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»Dann hoffen wir mal, dass die Fische weiterhin brav bei dir vorbeischwimmen«, meinte Varg, »weißt du schon, wann du wieder weiter willst?«
»Willst mich schon wieder loswerden, damit du in Ruhe saufen kannst, was?«, stichelte der alte Jarl.
»Das klingt natürlich verlockend«, gab Varg unbeeindruckt zurück, »aber ich dachte eher daran, dass hier bald der ungastlichste Ort südlich der Eisberge sein wird. Der Winter macht langsam ernst und so wie du jetzt schon lahmst, hätte ich dich längst von deinem Elend erlöst, wenn du ein Pferd wärst.«
»Vielleicht nächste Woche. Hätte nicht gedacht, dass mir die Kälte so zu schaffen macht hier oben. Götterverdammtes Bein. Schauen wir mal, was du hier für ein Problem hast. Oder ob du überhaupt eines hast und deinen Waldhütern nicht nur die gemütliche Atmosphäre hier zu viel geworden ist, so kurz vor dem Winter.«
»Wird schon so sein«, meinte Varg. »Waren nicht die Waldhüter, die zu mir gekommen sind. Die sind erst zu Leoric gegangen und der hat mir dann Bescheid sagen lassen.«
»Leoric? Lebt dieser alte Geier immer noch?«, brummte Stian, »habe ihn gestern gar nicht gesehen. Nicht, dass seine Anwesenheit meinem Wohlbefinden sonderlich zuträglich wäre. Was auch für die nutzlosen Salben gilt, die mir der alte Scharlatan letztes Jahr für mein Knie angemischt hat. Gab einen netten Ausschlag und hat dann nicht nur weh getan, sondern auch noch gejuckt.«
»Er ist jetzt über neunzig und verbringt die meiste Zeit in seinen Räumen im Turm. Er ist gebrechlich, aber nicht senil. Jedenfalls nicht mehr als in den letzten zwanzig Jahren. Wo wir bei Gebrechen sind, hast du mal daran gedacht, bei unserem nächsten Besuch beim König dein Knie von einem Priester anschauen zu lassen?«
»Aber sicher«, meinte Stian grimmig, »und wenn ich schon dabei bin, kann ich der Kirche auch gleich meine Jüngste für ihr beschissenes Noviziat übergeben. Bevor ich die Weißlichter an meine Knochen lasse, hacke ich mir das Bein lieber ab. Hat bei meinem Großvater auch fast zwanzig Jahre lang wunderbar mit einem Holzbein funktioniert. Hat der alte Geier dir nichts gesagt, außer dass du dir etwas anschauen sollst, was die Waldhüter angeschleppt haben?«
»Nay, kein Wort«, erwiderte Varg und nickte der Wache zu, die eine beschlagene Pforte öffnete.
Der Mann trat mit einer halben Verbeugung zur Seite und ließ die beiden Jarle den Durchgang passieren, der zu einem kleinen Nebenhof führte. Der alte Haushofmeister der Festung hatte ihm nur mitgeteilt, dass er sich ein Problem mit dem Wild anschauen solle. Es gab jedoch seit Monaten Gerüchte über verwachsene, missgebildete Tiere, die angeblich ab und an in den Wäldern auftauchten. Nicht nur in der Nähe von Snaergarde, obgleich solche Geschichten in Ulfrskógr, das von dunklen und düsteren Landstrichen beherrscht wurde, immer besser gediehen als anderswo.
Die beiden Jarle schritten hinter dem Tor zum Zentrum des Nebenhofes. Er war von dunkelgrauen Steinmauern eingefasst, die sich mehrere Mannslängen erhoben. Gegenüber der Pforte befand sich der Eingang zum Nordostturm, in dem Leoric seine Gemächer hatte. Eine kleine Gruppe Männer hatte sich in der Mitte des Hofes versammelt. In einer Ecke hinter ihnen sah man die Umrisse einiger großer Körper, die unter Tüchern verborgen waren. Eine Wache und zwei in grobes, ausgeblichenes Leder gekleidete Gestalten blieben zurück. Der Vierte im Bunde kam mit einer Verbeugung auf die Neuankömmlinge zu. »Seid gegrüßt, Mylords«, sagte der hagere Mann, der etwa so alt sein mochte wie der jüngere der beiden Jarle, und schlug sich mit der rechten Faust leicht gegen die linke Brustseite. Varg erwiderte den Gruß mit einem Nicken.
»Lass uns sehen, was deine Leute und meinen Majordomus so sehr beunruhigt, Jorge.« Das Unbehagen der Anwesenden war beinahe greifbar.
Die anderen beiden Waldhüter, welche die gleiche Kluft wie der Forstmeister trugen, kannte der Jarl nicht. Für gewöhnlich ließen sich Burschen, die den Großteil ihres Lebens in den Wäldern verbrachten, nur schwerlich ängstigen. Dafür neigten sie allerdings, ähnlich wie Seeleute, oft zum Aberglauben. Die kleine Gruppe ging zu den am Boden liegenden Körpern hinüber. Dann zog Jorge das Segeltuch vorsichtig zur Seite und bot den Neuankömmlingen einen auf Anhieb unspektakulären Anblick.
Auf dem kalten Pflaster lagen drei Kadaver, zwei Hirschkühe und ein Bock. Letzterer hatte eine Pfeilwunde und sah ansonsten aus wie jedes erlegte Tier. Von den beiden Kühen glich die eine auf den ersten Blick dem Bock. Der Körper der anderen jedoch war mit unzähligen kleinen Wunden überzogen, die aussahen, als habe jemand oder etwas Stücke aus ihrem Fleisch herausgerissen oder gebissen.
Varg ließ sich vor den Kadavern auf ein Knie nieder und schloss kurz die Augen, als ein reißender Schmerz durch seine linke Seite lief. Ein Andenken an den letzten Besuch am Wall, von dem er erst wenige Tage vor dem Eintreffen des Freundes zurückgekehrt war. Keine von den Klabautern zugefügte Wunde, aber eine schmerzhafte Zerrung, die von der Hüfte bis zur Schulter lief. Ein kleiner Preis für das berauschende Gefühl von Vitalität und Kraft, für den so selten erlebten Kampfrausch. In der Schlacht fühlte er sich noch wahrhaft lebendig. Wieder jung im Angesicht des Todes und im Rausch des bevorstehenden Blutvergießens. Die darauf meist folgende Depression war ein höherer Preis, aber auch der musste gezahlt werden. Schmerzen der Art, wie er sie nun empfand, zeigten ihm außerdem, dass dieses zeitweilige Gefühl der Jugend mittlerweile nicht mehr als eine Illusion war.
Der ältere Jarl trat von hinten heran und legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes, als er die am Boden liegenden Körper über ihn hinweg betrachtete.
»Ich habe nie besonders gerne Tiere gejagt, und es mag daher nicht viel heißen, aber diese Verletzungen sind von keinem Raubtier, dass ich kenne«, sagte Varg.
Die Löcher im Fleisch des Kadavers verliefen unregelmäßig über seinen gesamten Leib. Es war unmöglich zu erkennen, ob es einem oder mehreren Angreifern zum Opfer gefallen war. Stian murmelte zustimmend und humpelte zu der anderen Hirschkuh. »Schau dir das Vieh hier mal an«, sagte er, »da kann einem schlecht werden. Ich fange an zu verstehen, warum die beiden dort aussehen, als wären ihnen im Wald Klabauter begegnet.« Er deutete zu den Waldhütern hinüber, die mit blassen Gesichtern in einigen Schritten Entfernung standen.
Varg erhob sich langsam um daraufhin, sehr viel vorsichtiger als zuvor, neben dem zweiten Tier erneut auf ein Knie zu sinken. Es war ebenfalls eine Hirschkuh, und doch glich sie der anderen nur auf den ersten Blick. Je länger er den Körper anschaute, um so unbehaglicher fühlte er sich. Er verspürte deutlich den instinktiven Impuls, vor dem Kadaver zurückzuweichen.
Die Hinterbeine der Kuh waren an den Gelenken deformiert und offenbar gut zwei Handbreit länger, als bei ihrer Art üblich. Im ersten Moment hatte es ausgesehen, als wären die Gelenke beim Transport verdreht worden, doch dem war nicht so. Auf der Stirn, genau in der Mitte, hatte die Hirschkuh eine kleine Ausbuchtung. Es sah aus, als würde unter dem an dieser Stelle lichten Fell ein weiteres Horn herauswachsen wollen. Oder, wie dem Jarl fast augenblicklich in den Sinn kam, eine Geschwulst. Am schlimmsten aber waren die Augen. Zunächst hatte er gedacht, sie wären entzündet, wie das bei Wild eben manchmal vorkam. Wenn so eine Entzündung schwer genug war, konnten die Augen der Tiere regelrecht aus den Höhlen herausquellen. Das war jedoch nicht der Fall, auch wenn die Augen ganz offensichtlich nicht dort waren, wo sie hingehörten. Die Augäpfel selbst sahen normal aus, nur saßen sie gut zwei Finger breit weiter unten im Schädel, als sie es sollten. Es sah aus, als wären die Augenhöhlen ein Stück seitlich am Kopf heruntergerutscht. »Ich habe schon das eine oder andere missgestaltete Tier gesehen«, hörte Varg die Stimme des alten Jarls leise hinter sich, »aber von dem da würde ich nichts essen, und wenn ich am Verhungern wäre. Es ist ja nicht so, dass ihm ein zweites Geweih aus dem Arsch wächst, aber verdammt, diese Augen.«
Varg betrachtete das Tier noch einen Moment mit stetig wachsendem Unbehagen. Dann hob der den Kopf und suchte den Blick von Jorge. Im blassen, hageren Gesicht des Forstmeisters spiegelte sich tiefe Besorgnis. »Haben du oder deine Männer eine Ahnung, welches Tier die andere Hirschkuh angefallen haben könnte? Ist das hier das erste Mal, dass ihr so etwas gefunden habt? Und schließlich, wer beziehungsweise wie viele Leute wissen davon?«
Der Forstmeister schluckte hörbar und räusperte sich, bevor er antwortete. »Mein Lord, die Waldhüter haben seit letztem Herbst immer wieder mal ein Tier gemeldet, das etwas seltsam aussah. In diesen Fällen haben sie es geschossen und im Wald vergraben oder verbrannt.
Ich wollte Euch nicht wegen ein paar Missbildungen belästigen und die Leute auch nicht grundlos beunruhigen. So etwas kommt in manchen Jahren hier oben eben vor. Aber solche Wunden wie bei der zerbissenen Kuh haben wir vorgestern zum ersten Mal gesehen. Deswegen haben wie die Tiere mitgebracht. Meister Leoric war ebenso ratlos wie wir. Er wies uns an, euch zu rufen. Wir haben noch mit niemandem weiter darüber gesprochen.«
Der Mann schluckte erneut, verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und ließ sich dann ebenfalls neben dem verwachsenen Tier in die Knie sinken. »Wenn ihr erlaubt, mein Lord.« Er legte der Hirschkuh den linken Arm um den Kopf und drehte ihn so, dass beide Jarle die Schnauze sehen konnten. Dann griff er dem Tier mit seiner behandschuhten Rechten in das Maul und drückte es auf.
»Blødy Føke, wie mein Großvater gesagt hätte«, hauchte der alte Jarl av Falksten in nachdenklichem Tonfall, »was ist das für eine widernatürliche Scheiße, die sich da in deinen Wäldern herumtreibt?«
»Ich nehme an«, sagte Varg mit belegter Stimme, »die Größe vom Gebiss passt mit den Wunden bei dem anderen Tier?«
Der Forstmeister nickte. »Die Männer haben die eine Kuh geschossen, als sie über der anderen gestanden hat und an ihr fraß. Oder es versucht hat.«
Im ersten Moment hatte der Jarl geglaubt, ein blutverschmiertes Raubtiergebiss im Maul der Kuh zu sehen. Die Zähne waren allerdings so flach und stumpf, wie es bei einem Pflanzenfresser zu erwarten war. Dennoch war das Gebiss mit getrocknetem Blut verschmiert. Zwischen den breiten, plumpen Mahlzähnen hingen vereinzelte Fetzen Gewebe, bei denen es sich um Fleischreste aus dem Körper des zweiten Tieres handeln musste.
»Dann hat die Hirschkuh mit den verrutschten Augen sich wohl gedacht, dass immer nur Grünzeug auf Dauer langweilig ist«, meinte der ältere Jarl, »Die Artgenossen sehen doch auch ganz lecker aus. Was genau machst du noch mal in deinen Wäldern, Varg? Irgendetwas, dass du mir erzählen möchtest?«
Der besorgte Klang seiner Stimme strafte die Unbefangenheit der Worte Lügen. Was auch immer mit diesen Tieren geschah, mochte eine Gefahr für eine der wenigen Nahrungsquellen bedeuten, die Norselund nach dem Grau verblieben waren. Wild spielte kaum mehr eine Rolle bei der Ernährung. Aber Krankheiten konnten ansteckend sein und auf die wertvollen Nutztiere übergreifen.
»Lass uns das später bei einem Stück Hirschbraten besprechen«, gab Varg trocken zurück. Er wandte sich erneut dem Forstmeister zu. »Bringt den Kadaver von der Kuh mit den Missbildungen zum Eingang vom Turm und packt ihn wieder ein. Damit wird sich Meister Leoric noch eingehender beschäftigen. Verbrennt der Rest und vergrabt die Asche.«
Er stand auf und ging einige Schritte zu den beiden Waldhütern und dem Wachmann hinüber.
»Ihr drei, und das gilt auch für dich und jeden anderen, der bislang damit zu tun hatte, Jorge. Ihr werdet über diese Sache Stillschweigen bewahren. Es mag Gerüchte über merkwürdige Tiere im Wald geben, die gibt es vermutlich ohnehin schon länger. Wenn mir aber in den nächsten Wochen zu Ohren kommt, dass sich Raubhirsche in unseren Wäldern herumtreiben, werde ich wissen, wer nicht das Maul halten konnte. Haben das alle verstanden?«
Die Männer murmelten zustimmend, und es hörte sich durchaus aufrichtig an. Die Stimme des Jarls hatte einen metallischen Klang angenommen, der ihnen nur zu vertraut war. »Wenn ihr wieder auf solche Tiere stoßt, seien es missgebildete oder welche mit derartigen Wunden, dann lasst sie im Wald. Verbrennt sie wenn möglich und vergrabt die Asche. Wenn Feuer keine Option ist, dann vergrabt die Kadaver, aber macht es tief und ordentlich. Ich will von diesem Zeug nichts mehr hier haben, aber meldet sie Jorge, und nur ihm. Jeden einzelnen Fall. Es ist wichtig, dass ich mir ein Bild davon machen kann, wie oft das passiert. Und nach Möglichkeit auch wo. Jorge, du sammelst diese Meldungen und erstattest mir einmal die Woche Bericht, verstanden?«
Der Forstmeister nickte stumm.
»Gut, dann räumt hier auf. Stian kommst du mit zu Leoric? Die Treppe ist ein wenig steil, du weißt schon«, er deutete vage in Richtung des Beines seines Freundes.
Der nickte nur und machte eine wegwerfende Geste. Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Turmes, in dem der alte Haushofmeister lebte. Die Männer begannen stumm damit, die Kadaver der Tiere wegzuschaffen.
»Bald kannst du dir statt Hunden Wachhirsche halten, das hat sicher kein anderes Haus im Königreich zu bieten. Wird vielleicht endlich mal ein neuer Exportartikel. Eine Alternative zu den langweiligen Eisenbarren«, bemerkte Stian, während er auf den Stock gestützt neben dem Burgherrn zum Eingang des Turmes ging. Dieser warf einen kurzen Seitenblick auf den Freund und sah, dass er trotz seiner Worte blasser war als sonst. Die zahllosen Falten in dem alten, harten Gesicht schienen noch einen Millimeter tiefer geworden zu sein.
»Wenn uns das Wild verreckt«, meinte Varg leise, »oder sich gegenseitig auffrisst, wird die Nahrungsversorgung mancherorts vielleicht ein bisschen dünner. Das würde kein großes Problem darstellen. Darüber, dass dieses Zeug für die Nutztiere ansteckend sein könnte, möchte ich allerdings lieber nicht weiter nachdenken.«
»In der Tat«, stimmte Stian abwesendem Ton zu, »ich weiß noch, wie es sich anfühlt, wenn der Hungertod mehr ist, als nur ein Schreckgespenst. In meiner Kindheit war der Hunger der Schnitter, der fleißig sein Tageswerk um uns herum verrichtet hat. Ich war natürlich als Familienmitglied des Jarls besser versorgt als die armen Schweine da draußen, aber auch ich weiß noch recht gut, wie lecker wässriger Getreidebrei im Gegensatz zu Luft sein kann. Ich war heilfroh, als sich die Lage damals langsam normalisiert hat. In meinen späten Jugendjahren hatte ich jedenfalls wieder jeden Tag etwas zu essen und es ist nicht jede Woche jemand verreckt, den ich kannte.«
Als sie die schwere Eisenholztür des Turmes erreichten, ergriff Varg mit der behandschuhten Rechten den mit Holz verkleideten eisernen Bügel und drückte dagegen. Fast geräuschlos schwang der beschlagene Türflügel auf und gab den Blick in einen kleinen, dunklen Vorraum frei. Eine schmal gewundene Treppe führte steil nach oben.
Stian seufzte beim Anblick der zahlreichen, flachen Stufen.
»Ein alter Krüppel hinauf oder ein steinalter Tattergreis hinab, einen muss es treffen. Diesmal ist die Reihe wohl an dem alten Krüppel.«
»Wenn du das nächste Mal da bist, habe ich sicher schon ein paar von den Wachhirschen darauf abgerichtet, meine ältlichen Freunde durch die Gegend zu tragen«, meinte Varg. »Komm schon, jeder Heiler hat dir bis jetzt gesagt, dass Bewegung deine Beschwerden lindern wird. Wir gehen ja langsam.«
Der andere seufzte erneut und sie begannen den Aufstieg.
Leoric Holstodden war einer der letzten noch lebenden Magier, die den Krieg zwischen Norselund und dem Königreich vor achtzig Jahren miterlebt hatten. Die Hochzeit der Magie war schon seit Jahrhunderten vorbei. In den alten Tagen hatte jede Mark des Reiches über ihre eigene Magiergilde verfügt.
Schon bei der Reichsgründung vor über achthundert Jahren hatten die Verheerungen, welche die Kampfmagier anrichteten, die Saat der Angst und des Misstrauens in den Herzen der Menschen gesät. Nach der Zerschlagung der Gilden und der Verfolgung durch Kirche und Inquisition unter der Herrschaft von Gregor dem Erleuchteten war die Insel schließlich zur letzten Zuflucht für magisch Begabte geworden. Bei dem Krieg vor achtzig Jahren standen sie dann auch fast ausnahmslos hinter den Jarlen. Als die norselunder Armee die Invasionsstreitkräfte des Königs an der Küste aufzuhalten versuchte, fanden sie bis auf wenige Ausnahmen den Tod.
Leoric war bei dieser mehrere Tage dauernden Schlacht dabei gewesen. Ein junger Bursche noch, doch nach nur wenigen Jahren der Ausbildung wusste er schon damals, dass es um sein magisches Talent nicht sonderlich gut bestellt war. Als sich der Schlachtenlärm gelegt hatte, hatte er zu einer Handvoll überlebender Magier gehört. Ein Stümper wie er war in schweren Kampfhandlungen nutzlos. So war er im Chaos der Schlacht am Leben geblieben, ohne wirklich zu wissen, wie ihm geschah. Jeder Nachteil vermochte einem unter den richtigen Umständen zum Vorteil gereichen. Er stand seit fast sechzig Jahren im Dienste derer av Ulfrskógr und hatte das letzte halbe Jahrhundert zurückgezogen auf Snaergarde verbracht.
Er hatte immer Freude an der Alchemie gefunden, und hierauf beschränkte sich auch seine magische Tätigkeit. Jetzt siebenundneunzig Jahre alt, kümmerte er sich schon eine ganze Weile kaum noch um die Belange, die einem Haushofmeister eigentlich zukamen. Er pflegte die nach all der Zeit gar nicht mehr so kleine Bibliothek, braute die eine oder andere magisch verstärkte Medizin, und erfreute sich ansonsten, so gut es eben ging, seines hohen Alters.
Der Greis saß an dem Esstisch der Wohnstube, die zugleich den Flur zu den anderen Gemächern bildete. Von hier aus führten Türen zum Schlafgemach, dem Labor und zu einem Raum ein Stockwerk höher, seiner Bibliothek. Er hörte die Schritte auf der Treppe vor der Eingangstür und erhob sich langsam. Sein Gehör war der Sinn, der ihm am besten erhalten geblieben war.
Es war ihm weniger gut gelungen das Alter aufzuhalten, als es ein fähigerer Magier vermocht hätte, aber er war recht zufrieden. Ein paar Jahre würden ihm noch in einem lebenswerten Zustand bleiben, und er hatte die Schmerzen der alten Gelenke mit Hilfe der Tränke gut im Griff. Er erreichte die Eingangstür beinahe in dem Moment, als sie sich nach einem kurzen Klopfen langsam öffnete.
»Ah, mein Lord, ihr habt euch die Tiere angesehen, nehme ich an. Kommt doch herein, wenn ich auch fürchte, wenig Wissenswertes beisteuern zu können«, sagte er, wahrend die beiden Besucher eintraten, und fügte mit einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des älteren Jarls hinzu: »Lord av Falksten.«
Sie gingen hinüber zu dem Esstisch, wo sich der Greis erst an den Tisch lehnte, dann aber auf einen Wink von Varg behutsam wieder setzte. Stian, der nach dem Aufstieg der vielen Stufen kaum schneller ging als der Haushofmeister, ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken. Varg blieb vor den beiden älteren Männern stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Was kannst du mir dazu sagen?«, wollte er von Leoric wissen, »wie weit hast du die Tiere bislang untersucht? Ich habe dir die missgebildete Kuh aufgehoben, die anderen werden entsorgt.«
»Ich habe sie mir nur oberflächlich angeschaut«, gab der Greis zurück, »als ich sah, was offenbar passiert ist, habe ich angewiesen, dass ihr die Sache persönlich in Augenschein nehmt, bevor ich etwas daran verändere. Es ist, wie ich finde, ein wenig schwer zu glauben, wenn es man es nicht selbst gesehen hat. Ganz gleich, von wem es einem berichtet wird.
Leider kann ich dazu nur sagen, dass ich so etwas noch nie beobachtet oder davon gehört habe. Die Natur hat sich nach dem Grau verändert, und sie tut es noch, aber das dort draußen macht einfach keinen Sinn. Dass ein Tier vom Pflanzenfresser zum Fleischfresser wird, dazu noch zum Kannibalen, ist einfach widernatürlich.«
»Zumal dafür keine Notwendigkeit besteht«, stimmte der Jarl zu, »die Tiere haben in den Wäldern so viel Platz und Futter, das es keinen Bedarf für eine neue Nahrungsquelle gibt. Geschweige denn dafür, die eigene Art anzugreifen. Aber wie dem auch sei, dein Tier liegt vor der Tür, Leoric. Ich will, dass du es auseinandernimmst und alles in Erfahrung bringst, was du kannst. Schneid es auseinander, koch es aus, löse es in deiner Giftküche auf und verfüttere es an Ratten und schau, was passiert. Aber finde heraus, was mit dem Wild nicht stimmt. Wie die Missbildungen zustande kommen, und wie einige von ihnen so aggressiv werden konnten. Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr wir auf jede unserer bescheidenen Nahrungsquellen angewiesen sind.«
»Ich bin mir des Ernstes dieser Angelegenheit durchaus bewusst, mein Lord. Ich werde natürlich mein Möglichstes tun. Was habt ihr den Männern gesagt? Es wäre vielleicht besser, wenn sie die Sache vorerst nicht hinausposaunen würden. Der Winter wird bald über uns kommen«, er verstummte, als der Jarl die Hand hob.
»So lange wie irgend möglich wird niemand etwas davon erfahren. Wenn dich jemand fragt, was du mit dem Kadaver machst, sag ihm einen Gruß von seinem Jarl und er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Tu, was in deiner Macht steht und fang heute damit an. Jede Kleinigkeit an Information ist willkommen, im Moment habe ich nichts und kann dementsprechend auch nichts unternehmen. Wenn die Waldhüter weitere Fälle wie diesen zu Gesicht bekommen, werde ich davon erfahren.«
Leoric senkte den Kopf, »natürlich, mein Lord. Ich werde dafür sorgen, dass ihr umgehend benachrichtigt werdet, wenn ich etwas finde, das von Interesse sein könnte.«
»Das heißt dann wohl«, brummte Stian, »das ich nach den paar Minuten diese beschissene Treppe wieder herunter humpeln kann.«
»Dein Scharfsinn wird nur von deiner Leidensfähigkeit übertroffen«, gab Varg zurück. »Wenn wir unten sind, bekommst du einen Bierschlauch ganz für dich allein. Und ein warmes Feuer wartet auf deine alten verdrehten Knochen.«
»Na, wenn das keine lohnende Aussicht ist. Eine Einladung zum Bier ist ja bei dir gleichbedeutend mit Speise und Trank in einem. Aber immer noch besser als dein Wildbret dieser Tage.«
Auf dem Weg nach unten fluchte Stian vor Schmerzen leise in sich hinein. Sein Knie fühlte sich an, als hätte man ihm zerstoßenes Glas zwischen das Gelenk geschüttet. »In drei Tagen reise ich ab«, sagte er keuchend, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten und den Turm verließen. »Wenn ich dein schönes Jarltum vor dem Wintereinbruch hinter mich bringe, kann ich im Oktober mal schauen, was mein Schwiegersohn und meine Tochter für die kalten Monate vorhaben. Außerdem werde ich mir ein Bild machen, wie Tiere im Süden so aussehen, besonders das Wild.«
Der jüngere Jarl nickte.
»Ich glaube ja, dass du nur Angst vor meinen Wachhirschen bekommen hast. Aber es kann sicher nicht schaden, wenn wir in allen Jarltümern die Augen offen halten. Was immer hier passiert, mag ebenso gut anderswo im Gange sein. Dann lass uns Essen und Trinken und die nächsten Tage genießen. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.«
»Aye. Hoffen wir, dass dich dein Wild nicht gefressen hat, wenn ich im Frühjahr wiederkomme. Wie ich dich kenne, wirst du dich ja wie üblich nicht dazu bewegen lassen, deine Höhle hier mal für eine Weile zu verlassen und die Südländer besuchen zu kommen.«
»Du weißt doch, wie das ist«, meinte Varg, »Die Minen, die Schmieden, das Eisen. Jemand muss alles am Laufen halten. Außerdem muss ich mich um die Ausbildung meiner Rabengarde kümmern.«
Er lächelte, als der andere grunzend abwinkte. Was er gesagt hatte, entsprach den Tatsachen, aber beide wussten, dass er einfach gerne hier war und kein Verlangen verspürte, seine Heimstatt zu verlassen. Er hätte sicher für eine gewisse Zeit weg gekonnt, gerade im Winter. Für eine Weile war Sigvar Rothborg, einer seiner engsten Vertrauten, durchaus in der Lage, ihn zu vertreten. Der zweitälteste Sohn eines Thane aus dem Westen des Jarltums war vor fünfzehn Jahren als Anwärter für die Rabengarde nach Snaergarde gekommen. Inzwischen war er deren Hauptmann. Darüber hinaus hatte der Jarl den ebenso stillen wie intelligenten und kompromisslosen Mann zu einer Art Stellvertreter aufgebaut. Heute war der Dreißigjährige einer seiner wertvollsten Gefolgsmänner. Er kannte jeden Winkel des Jarltums und wusste über alle Abläufe Bescheid, die für die Minen, die Eisenverarbeitung und die Festung selbst von Bedeutung waren.