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„In ihren Bereich gehören die Viersinnigen, die sittlich Verwahrlosten, die Blöd- und Schwachsinnigen, die Cretinen, die Stotterer, die körperlich gebrechlichen Kinder; Letztere, so weit dadurch die geistige Entwicklung gehemmt wird. Im weitesten Sinn wird alle Pädagogik zur Heilpädagogik, sobald es gilt, falsch ausgebildeten Willens- und Gemüthsrichtungen im Kinde entgegenzutreten.“ (Stötzner 1868, 2)
Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik war bislang primär eine Geschichte der jeweiligen sonderpädagogischen Disziplinen und das von Svetluse Solarová 1983 herausgegebene Werk „Geschichte der Sonderpädagogik“ spiegelt genau dieses Vorgehen wider, indem es jeweils einzelne Abhandlungen zu den jeweiligen sonderpädagogischen Fachrichtungen aufweist.
Die von Andreas Möckel 1988 vorgelegte und 2007 überarbeitete „Geschichte der Heilpädagogik“ repräsentiert die erste übergreifende Darstellung des Gegenstandes Heilpädagogik. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert, denn er postuliert, dass „die Ursprünge der Heilpädagogik [uns] pädagogische Ursprünge [sind]“ (Möckel 2007, 23f). Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung „der ersten, bahnbrechenden Institutionen“ (Möckel 2007, 26) für Schüler mit Behinderung lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der Allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem.
Universalität von Bildung
Unser Blick auf die Geschichte der Sonderpädagogik möchte einen anderen Weg einschlagen, indem er die Blickrichtung wechselt. Ausgangspunkt unserer Darstellung soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle.
Ambivalenzen moderner Pädagogik
Die Pädagogik der Moderne (vgl. Herrmann 2005; Tenorth 2006a) ist gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, die sich am zentralen Begriff der Bildsamkeit aufzeigen lassen. Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik „zur Bezeichnung der Erziehbarkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen“ (Benner/Brüggen 2004, 174) schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch Menschen mit einer Behinderung, sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin liegt zugleich ihr paradoxaler Charakter – führt diese Idee der Bildsamkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen.
„In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006a, 498)
In ähnlicher Weise, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, schrieb U. Bleidick 1978:
„Die Idee der Allgemeinen Pädagogik stammt von Herbart. Er hat ihr im Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings […] das begriffliche Fundament gewiesen. Wenn nun Pädagogik über diese allgemeinen Aussagen hinausgeht, nach den einzelnen speziellen Inhalten der Bildung in den sprachlichen, religiösen, technischen Disziplinen, nach ihren institutionellen Formen in Familie, Schule, Kirche und Staat, nach Erziehungsformen, Bedingungen der Bildsamkeit usw. fragt, fächert sie sich in eine differenzielle Pädagogik besonderer Bereiche auf.“ (Bleidick 1978, 52f) Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung
Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung
Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist – und das sei hier besonders betont – konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert. Die vorliegende Einführung in das pädagogische Spezialgebiet Sonderpädagogik unternimmt demzufolge den Versuch, die Idee der Bildsamkeit im Hinblick auf den Personenkreis behinderter Kinder und Jugendlicher unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität zu untersuchen. Dabei ist das Ziel, sowohl die Idee selbst in ihrer Variabilität als auch die Referenzräume von Methoden, Institutionen und Profession zu analysieren.
historische Grundfragen
Es sind die in Tabelle 1.1 aufgeführten Grundfragen, die wie ein roter Faden die einzelnen Kapitel durchlaufen, aber in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zum Tragen kommen werden. Ich wähle also als Ausgangspunkt meiner Darstellung nicht die besonderen Problemlagen oder Institutionen, sondern orientiere mich in der historischen Frage nach einer Pädagogik behinderter Kinder und Jugendlicher an der für jede Pädagogik zentralen Kategorie der Bildsamkeit. Damit erteile ich allen Versuchen eine Absage, Fragestellungen und Antworten einer Geschichte der Heil- bzw. Sonderpädagogik ermitteln zu wollen, die nur für die Heil- bzw. Sonderpädagogik gelten.
Tab 1.1: Historische Grundfragen
− Warum werden behinderte Kinder und Jugendliche gebildet und erzogen? Die Frage nach den Ideen. − Wer ist gemeint? Die Frage nach dem Personenkreis. − Wie sollen Bildung und Erziehung geschehen? Die Frage nach den Methoden. − Wo soll es geschehen? Die Frage nach den Institutionen. − Wer soll das leisten? Die Frage nach der Profession. − Wie artikulieren sich die Subjekte? Die Frage nach der Selbstvertretung behinderter Menschen.Differenz und Differenzierung
Ungeachtet des verbindlichen, universalen, gemeinsamen Bezugspunktes von Bildsamkeit geht es in der Sonderpädagogik mit Blick auf Partikularität allerdings sehr wohl um Differenz und Differenzierungsprozesse. Die bereits bei Arno Fuchs 1928 anzutreffende Unterscheidung in ältere und jüngere Sonderschulen, die sich bei Andreas Möckel in seiner Geschichte der Heilpädagogik (1988; 2007) wiederfindet, ist ein bedeutsamer Hinweis auf das Phänomen der Differenzierung bzw. Ausdifferenzierung, das auch von U. Hofer als zentral herausgestellt wurde. Sie schreibt: „Die historische Konsolidierung des Fachgebiets Sonderpädagogik zeigt sich als Akt zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Bemühungen um menschliche Bildbarkeit“ (Hofer 2004, 887). Dabei wird das Phänomen der Differenzierung nicht nur auf die Institutionen bezogen, sondern auch untersucht im Hinblick auf Methode, Anthropologie, Klassifikation, Bildungsziele und Normen.
Der Fokus auf die Differenz offenbart erneut das ambivalente Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Pädagogik. Die in der Disziplin der modernen Pädagogik selbst zu verortenden Tendenzen von Universalität und Partikularität, von Inklusion und Exklusion, von Gleichheit und Differenz haben in verschiedenen Epochen zu unterschiedlichen Resultaten geführt; ihre exemplarische Darstellung soll uns im Folgenden beschäftigen, eingedenk der Erkenntnis von Kontingenz, nämlich, „es hätte auch anders kommen können“ (Bleidick 2001, 11).
Bedeutsamkeit für Gegenwart
Gemäß dem geschilderten Verständnis von Geschichte kann die vorliegende Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik nicht den Versuch unternehmen, ein möglichst vollständiges Bild einer mehr als 250-jährigen Entwicklung nachzeichnen zu wollen. Das Ziel ist ein sehr viel bescheideneres, nämlich anhand spezifischer Fragestellungen und in exemplarischer Weise unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart die Historie im Hinblick auf Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher zu befragen.
Die Entscheidung für das Exemplarische ist notgedrungen subjektiv, aber nicht beliebig. Die Auswahl orientiert sich an der Frage, welchem Wandel die Idee der Bildsamkeit im Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten unterlag und welche Wirkungen und Folgen sich hinsichtlich der erwähnten Fragestellungen ergaben. Die Verpflichtung zur informierenden Orientierung verlangt, dass der gesamte Zeitraum präsent ist – unter dem Gesichtspunkt der erkenntnisleitenden Fragestellung muss es jedoch zu Schwerpunktsetzungen kommen. So wird der Darstellung der Entwicklung des ersten Jahrhunderts (bis ca. 1860) relativ viel Raum gewährt, da in ihr die entscheidenden Grundlagen für die Entfaltung und Wirksamkeit des Bildungsbegriffs für Menschen mit Behinderung gelegt sind, während hingegen das Dritte Reich, das eher eine Pervertierung dieses Gedankens verkörpert, in der Logik dieser Einführung keine dominante Stellung erhält.
Periodisierung
Da diese Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik auch ein Verständnis für das historische Gewachsensein gegenwärtiger Phänomene anbahnen möchte, muss die Darstellung nach meinem Verständnis der zeitlichen Chronologie folgen, womit sich die Frage nach der Periodisierung geschichtlicher Abläufe stellt. Ein Blick in historische Standardwerke, wie etwa das „Handbuch der deutschen Geschichte“ von B. Gebhardt in vier Bänden (1954ff) oder aber die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von H.-U. Wehler, ebenfalls in vier Bänden (1989ff), zeigt keine Übereinstimmung in der Festlegung der Perioden, was schließlich auch für das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ in sechs Bänden von Berg und Mitautoren (1987ff) sowie die „Geschichte der Erziehung“ von H.-E. Tenorth (20084) zutrifft. Diese unterschiedliche Akzentuierung bei der Festlegung von Perioden offenbart nur einmal mehr, dass es die Geschichte nicht gibt, dass jede Darstellung historischer Phänomene durch Standortgebundenheit mitbestimmt wird.
Die sich anschließenden sieben Kapitel folgen der Entwicklung von den Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zu einer Analyse gegenwärtiger Tendenzen wobei nicht nur die „Einheit“ der Pädagogik den Blick lenkt, sondern, in aller Begrenztheit, auch die Rückbindung an Politik- und Gesellschaftsgeschichte sowie das Interesse für Entwicklungen des Auslandes.
Quellenstudium
Eine Einführung in historisches Denken ist schließlich nicht möglich ohne die Begegnung mit dem Original, also der Quelle. Auch dies kann hier nur ansatzweise erfolgen, denn wir müssen auf einen umfänglichen Abdruck von Originaltexten sowie eine eingehende Erörterung von Quelleninterpretation und Quellenkritik verzichten. Aber die Verwendung von Auszügen ursprünglicher Texte soll die Erkenntnis vermitteln, dass die Darstellung vergangener Phänomene, und das sei hier wiederholt, immer bereits Interpretation ist, dass also der Unterschied von „Quelle“ und „Darstellung“, so Hans-Jürgen Pandel, auf einer „fundamentalen erkenntnistheoretischen Differenz“ beruht:
„Geschichte […] ist narratives Wissen, das sich jede Generation immer wieder neu erarbeiten muß, da die Gegenwart sich ständig verändert […] Jede Gegenwart läßt neue Fragen an die Vergangenheit entstehen. Insofern gibt es auch neue Antworten, und selbst die bekannten Quellen geben auf neue Fragen neue Antworten […] Im Gegensatz zu den Quellen ist historisches Wissen immer gegenwärtiges Wissen.“ (2003, 8f)
Dem Reiz, auch unveröffentlichte Quellen abzudrucken, konnte ich nicht widerstehen; im Interesse von leichterer Zugänglichkeit und Nachprüfbarkeit schien es mir allerdings geboten, den Schwerpunkt auf veröffentlichte Quellen zu legen.
Forschungs- desiderata
Mir ist sehr wohl bewusst, dass eine Geschichte der Sonderpädagogik ein kühnes Unternehmen ist, das viele Fallstricke bereithält, denn der Stand der historischen Forschung ist nicht so, dass man mit Gelassenheit auf breite gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen könnte. Groß sind nach wie vor die Lücken des historischen Wissens, und vieles liegt eher schemenhaft an der Oberfläche, ohne gründlich erforscht zu sein. Mangel herrscht an regionalgeschichtlichen Studien sowie an Darstellungen, die sich auf bestimmte Zeitepochen konzentrieren, aber auch die Ansätze einer ideen-, institutions-, historisch-vergleichenden und alltagsgeschichtlichen Herangehensweise verlangen eine stärkere Beachtung in der sonderpädagogischen Historiografie. Die Not der Auswahl erfordert schließlich einen Mut zur Lücke, den jeder aufbringen muss, der das Wagnis einer Einführung auf sich nimmt. Der kluge und historisch bewanderte Leser wird vieles vermissen; diesem Mangel versuche ich durch ausführliche Literaturhinweise ein Stück weit zu begegnen.
Ein letzter Hinweis gilt der Terminologie. In der Regel benutze ich die historischen Begriffe, die uns heute häufig fremd und befremdlich erscheinen, aber als zeitgebunden, meist nicht wertende pejorative Termini zu verstehen sind. Heil-, Sonder-, Behinderten- und Rehabilitationspädagogik werden schließlich als synonyme Begriffe verwendet. Bei der Benutzung gegenwärtiger Begriffe habe ich mich auch von sprachästhetischen Überlegungen leiten lassen, so dass etwa der Terminus „Behinderung“ sowohl in adjektivischer als auch substantivischer Form Verwendung findet.
Geschichte ist immer auch Erzählung und lebt von der Erzählung, sie ist ohne Narration nicht vorstellbar. Ich möchte somit im Folgenden von der mehr als 250-jährigen Geschichte der pädagogischen Anstrengungen um Bildung und Erziehung behinderter und beeinträchtigter junger Menschen erzählen, von dem Entstehen einer Heil- und Sonderpädagogik, ihren Glanzlichtern und Triumphen, aber auch ihren Schatten und Niederlagen.
2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert
„Menschlichkeit (Moral)
Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte die ganze Welt durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen […] Es macht ihr Freude, die Wohltätigkeit auf alle Wesen auszudehnen, die die Natur neben uns gestellt hat. Ich habe diese Tugend […] zwar in vielen Köpfen bemerkt, aber nur in wenigen Herzen.“
(Diderot/d’Alembert 1765)
2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen
Johann Amos Comenius
„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften […] Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte […]“ (Comenius 1985, 55f u. 194)
Aufklärung
Allen, die als Menschen geboren werden, also auch jene mit einer Behinderung, das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) von Comenius allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen, Pläne und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren.
Dieser Impetus, Bildungsanstrengungen für die im ökonomischen Sinne armen und behinderten Menschen zu unternehmen, ist besonders hervorzuheben, denn in den höheren Gesellschaftsschichten hatte es zu allen Zeiten pädagogische Anstrengungen für Personen mit Sinnes- und Körperbehinderung gegeben. Nach Jürgen Oelkers war „die Verschulung der ‚unteren Stände‘ der ‚Testfall‘ der pädagogischen Aufklärung“ (Benner/Oelkers 2004, 102). Die von ihm herausgestellten drei wesentlichen Innovationen der Aufklärung, nämlich das experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften, das Konzept der öffentlichen Bildung sowie die sensualistische Lerntheorie, waren notwendige Bedingungen für die ersten planvollen Erziehungsversuche für junge Menschen mit einer Behinderung.
Menschen mit Behinderung im Altertum
Doch zunächst sei daran erinnert, dass es bereits im Altertum gebildete Menschen mit einer Behinderung gab. Das blinde Mädchen von Brauron etwa gehörte zum Kreis gehobener Töchter Athens, deren Mädchenbildung im Rahmen des Artemiskultes erfolgte und das „nicht nur in den Kreis der sehenden Mädchen integriert, sondern […] wahrscheinlich sogar eine herausgehobene Position“ innehatte (Hoof 1990, 270). Auch in anderen Kulturkreisen gab es frühe Bildungsbemühungen um Menschen mit Blindheit, die meist handwerklicher Natur waren. So berichtet Wanecek (1969, 28f) von Zusammenschlüssen blinder Musiker und Masseure in Japan und China, die ihren Nachwuchs selbst heranbildeten, und Grosse (1993) erwähnt die Aufmerksamkeit, die in der Kultur der Sumerer einzelnen behinderten Menschen entgegengebracht wurde. Für das frühe Christentum wird von dem gelehrten Blinden Didymus (313–398 n. Chr.), ägyptischer Herkunft, erzählt, der ein aus Holz angefertigtes Alphabet benutzte, mit Hilfe des Tastsinns das griechische Alphabet erlernte und es bis zum Leiter der theologischen Hochschule von Alexandria brachte (Azer 1990). Und auch für das häufig als finster bezeichnete Mittelalter kann nicht pauschal von Ablehnung und Ausschluss von Menschen mit Behinderung die Rede sein:
„Von den verschiedenen Arten der Darstellung Gehörloser im Mittelalter her […] scheint es, daß die Gehörlosen trotz ihrer Andersartigkeit im Mittelalter weniger benachteiligt waren als andere Behinderte.“ (de Saint-Loup 1993, 447)
„Wolfskinder“
Selbst verwahrlosten, wilden, geistig zurückgebliebenen „Wolfskindern“, die, einmal aufgegriffen, die Menschen des Mittelalters vor große Rätsel hinsichtlich ihrer Wesenshaftigkeit stellten, wurde keinesfalls pauschal die Fähigkeit zur Entwicklung abgesprochen. Am Beispiel des bislang ältesten Berichtes über ein Wolfskind aus dem 14. Jahrhundert, dem hessischen Wolfsjungen, lesen wir als Fazit einer gründlichen Quellenanalyse folgendes Urteil:
„Es wird deutlich, daß der Junge – so befremdlich er auch gewirkt haben mag – für seine Zeitgenossen nur eine relative Gefahr dargestellt haben kann, denn sonst hätte man sich nicht um ihn gekümmert, ihn ernährt, ihm den aufrechten Gang beizubringen versucht und ihm eine Sprachfähigkeit zugeschrieben. Der Wolfsjunge konnte ohne ‚Verdammung‘ das bleiben, was er war: ein Kind, das Hilfe brauchte. Wahrscheinlich geschah dies nicht zuletzt deshalb, weil man in dem Kind eher ein Kuriosum und ein menschliches Wesen, aber kein Teufelswerk sah, weil man weniger eine schaurige Geschichte erzählen wollte, sondern vielmehr einen Hinweis geben auf die […] Lernfähigkeit der Kinder.“ (Saathoff 2001, 104f)

Abb. 2.1: Altägyptisches Grabrelief
Angehörige der Oberschicht mit Behinderung
Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang schließlich die nachgewiesenen Bildungsanstrengungen für hochgradig Hörgeschädigte aus den höheren Gesellschaftsschichten, die bereits im 16. Jahrhundert in Spanien durch den Benediktinermönch Pedro Ponce de Leon (1510–1584) unternommen wurden und die Nachahmer sowohl in England und den Niederlanden als auch in Frankreich und Deutschland fanden. Nach Löwe (1992, 25ff) liegt in diesen ersten planmäßigen Unterrichtsversuchen der Beginn der Beschulung hörgeschädigter Kinder, denn im Unterschied zu früheren Zeiten, wo es sich in der Regel nur um den Unterricht einzelner, meist erwachsener Personen handelte, wandten sich diese Lehrer nun bewusst Kindern und Jugendlichen zu, die sie zunehmend in kleinen Gruppen zusammenfassten.
europäische Aufklärung
Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten immer wieder Bildungsbemühungen um Menschen mit Behinderung gegeben hat, so kann von einem planvollen Beginn jedoch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rede sein. Die „Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter“ (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998) war möglich geworden, weil mit den Ideen der europäischen Aufklärung das allgemeine Bildungsrecht für jeden und damit auch für den behinderten Menschen proklamiert wurde. Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat Aufklärung wie folgt definiert:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Herrmann 2005, 99)
pädagogisches Jahrhundert
Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen wollen, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; 2005; Tenorth 2008).
John Locke
Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke (1632–1704), der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung.
Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (Hofer-Sieber 2000).
„Brief über die Blinden“
Diderots „Brief über die Blinden“ von 1749 gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber behinderten Menschen (Möckel 2006). Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für Kompensationsleistungen durch andere Sinne, wie etwa den Tastsinn als „Vikariatssinn“ interessierte, bescheinigte er auch den in ihren Sinnen eingeschränkten Personen prinzipielle Bildungsfähigkeit. Folglich existierte nach Auffassung der Sensualisten kein grundlegender anthropologischer Unterschied mehr zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Damit bestand die Aufforderung an findige Pädagogen, Methoden und Hilfsmittel zu erdenken, durch deren Einsatz bei der Beanspruchung der „Stellvertretersinne“ das Bildungspotenzial behinderter Menschen zur Entfaltung zu bringen war.
Diderot thematisierte in seinem Brief bereits konkrete Fragen der Unterrichtung blinder Menschen wie die Gestaltung unterschiedlicher Unterrichtsfächer oder den Einsatz von Hilfsmitteln und gab damit unschätzbare Anregungen für die sich entwickelnde pädagogische Praxis der Bildung von Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Auch die Gruppe der „Taubstummen“ erfuhr durch Diderot eine ungeahnte Aufwertung, da Sprache und Verstand von ihm nicht mehr als unaufhebbare Einheit betrachtet wurden und damit Taubstumme nicht mehr, wie so häufig, als geistlose Wesen und nicht zur Kategorie des Menschen gehörend, betrachtet wurden. Diderot sah vielmehr in der Gebärdensprache eine natürliche und aussagekräftige menschliche Sprache. Deren besondere Wertschätzung schlug sich auch in seinem literarischen Werk „Rameaus Neffe“ nieder.






