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Abb. 2.2: Diderots Brief über die Blinden“
Diese neue Sicht auf eine Behinderung findet sich in Diderots „Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden“, in dem uns ein Blinder aus dem Provinzstädtchen Puiseaux vorgestellt wird, der nicht nur über erstaunliche Fähigkeiten verfügt, sondern recht selbstbewusst sein tägliches Leben meistert:
„Das ist ein Mann, dem es nicht an gesundem Verstand fehlt, den viele Leute kennen, der etwas von Chemie versteht und der mit einigem Erfolg die Vorträge über Botanik im Jardin du Roi gehört hat. Er stammt von einem Vater, der an der Pariser Universität unter Beifall Philosophie gelehrt hat. Er besaß ein ansehnliches Vermögen, mit dem er die Sinne, die er noch hatte, leicht hätte befriedigen können; doch überwältigte ihn in der Jugend die Vergnügungssucht. Man mißbrauchte seine Neigungen, seine häuslichen Angelegenheiten gerieten in Unordnung, und so zog er sich in eine kleine Provinzstadt zurück, von der er nun jedes Jahr eine Reise nach Paris macht. Er vertreibt dort Liköre, die er selber destilliert und mit denen man sehr zufrieden ist […]
Wir trafen gegen fünf Uhr abends bei unserem Blinden ein und fanden ihn damit beschäftigt, mit Hilfe erhabener Buchstaben seinen Sohn das Lesen zu lehren. Er war erst vor einer Stunde aufgestanden; denn Sie müssen wissen, daß der Tag für ihn anfängt, wenn er für uns aufhört. Er pflegt seine häuslichen Angelegenheiten zu erledigen und zu arbeiten, während die anderen ruhen. Um Mitternacht stört ihn nichts und fällt er niemandem zur Last. Seine erste Sorge ist, alles aufzuräumen, was man im Lauf des Tages von seinem Platz entfernt hat; und wenn seine Frau erwacht, findet sie gewöhnlich das Haus in Ordnung […]
Wir sahen ihn sehr feine Nadeln einfädeln. Darf man Sie bitten, Madame, hier Ihre Lektüre zu unterbrechen und zu erproben, wie Sie an seiner Stelle damit zurechtkommen würden? Falls Sie keinen Ausweg finden, will ich Ihnen den unseres Blinden verraten. Er hält das Öhr der Nadel quer zwischen seinen Lippen, und zwar in der Richtung, die sein Mund hat; dann saugt er mit Hilfe seiner Zunge den Faden an, der seinem Atem folgt, vorausgesetzt, daß der Faden nicht zu dick für das Öhr ist. Aber in diesem Fall kommt der Sehende kaum weniger in Verlegenheit als derjenige, der des Gesichtssinns beraubt ist.
Er hat ein überaus gutes Gedächtnis für Töne, und uns zeigen die Gesichter keine größere Verschiedenheit, als er in den Stimmen bemerkt. Sie haben für ihn unendlich viele feine Nuancen, die uns entgehen, weil wir nicht das gleiche Interesse an ihrer Beobachtung haben wie der Blinde …
Irgendeiner von uns kam auf den Gedanken, den Blinden zu fragen, ob er sich nicht freuen würde, wenn er Augen hätte. ‚Wenn mich nicht die Neugierde beherrschte!‘, sagte er, ‚so hätte ich ebensogern lange Arme. Mir scheint, daß meine Hände mich dann über das, was auf dem Mond geschieht, besser unterrichten würden als eure Augen oder eure Fernrohre. Außerdem hören die Augen eher auf zu sehen als die Hände zu fühlen. Es wäre also für mich wertvoller, wenn man bei mir das Organ vervollkommnete, das ich besitze, als wenn man mir jenes Organ gäbe, das mir fehlt.‘ […]
Der Blinde aus Puiseaux schätzt die Nähe des Feuers nach den Hitzegraden, das Maß, bis zu dem Gefäße gefüllt sind, nach dem Geräusch, das die Flüssigkeiten beim Eingießen verursachen, und die Nähe der Körper nach der Wirkung der Luft auf sein Gesicht. Für die geringsten Veränderungen, die in der Atmosphäre eintreten, ist er so empfindlich, daß er eine Straße von einer Sackgasse unterscheiden kann. Er schätzt vortrefflich das Gewicht der Körper sowie die Hohlmaße der Gefäße und hat sich aus seinen Armen eine so genaue Waage und aus seinen Fingern einen so bewährten Zirkel gemacht, daß ich in den Fällen, in denen es um Fragen des Gleichgewichts geht, immer auf unseren Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werde. Die glatte Oberfläche der Körper hat für ihn kaum weniger feine Unterschiede als der Klang der Stimme, und daß er seine Frau mit einer anderen verwechselte, wäre nur zu befürchten, wenn er bei dem Tausch gewänne […]
Vorher hatte er die Absicht, sich mit einem Tauben zusammenzutun, der ihm Augen leihen sollte und dem er als Gegenleistung Ohren bieten wollte. Nichts hat mein Erstaunen dermaßen erregt wie seine eigentümliche Begabung für sehr viele Dinge; doch als wir ihm unsere Überraschung bezeugten, sagte er: ‚Ich bemerke wohl, meine Herren, daß Sie nicht blind sind. Sie sind erstaunt über das, was ich tue. Und warum staunen Sie nicht darüber, daß ich sprechen kann?‘ In dieser Antwort, so glaube ich, liegt mehr Philosophie, als er selbst hineinlegen wollte. Erstaunlich ist in der Tat die Leichtigkeit, mit der man sprechen lernt. Mit einer Menge von Wörtern, die nicht durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände vorgestellt werden können und sozusagen körperlos sind, können wir Ideen doch nur durch eine Reihe von feinen und tiefen Kombinationen zwischen den Ähnlichkeiten verbinden, die wir zwischen diesen nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und den durch sie erweckten Ideen bemerken.“ (Diderot 1961, 51ff)
französische Aufklärung
Es war die französische Aufklärung, so möchte ich resümierend mit U. Hofer-Sieber feststellen, der die Anerkennung gebührt,
„wesentliche Akzente gesetzt zu haben, um den Rahmen angenommener menschlicher Bildbarkeit zu erweitern durch den Einbezug von Menschen, denen diese bisher noch weitgehend abgesprochen worden war. Damit konnte einerseits der Bereich pädagogischen Wirkens durch methodische Differenzierung erweitert werden. Andererseits wurde damit gleichzeitig die Vorstellung des Allgemeinmenschlichen breiter und vielfältiger gedacht. Bisher geltende Normierungen mussten bezüglich ihrer Gültigkeit für Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten hinterfragt und relativiert werden“ (2000, 211).
Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung
Schließlich liegen auch die Anfänge der Bildung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung im Zeitalter der Aufklärung, auch wenn die institutionalisierten Erziehungsversuche zeitlich deutlich später als die der Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung erfolgten.

Johann Heinrich Pestalozzi
Im deutschsprachigen Raum war es Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), auch ein Kind der Aufklärung und anfänglicher Bewunderer seines Landsmannes Rousseau, der bis in die Gegenwart als Urvater einer Pädagogik gilt, die in Theorie und Praxis auch jene mit einschließt, die nicht zu den Musterbildern an Stärke, Schönheit und Klugheit gehören. Damit zählt Pestalozzi mit seiner Theorie der allgemeinen Menschenbildung zugleich zu den Mitbegründern der Heilpädagogik. Pestalozzis Erziehungsversuch auf dem Neuhof von 1777, wo er sich verwaister, verwahrloster und auch behinderter Kinder annahm, gibt davon Zeugnis. Ausgelöst durch die Enttäuschungen über die Schattenseiten der menschlichen Natur, wie sie im Laufe der französischen Revolution und der Revolutionskriege zutage traten, hat sich Pestalozzi später von dem optimistischen anthropologischen Grundmuster des Naturzustandes des Menschen eines Rousseau abgewandt. Hans Scheuerl schreibt:
„Lienhart undGertrud“
„In seinem Volksbuch ‚Lienhart und Gertrud‘ […] zeichnet Pestalozzi […] ein umfassenderes Bild des Menschen als Rousseau, ein Bild von den Menschen in ihren wirklichen Wechselbeziehungen, in denen zwischen Gut und Böse, Gelingen und Scheitern auch die Mitteltöne nicht fehlen; ein realistisches Gemälde sozialer und ökonomischer, moralischer und geistiger Zustände, wie er sie im Züricher Gebiet und von seinem Gut in Neuhof aus hatte studieren können.“ (1982, 116)
Pestalozzi schreibt in seinem Aufruf an die Gönner und Förderer seiner Armenerziehungsanstalt von 1777:
„Edle Menschenfreunde.
Sie haben vor einem Jahr den schwachen Anfang meiner Erziehungsanstalt für arme Kinder unterstützen wollen, und ich wende mich auch dis Jahr wieder an Sie, edle Gönner dieser Endzwecke. Noch ist der Erfolg und die ganze Sache klein – aber dennoch ist es Ihnen Freude, daß ich mit Wahrheit versichere, daß einige Jünglinge und Mädchen davon, die einen unfehlbar dem Bettel und allem ihn begleitenden Elend aufgeopfert, die ändern in der äussersten Vernachlässigung einer drückenden Hausarmuth geblieben wären – zu Arbeitern gezogen sind, die mir wirklich jetzo schon Hilfe und Freude sind.
Es zeichnen sich aus
Barbara Brunner von Esch Zürichbieth, voll Empfindung, Verstand und angreifender Thätigkeit. Nur fühlt es sich zu sehr in der niedern Claß des Dienstenlebens – und ist zu wenig sanft für ein Mädchen.
Franziska Hediger catholischer Religion ein achtsames bescheidens weitgefölgigers Mädchen – eine vortreffliche Magd im ganzen Sinn des Worts.
Leonze Hediger sein Bruder wird ein vorzüglich guter Weber werden – ein Knab voll Muth, Stärke und Wachsthum, kühn bis zur Frechheit aber doch gutherzig […]
Anna Vogt und Elisabeth Vogt von Mandach.
Diese 2 Geschwisterte sind im erbärmlichsten Landstreifferleben eines gänzlichen Müssiggangs gewohnt gewesen – und fast ohne Hofnung war es die Arbeit dreyer Jahre sie von dieser Unthätigkeit und der damit verknüpften Untreu und Dieberey zurück zubringen. Mit inniger Freude sehe ich die Dumheit des ältern, von der man sich keine Vorstellung machen kann, nach und nach entwickeln – und seine gänzliche Unempfindlichkeit – fangt an zu weichen; Empfindungen von sittlicher Freude und Dankbarkeit und Pflicht kommen in sein Herz, und die Folgen der tieffesten, ödesten, verworrensten Wildheit und des hartesten Elends fangen an sich zu schwächen […]
Noch muß ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Worts – so stark, daß ich keinen grössern Grad von Blödsinnigkeit bey eingesperrten Narren gesehen – Dabey hat es ein bewundernswürdiges musicalisches Gehör. Das zweyte voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armuth entkräftet krumzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen – Beyde diese Kinder verdienen ihr Brod, und gehen einem Leben entgegen in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind – Und es ist grosse tröstende Wahrheit, auch der aller Elendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freyheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, daß ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe – und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns – und cörperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben.“ (Pestalozzi 1927, 176ff)
der „Wilde von Aveyron“
Auch im Frankreich der Aufklärung gab es ein frühes Erziehungsexperiment, das von großer Bedeutung für die Entwicklung der „Geistigbehindertenpädagogik“ werden sollte: der Erziehungsversuch mit Victor, dem „Wilden von Aveyron“.

Jean Itard
Dieser fand im August 1800 Aufnahme in der Taubstummenanstalt von Paris, die nun unter der Leitung des Priesters Sicard stand und in der Jean Itard als leitender Arzt tätig war. Die Kunde über das Aufgreifen des „Wilden von Aveyron“ im Jahre 1799 drang auch nach Deutschland. 1800 erschien ein entsprechender Bericht in der Zeitschrift „Frankreich“, die im liberalen Altona von 1799 bis 1804 erschien – ein Beleg dafür, wie stark alles, was in Frankreich zur Zeit der Revolution geschah, in intellektuellen Kreisen in Deutschland Beachtung fand und wie dicht der internationale Diskurs zum Thema „Behinderung“ war. Die Pariser Korrespondenten übermittelten folgenden französischen Bericht:

„Wir haben diesen Knaben neulich in dem Garten von St. Magloire gesehn. Er scheint 12 bis 13 Jahre alt zu seyn. Er aß halbgekochte Bohnen, mit denen er eben so behend, wie ein Affe mit Nüssen umzugehn wußte. Er heftet seine Augen auf keinen Gegenstand; er mag nicht mit vielen Menschen seyn; sobald man ihm zu nahe kommt sucht er zu entfliehn. Man gab ihm ein Stück Zwieback; er warf es weg […] Er hat starke Narben am linken Arm; man sollte glauben die Stellen wären verbrannt. Wie es scheint hat man ihm den Hals abschneiden wollen, denn der Einschnitt des Messers ist noch sichtbar […]
Wie uns geschienen ist er nicht taub. Er läuft nicht schnell, und hat einen üblen Anstand und keine Leichtigkeit beym Laufen. Er weint zuweilen, und schreyt immer erst auf ehe er lacht. Er läßt sich ein leichtes Kleid gefallen; doch weder Schuhe noch Strümpfe. Seine Haare, seine Haut, seine Farbe, seine Füße und seine Hände sind nicht die eines Waldbewohners. Einige Taubstumme haben uns zu verstehn gegeben, daß er zuweilen Baumrinde äße. Wir haben gesehn, daß er Stroh von der Erde aufnahm und es zwar nicht aß, aber doch aussog. Man sollte glauben, daß er gerne auf Bäume kletterte; er thut es nie. Der Bürger Sicard, der krank gewesen ist, hat uns gesagt, daß er sich mit diesem Kinde noch nicht hätte beschäftigen können. Er hofft, daß es ihm zu den wichtigen Versuchen die er anstellt, und zur Bestätigung seines Systems über die Erzeugung der Ideen sehr nützlich werden soll.“ (Werner 2004, 11)
Itards Erziehungsversuch
Itards Erziehungsversuch ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer Reform der französischen Psychiatrie, vertreten durch Pinel und Esquirol, die nicht nur für eine menschenwürdigere Behandlung der „Irren“ eintraten, sondern auch wichtige Vorarbeiten für eine differenzierte medizinische Sicht auf das Phänomen „Geisteskrankheiten“ leisteten. Itard, der in der Tradition des Sensualismus stand, unternahm sein sorgfältig dokumentiertes Erziehungsexperiment, um nachzuweisen, dass – entgegen der landläufigen Meinung – auch dieses scheinbar idiotische Kind durch menschliche Zuwendung sowie geduldige, gezielte sinnliche Erziehung zu einer höheren Entwicklung gebracht werden könne. Sein Bericht beeindruckt noch heute durch die Präzision der Beobachtung, den methodischen Erfindungsreichtum sowie eine Haltung, die von der prinzipiellen Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen, auch eines offenbar „aussichtslosen Falles“ ausgeht. Damit stand Itard im Gegensatz zu dem Psychiater Pinel, der als leitender Arzt der Pariser Irrenanstalt Bicêtre in Victor nur ein idiotisches, nicht bildbares Kind zu entdecken vermochte. 1801 legte Itard seinen ersten, aufsehenerregenden Bericht vor, der wie folgt beginnt:
„Vorwort
Schwach an Körperkräften, ohne eigenes Denkvermögen und außerstande, selbständig den Gesetzen seines Wesens zu folgen, die ihn zur Krone der Schöpfung machen, betritt der Mensch die Erde. Nur im Rahmen der Gemeinschaft kann der Mensch die große Aufgabe, die ihm von der Natur zugedacht wurde, erfüllen, und ohne Zivilisation wäre er eines der schwächsten und unbegabtesten Lebewesen: Eine oft wiederholte Behauptung, die man aber noch nicht eindeutig bewiesen hat. Die Philosophen haben sie zuerst aufgestellt und andere haben sie weitergeführt und propagiert, indem sie als Beweis den physischen und moralischen Stand irgendwelcher herumziehender Völkerschaften nahmen, die sie als unzivilisiert betrachteten, weil sie nicht nach unserer Art zivilisiert waren, und bei welchen sie diejenigen Züge suchten, die der Mensch im reinen Naturzustand aufweist. Nein, hier muß man ihn nicht su- chen und studieren. In der wildesten Nomadenhorde und in der zivilisiertesten europäischen Nation ist der Mensch nur das, was man aus ihm macht. Notwendigerweise von seinesgleichen aufgezogen, nimmt er auch Gewohnheiten und Bedürfnisse an. Seine Ideen gehören ihm nicht allein. Er genießt den schönsten Vorzug seiner Gattung, nämlich die Fähigkeit, seinen Verstand zu entwickeln durch die Kraft der Nachahmung und den Einfluß der Gemeinschaft […]
Bericht über die ersten Entwicklungsschritte eines jungen Wilden
Ein Kind von bis 12 Jahren wurde in den Wäldern von Caune gesichtet. Es war vollständig nackt, suchte Eicheln und Wurzeln als Nahrung. Gegen Ende des Jahres VII [das Jahr 1799 nach dem republikanischen Kalender, E.-R.] wurde es wieder am gleichen Ort von drei Jägern gesehen. Sie ergriffen es im Moment, als es auf einen Baum klettern wollte, um sich ihrer Verfolgung zu entziehen. In einen Weiler der Nachbarschaft geführt und der Obhut einer Witwe überlassen, entfloh es im Verlaufe einer Woche. Es suchte die Berge zu erreichen, wo es in der winterlichen Kälte herumirrte, kaum bedeckt mit einem zerrissenen Hemd. Während der Nacht zog es sich zurück an einsame Orte, am Tag näherte es sich den benachbarten Dörfern und führte so ein vagabundierendes Leben bis zum Tage, an dem es von sich aus in ein bewohntes Haus im Departement Saint-Sernin eintrat.
Es wurde wieder aufgenommen, überwacht und gepflegt während zwei oder drei Tagen […] Ein Minister, Gönner der Wissenschaften, glaubte, daß dieses Ereignis für die Kenntnis der menschlichen Natur aufschlußreich sein könnte. Er gab Anweisung, daß das Kind nach Paris gebracht werde. Dorthin kam es Ende des Jahres VIII in Begleitung eines armen und achtbaren Greises, welcher versprach, es wieder zu sich zu nehmen und an ihm Vaterstelle zu vertreten, wenn die Gesellschaft es verlassen sollte.
Übermäßige, ja unvernünftige Hoffnungen gingen in Paris der Ankunft des Knaben vom Aveyron voraus. Viele Neugierige machten sich ein Vergnügen daraus, sein Erstaunen beim Betrachten der schönen Dinge in der Hauptstadt zu sehen. Viele sonst durch ihre Einsicht bekannte Persönlichkeiten dachten nicht daran, daß unsere Organe umso weniger anpassungsfähig sind und die Nachahmung umso schwerer ist, je isolierter ein Mensch lebt und je älter er ist. Sie glaubten, daß die Erziehung dieses Individuums die Angelegenheit einiger Monate sei und daß man schon bald über sein vergangenes Leben die interessantesten Auskünfte bekommen könne. Was sah man statt dessen? Ein widerlich schmutziges Kind, von spastischen und zeitweise krampfartigen Zuckungen befallen, das sich ständig wie gewiße Tiere in einer Menagerie hin- und herwiegte. Es biß und kratzte seine Betreuer und war dann wieder ganz gleichgültig.
Es ist leicht begreiflich, daß ein solches Wesen nur vorübergehend die Aufmerksamkeit der Neugierigen reizen konnte. Man rannte in Massen herzu, man sah es, ohne es zu beobachten, man beurteilte es, ohne es zu kennen und dann sprach man nicht mehr davon. In der allgemeinen Gleichgültigkeit vergaßen die Leiter und der berühmte Direktor der staatlichen Taubstummenanstalten nicht, daß man diesem Kinde gegenüber Verpflichtungen übernommen hatte, die es zu erfüllen galt. Sie erhofften wie ich viel von einer medizinischen Behandlung und übergaben das Kind mir zur Pflege.“ (Itard 1965, 17ff; Malson et al. 1972)
Itard scheitert
Nach fünf Jahren engagierter pädagogischer Arbeit resignierte Jean Itard. Die Fortschritte in der Entwicklung Victors waren sehr viel geringer, als Itard erhofft hatte; trotz großer Anstrengungen war es ihm z. B. nicht gelungen, Victor zum Sprechen zu bringen (eine psychoanalytische Deutung des Scheiterns von Itard findet sich bei Leber 1981).
Edouard Séguin
Aber nicht nur die Idee von der Bildbarkeit auch geistig behinderter Menschen war geboren, sondern es waren zudem erste Beweise für deren praktische Umsetzung erbracht. Es war ein junger Mitarbeiter Itards aus der Pariser Taubstummenanstalt, der den Faden Itards wieder aufgriff und mit großem Erfolg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterspann: der „Taubstummenlehrer“ und Arztsohn Edouard Séguin (Pellicier/Thuillier 1996, 1979; Rohrmann 2013).
Condorcets Bildungsplan
Diderot formulierte nicht nur revolutionäre Bildungsideen, sondern er entwickelte auch eine Konzeption für das öffentliche Bildungswesen, das allen Kindern der Nation offenstehen und in dem alleine die Fähigkeiten und das Vermögen des Einzelnen, nicht aber der gesellschaftliche Stand über das Maß an Bildung für den Einzelnen entscheiden sollte (Nieser 1992, 43ff).

Antoine de Condorcet
Fortgeführt wurde der Gedanke einer allgemeinen Bildung für alle durch Marie Jean Antoine de Condorcet (1767–1794), einem Gegenspieler der Jakobiner und ihres durch Le Peletier repräsentierten Erziehungskonzepts radikaler Gleichheit (Hellekamps/Musolff 1999, 107ff). Condorcets liberaler Schulentwurf ging von einer natürlichen Gleichheit individueller Rechte bei gleichzeitiger Ungleichheit individueller Fähigkeiten aus, und er propagierte demgemäß ein gestuftes Bildungswesen, das aus Primarschulen, Sekundarschulen, Instituten und Lyzeen bestehen sollte. Auch wenn Condorcets Bildungsplan in Frankreich nicht in die Praxis umgesetzt wurde, so blieb dieser Entwurf doch bis auf den heutigen Tag Modell eines demokratischen Bildungswesens (Michael/Schepp 1993, 84f).

Jean-Jacques Rousseau
Als sich Valentin Haüy 1786 mit seinem Erziehungs- und Unterrichtsplan für blinde Kinder an den französischen König wandte, war es kein geringerer als Condorcet – Mitglied der Académie Française und der Académie des Sciences, Generalinspekteur der Staatsmünze –, den Haüy als Kronzeugen für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern benennen konnte. In seiner Eigenschaft als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften hatte Condorcet im Februar 1785 einen Bericht über die ersten Unterrichtserfolge Haüys verfasst, in dem er nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Erziehung von Menschen mit Blindheit beschrieb, sondern zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher empfahl. Dabei erinnerte Condorcet ausdrücklich an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte (Haüy 1990, Anhang).
Während John Locke und der Sensualismus in Deutschland einen geringeren Einfluss als in Frankreich ausübten, war hingegen ein anderer Vertreter der frankophonen Aufklärung im deutschsprachigen Raum von ungeheurer Wirkung, nämlich Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).
Erziehungs- roman „Emile“
Sein Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 fand begeisterte Aufnahme in Deutschland:
„Der Einfluß, den Rousseau auf die gesamte deutsche Aufklärung ausübt, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden; Lessing und Kant sind von ihm tief beeindruckt, die Philanthropen übersetzen seinen ‚Emile‘ und orientieren ihre Erziehungsvorstellungen zum Teil an ihm, ohne allerdings seiner Gesellschafts- und Kulturkritik zu folgen. Für Herder und den Sturm und Drang dagegen wird gerade dieser Teil von Rousseaus Gedanken zum Evangelium.“ (Nieser 1992, 217)
Pädagogik vom Kinde aus
Rousseaus Lehre von der natürlichen Erziehung, die kritische Distanz gegenüber Gesellschaft und Kultur, die Anerkennung einer eigenständigen kindlichen Entwicklung sowie die Entdeckung des Eigenrechts des Kindes (Flitner 1957, 31ff; Blankertz 1982, 69ff), das Denken in Entwicklungsstufen – kurzum, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ – sind die bahnbrechenden neuen pädagogischen Ideen, die auch jene erfasste, die sich den vernachlässigten, behinderten Kindern zuwendeten. So berief sich Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) in seinem „Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus“ von 1840 neben anderen Kronzeugen ausdrücklich auf das Vorbild Rousseau, und Johann H. Pestalozzi gab aus Verehrung für Rousseau seinem Sohn den Vornamen Jean-Jacques.






