Gruppe an die nächste Generation abgegeben.“ Den Austausch mit anderen Menschen mit Diabetes findet Connor enorm wichtig, denn: „Meine Freundin oder meine Mutter können schon viel verstehen und sich vorstellen, aber wenn ich mit anderen Diabetikern rede, merke ich, dass all meine Probleme auch ihre Probleme sind – und das ist extrem beruhigend.“
Meditation und Sport
Anstrengungen und Herausforderungen gibt es im Alltag mit Diabetes viele, sei es die Hypo während einer Besprechung auf der Arbeit oder die nächtliche Unterzuckerung, nach der man sich am nächsten Tag fühlt, als hätte man einen Kater. Ganz zu schweigen von der Gegenregulation und der Schaukel aus Unterzucker – den Kühlschrank plündern – Überzucker – Überkorrektur – Unterzucker usw. Das schlägt auf Dauer aufs Gemüt, vor allem weil der Diabetes-Stress zu dem Druck hinzukommt, den auch Menschen ohne Diabetes erleben. Im vierten Studienjahr wurde das dann für Connor alles zu viel: „Da war ich physisch und psychisch ganz schön angeschlagen. Ich war gestresst, habe ungesund gegessen, wenig Sport gemacht. Ein Teufelskreis. Was mich gerettet hat, war ein Kurs zu Achtsamkeit und Meditation. Seitdem meditiere ich jeden Tag zweimal und mache mindestens dreimal pro Woche Sport, und es geht mir viel besser. Dieser Ausgleich hilft mir dabei, mit dem Stress im Alltag und mit meinem Diabetes gelassener umzugehen. Aber natürlich ist das ein zerbrechlicher Zustand: Es braucht nur zwei, drei Unterzuckerungen und ich muss wieder von vorne anfangen.“
Ernährung als Teil der Therapie
Vor einem halben Jahr hat Connor noch einen großen Helfer im Diabetesmanagement für sich entdeckt – die Ernährung. „Ich höre viele Podcasts und bin auf einen gestoßen, wo jemand mit Diabetes von seinen Erfahrungen mit der ketogenen Ernährung erzählt, also Essen (fast) ohne Kohlenhydrate. Das fand ich spannend und wollte es ausprobieren, denn weniger Kohlenhydrate heißt für mich auch weniger Insulin und stabilere Werte. Seitdem ich das mache, kann ich viel flexibler Sport treiben und das über die Basalrate steuern, statt vorher essen zu müssen. Mein Zucker bleibt stabil, auch über Nacht. Und ich habe jetzt keine Angst mehr vor einer Unterzuckerung. Denn wenn ich jetzt unterzuckere, dann relativ langsam, sodass ich erstens genug Zeit habe, zu reagieren, und zweitens meistens schon drei Gummibärchen reichen, um das wieder aufzufangen.“ Seine Freundin findet, er übertreibe es im positiven Sinne manchmal ein bisschen. Aber Connor sagt: „Mein Onkel hatte auch Diabetes und hat einen Fuß verloren. Ich will nicht, dass mir das passiert. Außerdem: Ich fühle mich heute so gesund, fit und ausgeglichen wie noch nie in meinem Leben mit Diabetes und ich genieße das, was ich esse.“
» Sie hat meinen Zucker gemessen – 30 mg/dl! (1,7 mmol/l) – und mich dann wachgerüttelt, um mir Essen geben zu können. Das war verdammt knapp. «
Neue Freiheiten dank stabiler Zuckerverläufe
Die Ernährungsumstellung und der stabilere Zuckerverlauf haben ihm auch neue Reise-Optionen eröffnet: „Früher habe ich immer sofort überlegt, wie die Gesundheitsversorgung in dem Land ist, in das ich reisen will. Wie weit weg ist das nächste Krankenhaus? Was, wenn ich plötzlich Hilfe brauche? Jetzt fühlt sich das Risiko viel kleiner an und ich freue mich auf Reisen auch in abgelegenere Gebiete.“
Bewusster Leben „Dank“ Diabetes
Auch wenn es schön wäre, mal einen Tag – oder den Rest des Lebens – frei zu haben von all den Gedankengängen und Entscheidungen, die er im Bezug auf seinen Diabetes ständig treffen muss, findet Connor: „Diabetes hat mich auch stark gemacht. Es erdet mich und erinnert mich, dass Gesundheit wichtiger ist als Geld. Außerdem lebe ich viel bewusster und gesünder, als ich es sonst tun würde. Das finde ich gut.“
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