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Dennoch war der Jarl jedes Jahr am Wall. Die Festung Snaergarde lag sechzig Landmeilen im Südwesten. Sie war die Heimstatt des Regenten, die er nur zu wenigen Anlässen verließ. Die jährlichen Besuche beim König auf dem Festland stellten einen solchen dar, die Zeit der Angriffe am Wall einen weiteren. Er begab sich natürlich nicht in die erste Linie, war aber auch nie damit zufrieden, sich nur zu den Bogenschützen zu gesellen.
»Kommen sicher bald mehr von seinen Raben, wo er nun da ist. Ist jedes Jahr so gewesen bisher« meinte Kelton. »Kommen immer ein paar Dutzend von denen, die brauchen das wahrscheinlich.«
Es hieß, dass der Jarl seine Garde jedes Jahr bei den ersten Angriffswellen ganz vorne kämpfen ließ. Nicht, dass das Prinzip der Abschreckung durch Schocktruppen bei den Klabautern funktionierte. Diese Bestien kannten weder Taktik noch Moral oder Angst. Vermutlich ging es einfach ums Töten und um die Wirkung auf die anderen Soldaten. Für die Männer spielten Moral und Angst sehr wohl eine Rolle, und Seite an Seite mit der Kriegerelite zu kämpfen, war der Ersteren ebenso zuträglich, wie es half, die Letztere im Zaum zu halten. Kelton schien plötzlich wieder einzufallen, wo er war und mit wem er redete. Er gab Naitan einen gemeinen Schlag auf den Oberarm.
»Und jetzt Schluss mit dem Quatschen und Gaffen. Da auf der anderen Seite liegt das, was uns zu interessieren hat, also hopp.«
Da es sinnlos war, zu widersprechen, von potentiell schmerzhaft ganz zu schweigen, wandte Naitan sich mit einem letzten Blick auf den Jarl und seine Männer ab. Vielleicht würde er die Chance bekommen, mit ihnen gemeinsam in einer Schlacht zu kämpfen. Diese Aussicht war alles wert, was ihm hier widerfahren war und noch widerfahren sollte. Er würde diese erste Zeit überstehen, und sich dann in der Schlacht gegen die Klabauter beweisen. Mit etwas Glück würde sogar Kelton getötet werden. Er und ein paar andere von den Scheißkerlen mochten umkommen, was sein Leben hier ungemein erleichtern würde.
Es dauerte nicht lange, bis die Klabauter kamen. Der Jarl war noch am Wall, als die Kämpfe begannen. Bis dahin waren tatsächlich mehrere Dutzend Blodskjoldr der Rabengarde eingetroffen, zumeist jüngere Männer. Der Wall war eine gute Schule, für den einfachen Soldaten genauso wie für den Gardisten. Zum einen war dem Jarl eine gewisse Tötungspraxis seiner Männer wichtig. Zum anderen war der Kampf gegen eine brüllende, kreischende Masse aus Fell und Krallen eine gute alljährliche Abhärtung.
Kelton und Naitan kämpften beide, und tatsächlich erwischte es den mürrischen, schweigsamen jungen Mann aus Kråkebekk gleich bei der ersten Welle. Er verlor ein Auge und zwei Finger der linken Hand. Es dauerte lange, bis er sich davon erholte. Als er einigermaßen wieder hergestellt war, blieb er am Wall. Nicht bei den Kriegern, er sah auch mit dem verbliebenen Auge nicht mehr besonders viel. Aber er lebte im Dorf und arbeitete bei einem Pfeilmacher.
Naitan überstand drei Wellen und schlug sich so tapfer, wie er es sich erhofft hatte. Er verdiente sich nach einigen Schlachttagen das Privileg, in zweiter Reihe an der ersten Mauer zu kämpfen. Am letzten Tag, an dem es in diesem Jahr richtig zur Sache ging, erschlug ein riesiger, alter Klabauter den Mann vor Naitan und riss ihm dann den rechten Arm ab, als wäre es ein dünner Ast an einem Baum. Er war längst verblutet, als man mit der Suche nach Verwundeten begann. Er gehörte schließlich zu knapp drei Dutzend Gefallenen.
Es war ein guter Herbst mit geringen Verlusten. Man bestattete ihn gemeinsam mit den anderen in einem Massengrab auf dem ausgedehnten Friedhof, der etwas abseits der Siedlung lag. Es gab dort viele Gräber. Für jedes Jahr eines. Danach begann ein Schlachten, das nicht weniger brutal, aber sehr viel ungefährlicher war, als das vorangegangene. Die Kämpfe an sich waren nicht blutiger, als das ihnen folgende Sammeln und Häuten der Klabauter.
Naitans Vater bekam eine, für die Verhältnisse eines einfachen Landmannes, großzügige finanzielle Zuwendung. Es war immerhin genug, um zwei weitere Ochsen und eine neue Werkbank für die kleine Schreinerwerkstatt zu kaufen.
In Norselund kümmerte man sich um seine Leute.
Kapitel 1
Snaergarde
Die Wolken hingen so schwer und tief über Snaergarde, dass sie die höchsten Türme der alten Festung beinahe zu berühren schienen. Leichter Schneefall läutete den Beginn des Winters ein, was für den September nicht ungewöhnlich war. Die Schneewacht machte ihrem Namen seit Jahrzehnten fast ganzjährig alle Ehre. Mit dem Bau der Heimstatt derer av Ulfrskógr war lange vor dem des Walls begonnen worden, und sie galt als die älteste Burg Norselunds. Vor dem Grau hatte sie noch ein gutes Stück von der Schneefallgrenze entfernt gelegen. Dieser Tage begann der ewige Winter, welcher den Norden der Insel überzog, kaum zehn Landmeilen weiter nördlich und das Umland der Feste war nur wenige Monate im Jahr frei von Schnee und Frost.
Von den dorfähnlichen Gemeinschaften, die sich im Laufe der Zeit um jede größere Wehranlage formten, war hier nichts mehr zu sehen. In den letzten Jahrzehnten war in der Umgebung von Snaergarde weder Ackerbau noch Viehzucht möglich gewesen. Die Wohnhäuser und Bauernhöfe waren schließlich großflächigen Gebäuden aus dunklem Stein gewichen, die der Jarl hatte errichten lassen. Wie ein Teil der Festung schmiegten sie sich von außen an die dicken Mauern, wo sie sich auf bis zu drei Stockwerke erhoben. Trotz ihrer oberflächlichen Schlichtheit boten diese Unterkünfte den Menschen nicht nur Geborgenheit und Schutz, sondern auch eine gewisse Lebensqualität.
Wer hier lebte, litt keinen Hunger, hatte warme Kleidung und war vor Übergriffen geschützt. Alles lag fest in der Hand des Jarls und es gab weder einen freien Handel noch Störungen von außerhalb. In nördlicher und westlicher Richtung gingen die mehrere Schritte dicken Mauern direkt in den natürlichen Wall über, der dort als Fundament diente. Snaergarde stand zum größten Teil auf einem Sockel aus massivem Felsgestein. Das hatte damals zum einen den Bau der gewaltigen Anlage erleichtert, zum anderen das Anlegen umfangreicher Kellergewölbe ermöglicht. Die hier lebenden Menschen gehörten ohne Ausnahme zum Gefolge des Jarls. Es war ein isoliertes Leben in einer verschworenen Gemeinschaft, in die man für gewöhnlich hineingeboren wurde. Die nächste Ortschaft war das mehr als hundert Landmeilen südlich gelegene Hovelvol. Es war ein relativ kleiner Ort, der von einigen Dutzend Bauernhöfen umgeben an den Ufern des Jernlodda lag. Von dort kamen die wenigen Rohstoffe und Produkte, die man von außerhalb benötigte, wie etwa Leder, Getreide oder Käse.
Etwas abseits der Mauern standen lange, flache Gebäude. Diese Handwerkshallen waren aus dem gleichen dunklen Stein gebaut, der hier überall Verwendung gefunden hatte. Sie beherbergten Ausschmiedeanlagen und Verhüttungsbetriebe. In gleichmäßigem Abstand zogen sich die mit Schiefer gedeckten Bauwerke zwischen Lagern für Roherz und zahlreichen Rennöfen über das karge Land. Der Hauptgrund dafür, dass auf dieser so weit im Norden gelegenen Burg so viele Menschen lebten, war ihre Nähe zum Eisgebirge. Die gewaltigen Berge des nördlichen Randes der Welt stellten die Schatzkammer des Jarltums und der gesamten Insel dar.
Snaergarde war der Dreh- und Angelpunkt des Stoffes, der Norselund seit den Tagen der Vereinigung der alten Clans Stärke, Sicherheit und Wohlstand verlieh. Dem Eisenerz, aus dem die Schmiede der Insel ein Metall formten, dass im Reich als Nordeisen bekannt und begehrt war. Bis zu einem gewissen Maß traf das auch auf die schwere, ölige Steinkohle zu, die man in den westlichen Stollen förderte. In mehreren, im ewigen Winter des Eisgebirges gelegenen, Minenanlagen wurden jedes Jahr Tonnen an Erz abgebaut und zunächst nach Snaergarde gebracht. Zum größten Teil geschah das mit Hilfe des Jernlodda, der im Osten knapp fünfhundert Meter an den äußeren Mauern der Festung vorbeifloss. Der Fluss war seit dem Grau über einen erheblich längeren Zeitraum hinweg zugefroren als in früheren Tagen. Trotzdem stellte er noch immer eine weniger aufwendige Transportmöglichkeit dar, als es Wagenzüge taten. An den Minen selbst war es so kalt, dass kaum ein Tier auf Dauer überlebte. Diese tödliche Kälte war auch der Grund, warum die Weiterverarbeitung des Rohstoffes so weit südlich stattfand, anstatt direkt dort, wo er gefördert wurde. Tag für Tag stieg der Rauch über den Schmelzöfen im Nordosten in den grauen Himmel hinauf. Tonne um Tonne wurde Erz zu Luppe und Luppe zu Eisen einer Qualität ausgeschmiedet, die im Königreich ihresgleichen suchte. Snaergarde war, Festung und Schmiede des Nordens, das kalte Herz, von dem aus das metallene Lebensblut von Norselund durch das Land floss.
Die Insel hielt nicht viele Schätze für sein von Mühsal und harschem Klima geprüftes Volk bereit. Die wenigen, die sie bot, gab sie jedoch reichlich. Allen voran Eisen und Steinkohle, aber auch mannigfaltige Arten von Holz, ebenso wie hochwertigen Stein. Ersteres war dabei ungleichmäßig verteilt. Die Erzvorkommen außerhalb der nördlichen Gebirgszüge zeigten sich spärlich und oft mit Erz von so durchschnittlicher Güte, dass ein Abbau heuer kaum noch lohnte. Es gab etwas Kupfer im Jarltum von Falksten und noch weniger Silber in Kråkebekk. Das Eisgebirge im Norden hingegen verfügte über einen scheinbar endlosen Vorrat an Eisenerz von größter Reinheit.
Dieser kostbare Rohstoff stellte eine der beiden Komponenten dar, die den Inselbewohnern die Herstellung des besten Eisens der bekannten Welt ermöglichten. Die andere war eine Tradition in der Schmiedekunst, die Jahrhunderte zurückreichte. Das Metall war heute der maßgebliche Exportartikel von Norselund. Es war die wertvollste und zugleich einzige bedeutungsvolle Münze, über welche die Jarle verfügten. Mit ihr wurden die Abgaben an den König geleistet, und sie war eine zahlungskräftige Währung für den Handel mit dem Rest der Welt. Das Eisen sorgte somit ebenso für die Versorgung des Volkes, wie dafür, dass die Truppen der Insel zu den am besten gerüsteten des Reiches gehörten. Seit einigen Jahren arbeiteten die Schmiede in Snaergarde mit Hilfe der Steinkohle auch an der Herstellung von Stahl. Dieses Geheimnis hatten die Jarle allerdings bislang vor den Festländern zu hüten gewusst.
Die Lage der Heimstatt des Jarl av Ulfrskógr hätte für eine schwer gesicherte Handwerkstätte nicht besser gewählt sein können. Die Abgeschiedenheit der Festung und die isolierte Lage der Ländereien selbst spielten dabei ebenfalls eine Rolle. Das Eisgebirge, dessen äußere Arme weit im Norden der Insel in mehrere hundert Schritte hohe Steilküsten ausliefen, umschloss das Land wie ein nach Süden offenes Hufeisen.
Die natürliche Grenze zum Landesinneren bildete der Kråkebekk, der größte Fluss von Norselund. Im Südwesten mündend, war er namensgebend für das dortige Jarltum. Drei massive, gut gesicherte Steinbrücken stellten die einzigen sicheren Wege über diese nasse Barriere dar. Schon in früheren Tagen gab es nur wenige schmale Furten über das ebenso breite wie schnell fließende Gewässer. Nach dem Grau war seine Wassermenge durch die vermehrten Niederschläge noch deutlich angewachsen. Heute gab es zu keiner Jahreszeit mehr eine Möglichkeit, den Fluss ohne Hilfsmittel zu überqueren. Viele der alten Brücken hatten sich in der starken Strömung im Laufe der ersten Jahre des Umbruches in wahre Todesfallen verwandelt.
Die Steinbrücken waren vor über zwanzig Jahren zur gleichen Zeit gebaut worden wie die Handelsstraße, welche die drei Jarltümer der Insel verband. Die gut befestigte Straße erstreckte sich auf der vollen Länge von Kråkeborg nach Falkehaven, den beiden südlich gelegenen Hauptstädten. In gleichmäßigem Abstand führten von dem Hauptstrang aus drei Straßenabschnitte auf den Brücken über den Kråkebekk und trafen sich kurz hinter dem Fluss. Von dort aus verlief der Handelsweg weiter, bis er in Høyby, der Hauptstadt des nördlichen Jarltums, endete. Die Straße, wie auch die Brücken, verdankte die Insel der engen Zusammenarbeit der drei Herrscherfamilien.
Von Høyby aus ging der Löwenanteil an Eisen direkt nach Falkehaven, dem Zentrum des Exporthandels des Nordens. Der Grund dafür, dass Snaergarde bei all dem mehr war, als nur eine Stätte des Handwerks und des Warenumschlages, war der Jarl selbst. Varg av Ulfrskógr, seit fast fünfundzwanzig Jahren der uneingeschränkte Herrscher des nördlichen Norselunds, war auf dieser Festung aufgewachsen. Snaergarde war der traditionelle Sitz der Familie, und er hatte das Leben hier dem in der Hauptstadt immer vorgezogen. Nach den ersten zehn Lebensjahren auf der Heimstatt seiner Ahnen war er danach gezwungen gewesen, einige Jahre in Høyby zu verbringen. Der alte Jarl hatte darauf bestanden, dass sein jüngster Sohn ein anderes Umfeld als das in der Abgeschiedenheit der Burg kennenlernte, und sich mit den Gepflogenheiten der Stadt vertraut machte.
Nach dem Tod des Vaters war der junge Jarl in die nördlichste aller Befestigungen von Norselund zurückgekehrt. Seitdem hatte er sie nur verlassen, wenn er es nicht vermeiden konnte. Auf die Zeit in Høyby schaute er im Nachhinein dennoch wohlwollend zurück. Er hatte sich dort nie so wohl gefühlt wie in Snaergarde, diesen Lebensabschnitt aber als lehrreich empfunden.
Darüber hinaus hatte er in besagten Jahren Lady Lifa av Skalenborg kennengelernt. Obgleich nicht die erste Liebe seines Lebens, war es bis zum heutigen Tag die Letzte geblieben. Wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Jarl wurden sie vermählt, und er hatte es nie bereut, selbst in den dunkelsten Stunden nicht, als alles verloren war.
Bei besagter Lady verweilten die Gedanken von Varg jetzt, da er den Bierschlauch, aus dem er soeben einen kleinen Schluck genommen hatte, auf einen niedrigen Hocker neben seinem altem Schreibtisch aus Eisenholz legte. Das taten sie dieser Tage nicht mehr so oft wie noch vor zwei oder drei Jahren, was ein Segen war.
Dass die Zeit alle Wunden heilte, war das Gewäsch von Narren. Man gewöhnte sich jedoch an den Schmerz, genau wie bei alten Narben, die man in der Schlacht davontrug. Damit mochte es auch zusammenhängen, dass er nur noch einen Schlauch Bier über den Tag hinweg leerte. In der Zeit nach ihrem Tod war es nicht bei einem geblieben, oft nicht einmal bei zwei oder drei, und damals war es statt Gerstensaft schwerer norselunder Met gewesen. Aus jenen Tagen stammten auch die gut zwanzig Pfund überflüssigen Fettes, die er fünf Jahre zuvor noch nicht mit sich herumgetragen hatte. Aber er zählte fast vierzig Winter und es gab schlimmere Gebrechen, die einem Mann dieses Alters widerfahren konnten. Der Jarl erhob sich von dem gepolsterten Lehnstuhl und ging zu der metallbeschlagenen Eisenholztür des Arbeitszimmers. Dort nahm er den Mantel von einem Haken und zog ihn über. Das dicke Leder war schwarz geölt und mit dunkelgrauem Klabauterfell gefüttert. Ein knöchellanges Bollwerk gegen die eisige Kälte seiner Heimat. Während er sich ankleidete, ließ er die Gedanken für eine Weile bei der verlorenen Liebe verweilen.
Trauer und Schmerz verblassten mit den Jahren. Das war eine der wenigen Gnaden der Götter, die vermutlich nicht existierten. Lifas Bild hingegen tat das nicht, noch nicht jedenfalls. Er dachte seltener an sie, aber wenn er es tat, war ihre Erscheinung so klar, als stünde sie leibhaftig und lebendig vor ihm. Nur einen Kopf kleiner als er, mit sommersprossiger, milchweißer Haut, lohfarbenem gelocktem Haar und ebensolchen stahlgrauen Augen wie den seinen, war sie eine klassische Nordlandschönheit gewesen. Ihre neugeborene Tochter hatte einen winzigen Schopf flaumigen Haares derselben Farbe gehabt. Man hatte es zwischen dem ganzen Blut kurz sehen können, als sie aus dem toten Leib ihrer verbluteten Mutter gezogen worden war. Auch die Kleine hatte wenige Minuten später aufgehört zu atmen. Der Jarl schloss den Mantel und schüttelte die alten Bilder ab. Das fiel ihm heute, vier Jahre nach dem Tod seiner Familie, bereits erschreckend leicht.
Er öffnete die Tür und durchquerte mit langen Schritten den rundum mit getränktem Holz vertäfelten Gang, der zu den verschiedenen Räumlichkeiten seiner Gemächer führte. Von hier aus gelangte man zum Arbeitszimmer, dem Schlafgemach, einem kleinen Waschraum sowie einem Kaminzimmer. Er trug außer dem Mantel und hohen, genagelten Stiefeln nur einfache, aber robuste Wollkleidung. Die einzige Rüstung, die er innerhalb der Festung benötigte, galt dem Schutz vor der Kälte. Die Menschen, die hier lebten, gehörten Familien an, die der seinen seit vielen Generationen dienten. An seiner Hüfte baumelte denn auch nur ein alter, unterarmlanger Dolch.
Der Jarl zog sich im Gehen die Handschuhe an, schlug den hohen, gefütterten Kragen seines Mantels hoch und trat durch die dicke Außentür aus dem Bergfried hinaus. Es war beinahe windstill, der Schnee fiel in winzigen, feinen Flocken und die Luft roch nach dem ersten Frost des Winters. Der Tag war erfüllt von den Geräuschen des morgendlichen Burglebens und dem allgegenwärtigen Klingen der Hämmer in den Schmieden. Er ging ein Stück in Richtung der Schildmauer im Süden, bevor er in eine leicht gewundene steinerne Treppe nach unten abbog. Dabei erwiderte er den einen oder anderen laxen Gruß der Wachen mit einem flüchtigen Nicken. Er war nicht sicher, ob er seinen Gast und Freund, den Jarl Stian av Falksten, der seit dem gestrigen Tage zu Besuch war, schon auf den Beinen vorfinden würde. Als er die Stufen, die in den geräumigen Haupthof führten, zur Hälfte hinter sich gelassen hatte, sah er jedoch, wie der alte Mann gegen einen Pfeiler gelehnt das morgendliche Treiben beobachtete.
Stian war kaum kleiner als der zwanzig Jahre jüngere Jarl, aber nicht ganz so kräftig gebaut. Das Haar, obgleich vollständig ergraut, war noch voll, die Gestalt gerade, mit breiten Schultern, die das Alter bislang nicht zu beugen vermocht hatte. Man sah ihm nur bedingt an, dass er in zwei Wintern sechzig Jahre alt sein würde. Er hatte den Großteil der Regierungsarbeit in Falkehaven vor wenigen Jahren an seinen Sohn Alfr abgegeben und verbrachte die Zeit seitdem zumeist damit, durch Norselund zu reisen. Varg hatte die Stufen zur Hälfte bewältigt, als der andere ihn bemerkte und sich zu ihm umdrehte.
»Endlich wieder Schnee, der Winter hat mir gefehlt«, rief der alte Nordmann lächelnd und kam ein paar Schritte auf den Fuß der Treppe zu.
Varg entging nicht, wie sehr er sich dabei auf den verzierten, eisenbeschlagenen Stock stützte. Er trug ihn seit einigen Jahren, bis zum letzten oder vorletzten Winter hatte er ihm allerdings eher als Schmuck gedient, denn als Werkzeug. Eine Jahrzehnte zurückliegende Verletzung seines Knies machte ihm offenbar mit jedem verstreichenden Jahr mehr zu schaffen.
»Dass ein von der Wärme langer Sommer verwöhnter Südländer unser nordisches Klima zu schätzen weiß, ehrt uns hier oben«, gab Varg in ebenso freundlichem Spott zurück. »Hast du dir unsere merkwürdigen Vorkommnisse schon angesehen? Oder hast du auf mich gewartet?«
»Ich habe auf dich gewartet, wie es sich für einen Gast gehört. Es soll ja niemand sagen können, dass wir Südländer alle nur Bauernlümmel sind. Lass uns gemeinsam sehen, ob wir es mit einem echten Problem zu tun haben, oder nur mit Jägern, die noch mehr trinken als ihr Burgherr.«
Der jüngere Jarl schnaufte nur ob dieses Seitenhiebes. In der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau war der Jarl av Falksten der einzige Mensch gewesen, den er zu ertragen vermocht hatte. Er allein wusste, wie schlecht es für eine Weile um ihn gestanden hatte, wie schmal der Grad zur unkontrollierten Trunksucht und Freitod war, auf dem er fast ein Jahr lang gewandelt war. Sie gingen nebeneinander gemächlichen Schrittes über den Hof, wobei der Jüngere sein Tempo dem des Älteren anpasste. Stian hatte sich bei einem Reitunfall in seiner Jugend das Knie gebrochen, eine Verletzung, die ihn in letzter Zeit ernsthaft zu plagen begann. Der betagte Jarl sah den Blick des Burgherrn und verzog das von den Jahren gezeichnete Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
»Tut zum Glück nur weh, wenn es kalt und feucht ist. Sobald die götterverdammte Sonne wieder scheint, wird es sicher besser.«
»Ja, du warst schon einmal schneller unterwegs«, stimmte Varg ihm zu, »wenn auch nicht viel. Um auf Erfreulicheres zu kommen als die Gebrechen eines Greises, wie geht es eigentlich unseren Turteltauben, hast Du in letzter Zeit etwas von ihnen gehört?« Die älteste Tochter des Freundes und Bjorn av Kråkebekk, der dritte und jüngste Jarl im Bunde der drei Herren von Norselund, waren kürzlich vermählt worden.
»Der letzte Vogel brachte nichts Neues. Der verdammte Schlamm frisst immer mehr Ackerland, aber den beiden geht es gut. Das mit der Verschlammung hat hoffentlich ein Ende, wenn sie die ersten Erhebungen der südlichen Highlands erreicht. Sonst reicht das selbst angebaute Korn bald nicht einmal mehr für die dürren Gespenster, die wir Hühner nennen.«
Kråkebekk hatte vor dem Grau die Kornkammer der Insel dargestellt. Seit jeher machte der Fischfang einen guten Teil der Nahrungsmittelversorgung aus. Was man in den drei Jarltümern an Getreide für Mehl und Brot brauchte, kam zumeist aus den Äckern im ehemals fruchtbaren Südwesten. Die Felder im Südosten und vor allem im Norden von Norselund waren selbst vor dem Grau kaum für mehr zu gebrauchen gewesen, als Korn für die Geflügelzucht zu liefern.
Heute stellte der Fisch, der zum größten Teil bei Falkehaven aus dem Meer gezogen wurde, die mit Abstand wichtigste Nahrungsquelle der Insel dar. Die Getreideernte aus Kråkebekk war schon lange nicht mehr ertragreich genug, um die anderen beiden Jarltümer mitzuversorgen. Der kümmerliche Ertrag an Winterweizen, der im Osten und Norden noch angebaut wurde, reichte gerade einmal zur Haltung von anspruchslosem Federvieh wie Hühnern. Dazu kamen einige Schafherden und die Pferdezuchten in Kråkebekk. Für andere Nutztiere, wie Rinder oder gar Schweine, gab es bis auf wenige Ausnahmen einfach nicht mehr genug Futter und Weideland.
Das Überleben nach dem Grau verdankte das Volk in erster Linie dem engen Band, das während der letzten Generationen zwischen den Familien der Jarle entstanden war. In einer gemeinsamen Anstrengung strukturierten sie das Land nach der Katastrophe um, und verteilten die ihnen verbliebenen Ressourcen mit Bedacht und Voraussicht. Es hatte weder Dünkel noch Opportunismus gegeben, weder Neid noch Misstrauen. Anders als vielerorts auf dem Festland. Nur aus diesem Grund hatte das Volk die Auswirkungen des Grau überstanden, obwohl es die Insel ungleich härter getroffen hatte als die Gebiete im Süden der Welt. In Norselund herrschte seit jeher ein kaltes und lebensfeindliches Klima. Das Grau hatte weite Teile des Landes nahezu unbrauchbar gemacht. Vor allem im Norden waren ganze Landstriche inzwischen verwaist.
Diese enge wirtschaftliche Verbundenheit hatte sich bis heute gehalten. Ulfrskógr versorgte den Rest der Insel mit Eisen und Kohle und stellte mit dem Metall die Münze für den Außenhandel zur Verfügung. Kråkebekk konzentrierte sich fast völlig darauf, zum Wohle aller Jarltümer den bestmöglichen Ertrag aus seinen Feldern und Weiden herauszuholen. Falksten sorgte mit dem Fischfang für Nahrung und wickelte über Falkehaven den Export und Import ab.
Im Grunde war Norselund ein eigenes Großherzogtum, das von den drei Jarlen als Triumvirat regiert wurde. Eine Tatsache, die man vor dem Rest des Königreiches tunlichst zu verschleiern bemüht war. Groß genug waren bereits das Misstrauen und die Animositäten zwischen der Insel und dem Festland. »Immerhin ist die Küste im Südwesten durch die Sümpfe bestens geschützt. Da wird niemand eine erfolgreiche Invasion landen. Also keine Gefahr, dass uns in Zukunft irgendwer erschlägt, bevor wir in Ruhe verhungern können«, endete Stian schließlich.
»Solange wir uns alle ein Beispiel an deiner heiteren Sicht der Dinge nehmen, kann uns kein Leid schrecken«, lächelte der jüngere Jarl. »Ich war seit meiner Zeit in Høyby nicht mehr dort. Hast Du dir das in den letzten paar Jahren mal selbst angeschaut?«
»Vor drei Jahren«, bestätigte Stian. »Ich bin die ganze landungsfähige Küste abgefahren. Also das, was früher landungsfähig war. Ist kaum noch etwas übrig von den alten Stränden. Das Land dort ist für die Menschen verloren. Alles verschlammt und die Sümpfe haben sich in alle Richtungen ausgebreitet. In einem Moment kannst Du bis zu den Knien im Schlamm versinken und einen Meter weiter bis du, ohne es zu merken, im Sumpf. Das einzig Gute, was man noch von der Südwestküste sagen kann, ist, dass sie jetzt eine natürliche Verteidigung darstellt. Die dürfte ebenso effektiv sein wie die Steilküsten bei dir. Wer da unten landet, kann seine komplette Armee an den Sumpf verlieren, egal zu welcher Jahreszeit. Das Ackerland ist jedenfalls hin. Die ganzen Fischerdörfer sind auch weg, die letzten paar waren gerade am Verrecken, als ich da war.«