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Und dennoch werden an die Erziehungstheorie Rousseaus gerade in der Gegenwart und vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer ausgrenzenden Pädagogik im 20. Jahrhundert kritische Anfragen seitens der Sonderpädagogik gestellt. Indem Rousseau, zweifellos in exemplarischer Absicht, für sein Erziehungsexperiment bewusst ein gesundes und starkes Kind auswählte, schloss er all jene aus, die diesen Idealvorstellungen nicht entsprachen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Rousseau Kindern mit Behinderung keine Erziehung gewähren wollte, kann aus dem Kontext des Textes meines Erachtens nicht abgeleitet werden, aber es bleibt aus sonderpädagogischer Sicht das Problem, dass der imaginäre „durchschnittliche“ Educandus als anthropologisches Modell begrenzt ist und damit die Vielfalt menschlicher Existenz nicht umfasst. Haeberlin urteilt,
„dass Rousseau mit seiner Vorstellung von natürlicher Entwicklung einerseits das entwicklungspsychologische Verständnis für das Kind ausserordentlich gefördert, dass er aber andererseits damit den Zugang zum Kind mit Abweichungen von der Entwicklungsnorm eher verbaut hat.“ (Haeberlin 2005, 128)
Lassen wir Rousseau selbst zu Wort kommen:
„Dieser vorher abgeschlossene Vertrag setzt eine glückliche Entbindung, ein wohlgebildetes, starkes und gesundes Kind voraus. Ein Vater hat keine Wahl und darf kein Kind bevorzugen; sie sind alle auf gleiche Weise seine Kinder, er schuldet ihnen allen die gleiche Fürsorge und die gleiche Zuneigung. Ob Krüppel oder nicht, kränklich oder stark, jedes ist sein Gut, über das er dem Rechenschaft ablegen muß, der es ihm schenkte […]
Wer eine Pflicht übernimmt, die ihm die Natur nicht aufzwingt, muß sich zuvor der Mittel versichern, sie zu erfüllen. Andernfalls ist er sogar dafür verantwortlich, was er nicht leisten konnte. Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher […]
Ich würde mich nicht mit einem kränklichen und siechen Kind belasten, und wenn es achtzig Jahre alt würde. Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet. Verschwende ich meine Fürsorge an ihn, so verdopple ich den Verlust, indem ich der Gesellschaft zwei statt nur einen Menschen entziehe. Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke. Ich kann nicht jemanden leben lehren, der nur daran denkt, wie er dem Tode entgeht.“ (Rousseau 1762/1995, 28)

Am Beispiel Rousseaus werden Widersprüche und Ambivalenzen einer Pädagogik der Aufklärung deutlich, wie sie auch in der deutschen Aufklärung durch die Proklamierung des Prinzips der Perfektibilität (Moser 1995, 47) zu finden sind. Die philanthropische Bewegung in Deutschland verkündete zwar das Streben nach individueller Vollkommenheit und Glückseligkeit, aber zugleich auch das nach gesellschaftlicher Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Damit waren Widersprüche gegeben „zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anpassung und Mündigkeit, zwischen dem Utilitarismus […] und der Bildung der Individuen zur Humanität“ (Tenorth 2008, 76), aber auch – so möchte ich im Hinblick auf Behinderung hinzufügen – zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sowie zwischen Differenz und Verschiedenartigkeit auf der einen und Normierung und Ausgrenzung auf der anderen Seite.
Pädagogik der Armut
Diese Widersprüchlichkeit zwischen zweckfreier Allgemeinbildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit spitzt sich zu, wenn Strategien einer Pädagogik der Armut in den Blick genommen werden. Der mutige Landreformer Fritz Eberhardt von Rochow (1734–1805) proklamierte zwar, „daß Bildung als allgemeines ‚Menschenrecht auch dem Geringsten und Ärmsten‘ zustehe“ (Wehler 1989, 287; Schmitt 2003), aber er scheiterte mit seinen Plänen. Das Schulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts war in Deutschland nach wie vor ein Abbild der ständischen Gesellschaft, in der jedem von Geburt her sein Platz zugewiesen war. Auch die Industrieschule kann als eine „Institution der Pädagogik der Armut“ klassifiziert werden (Leschinsky/ Roeder 1976), denn ihr primäres Ziel war die Erziehung zu Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit im Rahmen der vorfindlichen Gesellschaftsordnung, die dem Phänomen der Armut vorrangig mit Überwachung und Strafe begegnete (Foucault 1961; 1976; Herrmann 1981; Moser 1995). Herwig Blankertz urteilte über den Philanthropismus:
„[…] im Programm der allgemeinen Menschenbildung drückte Rousseau den revolutionären Anspruch der Aufklärung pädagogisch aus. Die deutschen Philanthropen faßten das Problem sehr viel enger. In ihrer Theorie der utilitären Erziehung rechtfertigten sie das, was die Praxis des merkantilistischen Staates war, nämlich den einzelnen Menschen dem gesellschaftlichen Anspruch preiszugeben, durch die Aufgabe, an dem ihm angewiesenen Orte zu funktionieren.“ (Blankertz 1982, 81f)
allgemeines Menschen- und Bildungsrecht
Und dennoch, so möchte ich abschließend unterstreichen, waren mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Ideen der allgemeinen Menschen- und Bildungsrechte in die Welt gekommen, die fortan ihre Wirksamkeit entfalteten. Der nicht mehr hintergehbare Anspruch einer Bildung für alle war die Voraussetzung dafür, dass auch für behinderte, benachteiligte und arme Kinder das Recht auf Bildung und Erziehung eingefordert werden konnte – ein Recht, das bis auf den heutigen Tag keine Selbstverständlichkeit ist.
2.2 Die ersten Institutionen
Institutionalisierung
Damit Ideen gesellschaftliche Wirksamkeit und Nachhaltigkeit erlangen können, bedarf es des Handelns von Personen, die bahnbrechende Ideen in gesellschaftliche Praxis umsetzen. Im Falle der Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen waren es einzelne Pioniere, die durch Gründung von Institutionen der bereits im Einzelfall bewiesenen Bildungsfähigkeit gehörloser und blinder, etwas später auch geistig behinderter Menschen, zur gesellschaftlichen Anerkennung verhalfen. Ob in Paris, Leipzig und Wien, wenig später auch in Berlin – stets waren es außergewöhnliche Persönlichkeiten, die zum entscheidenden Motor für die institutionelle Entwicklung eines besonderen Zweiges im Bildungswesen wurden. Ob diesen mutigen Schritten Einzelner aber Erfolg und eine langfristige Wirkung beschieden war, hing von den spezifisch politisch-gesellschaftlichen Umständen ab. Daher sind stets gesellschaftliche Antriebskräfte und Widerstände mit zu bedenken, wenn es um eine Darstellung der Erfolgsgeschichte der ersten Institutionen für die Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher geht.
Paris
2.2.1 Die Taubstummenanstalt
Die Gründung der Pariser Taubstummenanstalt ist unaufhebbar verknüpft mit dem Wirken des Priesters Charles Michel de l’Epée (1712–1789), der nicht nur eine Methode des Taubstummenunterrichts wissenschaftlich begründete, sondern mit dem Beginn eines privaten Unterrichts taubstummer Schülerinnen den Grundstein für die Entwicklung eines Bildungswesens für Menschen mit Taubheit legte.

Abbé de l’Epée
De l’Epée, Sohn eines Architekten in Versailles, Jansenist2 und wegen freisinniger Ansichten aus dem Priesteramt entlassen, war zu seiner Zeit keineswegs der Einzige, der taubstumme Personen unterrichtete – erinnert sei nur an seinen Gegenspieler Jacob Rodriguez Pereira (1715–1780), ein Verfechter der Lautsprache –, aber er verstand es, durch seine jahrelangen, auch international wirksamen Aktivitäten die Basis für die Etablierung einer öffentlich anerkannten Gehörlosenbildung zu legen.
Der immer wieder in der Literatur erwähnte Auslöser für den Unterricht Gehörloser war de l’Epées etwa im Jahre 1760 erfolgte Begegnung mit zwei taubstummen Mädchen, die bereits von einem anderen Priester unterrichtet worden waren. Das erste Kapitel seines 1776 veröffentlichten Werkes „Institution des sourds et muets par la voie des signes méthodiques“ gibt Auskunft über die religiösen Motive de l’Epées, spiegelt die ungeheure Aufbruchstimmung und Begeisterung wider und berichtet schließlich von den öffentlich zur Schau gestellten Unterrichtserfolgen:

„Kommen seit etwa dreißig Jahren mehr taubstumme Kinder zur Welt als vorher? Die Stadt Paris beherbergt eine große Anzahl von ihnen, man meldet sie uns von allen Seiten aus den Provinzen, und wir wissen, daß sich in den uns umgebenden Reichen ebensoviele finden. Ohne die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung durchdringen […] zu wollen […] glaube ich, daß dieses Gebrechen immer in fast gleichem Verhältnis zu allen unsern Leiden gefunden worden ist. Wenn es trotzdem scheint, daß es heute mehr Taubstumme gibt als in früheren Zeiten, so kommt das daher, daß man bis auf unsere Tage die Kinder, die ohne die Fähigkeit zu hören und zu sprechen geboren wurden, von der menschlichen Gesellschaft fern hielt, weil ihr Unterricht immer als sehr schwer, in mancher Hinsicht sogar als unmöglich angesehen wurde. Die Gelehrten wußten indessen sehr wohl, daß seit zwei Jahrhunderten einige Phänomene dieser Art […] mehr oder weniger unterrichtete Taubstumme, aufgetreten waren, was man alsdann als eine Art Wunder ansah; aber die übrigen Menschen kamen gar nicht auf den Gedanken, daß man jemals dieses Werk versucht hatte, und noch weniger ahnten sie, daß es jemandem gelungen war.
Die Taubstummheit stellte sich also den Augen als ein entsetzlicher Zustand dar und schien nach der Ordnung der Natur ein unheilbares Übel zu sein. Wir wissen sogar durch einwandfreie Berichte, daß es noch jetzt barbarische Länder gibt, in denen man die Kinder, die weder hören noch sprechen können, tötet, weil man sie als Ungeheuer ansieht […]
Heute haben sich die Dinge geändert. Man hat mehrere Taubstumme sich in der Öffentlichkeit zeigen sehen. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, sind durch Programme angekündigt worden, welche die Aufmerksamkeit des Publikums erregt haben. Personen jeden Standes und jeden Ranges haben sich in Menge dazu eingefunden. Die Schüler sind umarmt worden, man hat ihnen Beifall gezollt, sie mit Lob überhäuft, sie mit Lorbeeren gekrönt. Die Kinder, die man bis dahin als Auswurf der Natur angesehen hatte, haben sich mehr ausgezeichnet und ihren Vätern und Müttern mehr Ehre gemacht als deren andere Kinder, die nicht imstande waren, gleiches zu leisten, und die darob erröteten […]
Da die inländischen und fremden Zeitungen über das berichtet, was sich in Paris unter den Augen einer beträchtlichen Anzahl von vornehmen Zeugen zugetragen hat, sind die gewöhnlichen Unterrichtsstunden der Taubstummen sozusagen fortwährende Prüfungen geworden. Man sieht dort alle Tage Gelehrte verschiedener Länder und Personen höchsten Standes. Sogar einige unserer Fürsten haben sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, und fremde Herrscher haben sich selbst davon überzeugen wollen, daß die öffentlichen Zeitungen sie nicht durch falsche Berichte getäuscht hatten.
Es ist also gar nicht mehr die Rede davon, die Taubstummen gänzlich von der Welt abzuschließen […] Die Taubheit, die man allein für das Los der Menschen erhielt, die, sich durch eine kleine Glocke bemerkbar machend, ihr Brot in den Straßen erbetteln, erscheint jetzt nur noch als eine jener körperlichen Häßlichkeiten, von denen auch die höchsten Stände nicht ausgenommen sind, und deren Nachteilen leicht abzuhelfen ist […]
Ich bin Lehrer der Taubstummen geworden, ohne daß ich damals wußte, daß es jemals andere vor mir gegeben hatte […] Der P. Vanin, ein sehr achtbarer Priester der Kongregation der Christlichen Lehre, hatte vermittelst Bilder (einem an sich sehr schwachen und ungewissen Hilfsmittel) den Unterricht von zwei taubstumm geborenen Zwillingsschwestern begonnen. Als dieser barmherzige Geistliche gestorben war, blieben die beiden armen Mädchen ohne alle Hilfe […] Da ich nun fürchtete, daß diese beiden Kinder ohne Kenntnis ihrer Religion leben und sterben würden, wenn ich nicht irgend ein Mittel versuchte, sie zu unterrichten, wurde ich von Mitleid für sie gerührt und ließ sie mir bringen, um mein möglichstes an ihnen zu tun.“ (de l’Epée 1910, 1ff)
Protagonist der Aufklärung
De l’Epées ungeheurer pädagogischer Optimismus, gepaart mit religiösen Motiven, galt in erster Linie nicht den Kindern aus besseren Kreisen, sondern jenen aus den unteren Volksschichten, die bislang von allen besonderen Bildungsbemühungen ausgeschlossen waren. Durch diese Betonung des sozialpolitischen Aspektes seiner Aktivitäten, durch die Forderung nach gleichen Menschen- und Bildungsrechten auch für die Vernachlässigten, erwies sich de l’Epée als ein wahrer Protagonist der Aufklärung:
„Die Taubheit ist ein Elend, dem Personen jeden Standes und jeden Berufes verfallen sind. Wir haben unter unsern Schülern vornehme und reiche, aber auch arme und solche aus der Hefe des Volkes. Daß wir den ersteren alle Arten von Kenntnissen geben, die sie verstehen können, damit wird man wohl ohne Zweifel einverstanden sein. Nun wohl, so muß man, was man auch dazu sagen möge, dulden, daß die anderen sie in Gesellschaft miterwerben können. Das ist um so gerechter, als die Reichen nur bei mir geduldet werden. Nicht ihnen, sondern den Armen habe ich mich gewidmet. Ohne diese würde ich niemals den Unterricht der Taubstummen übernommen haben. Die Reichen haben die Mittel, einen Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu bezahlen.“ (de l’Epée 1910, 90)
erste Unterrichts- versuche
De l’Epée begann seine ersten Unterrichtsversuche in seinem Privathaus in der Rue des Moulins und bestritt sie, unterstützt von seinem Bruder, bis zu seinem Tod 1789 weitgehend aus seinen privaten Geldmitteln. Aus seinen Aufzeichnungen von 1776 geht allerdings auch hervor, dass der Gründer der privaten Taubstummenanstalt von Paris schon sehr bald deren Umwandlung in eine öffentliche Unterrichtsanstalt im Auge hatte, da nach seiner Ansicht nur besondere „Erziehungshäuser“ den spezifischen Bildungsauftrag sichern könnten. So schreibt er:
„Die Welt wird niemals lernen, ihre Finger und Augen in größter Eile arbeiten zu lassen, nur um das Vergnügen zu haben, sich mit den Taubstummen unterhalten zu können. Das einzige Mittel, diese der menschlichen Gesellschaft völlig wiederzugeben, ist, sie zu lehren, mit den Augen zu hören und sich mündlich auszudrücken. Bei vielen unserer Schüler gelingt uns das, obgleich sie nicht bei uns wohnen, sondern nur zweimal wöchentlich in unsere Unterrichtsstunden kommen […] Diese Fähigkeit sollte man ausbilden, und man würde unfehlbar zu etwas Vollkommenem gelangen, wenn man Erziehungshäuser hätte, die ganz diesem Werke geweiht wären. Es scheint jetzt, daß das erste in Deutschland durch den Herzog von Sachsen/Weimar gegründet werden wird. Als dieser junge Fürst einer unserer Unterrichtsstunden beigewohnt hatte, hat er sogleich den Plan einer solchen Anstalt gefaßt […]“ (de l’Epée 1910, 76f)
Streben nach Verstaatlichung
Michel de l’Epée unternahm mehrere Anläufe, um für seine private Schule den Status einer öffentlichen Schule zu erlangen. Wiederholte Eingaben an den König sowie eine unermüdliche Zurschaustellung erzielter Unterrichtserfolge waren die Mittel, um die prekäre finanzielle Situation, wenn nicht zu überwinden, so doch zumindest zu mildern. Ungeachtet des Wohlwollens des französischen Königs sowie anderer privater Förderer erfüllte sich der Wunsch nach staatlicher Übernahme lange Zeit jedoch nicht.
Abbé Sicard
Als de l’Epée am 23. Dezember 1789, im Jahr der Revolution, starb, trug seine Unterrichtsanstalt immer noch den Charakter einer Privatanstalt. In ihr befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 60 Schüler, die entweder durch die Eltern oder verschiedene Wohltäter, teilweise auch durch die „Société philanthropique“ unterstützt wurden. Der strenge Winter 1788/89, der Ausbruch der Revolution und damit die geringer werdenden privaten Finanzmittel brachten die Anstalt in eine äußerst prekäre Lage. So erschien der Nachfolger de l’Epées, der Abbé Sicard (1742–1822), mit einer Delegation seiner taubstummen Schüler in der Sitzung der Nationalversammlung und überreichte eine Bittschrift zur Verbesserung der unhaltbaren Anstaltssituation. Die Nationalversammlung erkannte 1790 die Nützlichkeit der Anstalt an, versprach auch staatliche Protektion, machte aber zugleich den Vorschlag, die Anstalten für Gehörlose und Blinde aus Kostengründen zusammenzulegen, was wenig später tatsächlich erfolgte.
Restauration in Frankreich
Als die Taubstummenanstalt 1791 verstaatlicht wurde, erinnerte sie allerdings kaum noch an das ursprüngliche Konzept ihres Gründers. Dessen Motive waren zwar auch utilitaristischer Natur gewesen, denn es ging stets um die sozialpolitische Aufgabe einer möglichst kostengünstigen gesellschaftlichen Eingliederung von Außenseitern, aber diese Zielsetzung war nicht zu trennen von den humanitär-pädagogischen Beweggründen einer allgemeinen Menschenbildung.
Die offizielle französische Politik der 1790er Jahre setzte hingegen immer stärker auf soziale Kontrolle und Kostenreduzierung bei gleichzeitigem Zurückdrängen des Bildungsanspruches. Hierzu passt auch, dass das Taubstummeninstitut und die 1785 gegründete Pariser Blindenanstalt noch im Oktober 1791 zusammengelegt und in dem „Couvent des Célestines“ untergebracht wurden. Hauptziel der Anstalt war nun das Ausüben einer Moralerziehung und das Verdienen des eigenen Lebensunterhaltes. Nach erlassenen Richtlinien herrschte in der Institution eine klar geregelte Hierarchie, durch welche die ununterbrochene Produktivität überwacht, Müßiggang geahndet und Fleiß belohnt werden sollten. Keiner der Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände, welche von den Schülern selbst hergestellt werden konnte, durfte außerhalb der Institution in Auftrag gegeben werden. Eine autarke Institution dank ökonomischer Unabhängigkeit, erwirtschaftet durch die Arbeit der Blinden und Taubstummen, das war das erklärte Ziel dieser neuen Institution, in der die Zöglinge kontrolliert und lückenlos überwacht wurden.
Es kam noch einmal im Nationalkonvent in den Jahren 1793 und 1794 zu einer hitzigen Debatte um die Funktion der Taubstummenerziehung. Dabei blieben aber jene in der Minderheit, die unter Verweis auf die Menschenrechte und das Prinzip der Brüderlichkeit den Bildungsanspruch auch für Gehörlose reklamierten. Die Vertreter der Gegenposition hingegen plädierten dafür, den Betroffenen einen Bildungsanspruch generell abzusprechen.
Die utilitaristische Ausrichtung der Taubstummenanstalt wurde in den Folgejahren fortgeführt. Für die 60 Freiplätze wurde festgelegt, dass der Staat bei einer Unterrichtszeit von fünf Jahren (im Alter von 9 bis 16 Jahren) nur für die ersten drei Jahre die Pensionskosten übernehmen würde, im vierten Jahr nur noch zur Hälfte für die Kosten aufkäme und das fünfte Jahr schließlich ganz durch die Arbeit der Schüler finanziert werden musste.
Restauration in Frankreich
Die sich nach dem Machtantritt Napoleons abzeichnende Restauration der französischen Gesellschaft mit ihrer erneuten Zementierung gesellschaftlicher Klassengegensätze bewirkte eine noch stärkere Pointierung der Nützlichkeitsbestimmung der Taubstummenerziehung bei gleichzeitiger Verfestigung ihres klassenspezifischen Charakters. In einem Prospekt aus dem Jahr 18013, welcher den Auftrag der Institution neu umreißen sollte, wurde insbesondere die gesellschaftliche Nutzbarmachung der Taubstummen hervorgehoben, eine Nutzbarmachung – so der Verfasser des Prospekts – welche die Schule de l’Epées weitgehend vernachlässigt habe. Die Leistung des Gründers wurde zwar gewürdigt, gleichzeitig aber auf das Problem verwiesen, dass die Zeit, welche von diesem für die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten aufgewendet wurde, „fût perdu pour le travail des mains“.4 Taubstumme – so die Meinung der Verfasser des Prospektes – waren durch die ausschließlich intellektuelle Bildung zu einem müßigen und faulen Leben erzogen worden und damit weiterhin eine Bürde ihrer Eltern geblieben.
Demgegenüber wurden nun die entstandenen Werkstätten in den Vordergrund gerückt, in denen die verschiedenen Handwerke gelernt werden konnten: Druckerei, Drechslerei, Gravur, Zeichnen, Mosaik, Schreinerei, Schneiderei, Schuhmacherei. Wie bereits 1792 festgelegt, wurde auch in diesem Prospekt darauf verwiesen, dass sämtliche Gebrauchsartikel und Unterrichtsgegenstände von der Institution selbst herzustellen seien, und darüber hinaus wurde angeregt, auch andere Hospize mit den Erzeugnissen der Anstalt zu versorgen.
Als eine besondere Neuigkeit wurde die Zweiteilung der Institution angepriesen, die die gesellschaftliche Schichtung getreu widerspiegelte, indem eine spezielle Schulabteilung für Taubstumme aus vermögenden Familien eingerichtet wurde. Damit bestand die Pariser Anstalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus zwei strikt voneinander getrennten Sektionen, die kaum noch Gemeinsamkeiten in der pädagogischen Arbeit aufwiesen. In der ersten Abteilung befanden sich etwa 80 Taubstumme, die auf Kosten der Nation unterrichtet und nur für eine nützliche Tätigkeit ausgebildet wurden. In der zweiten, kleineren Gruppe erhielten dagegen etwa 40 taubstumme Kinder zahlender Eltern in allen üblichen Unterrichtsfächern Unterweisung.
Sozialdisziplinierung
Nicht allgemeine Menschenbildung war mehr das Ziel der Unterrichtung Gehörloser aus den armen Volksschichten, sondern soziale Disziplinierung und die Perpetuierung sozialer Ungleichheit. Für all diejenigen, die aufgrund ihres gesellschaftlichen Status zu einer frühen Berufswahl prädestiniert waren, musste demnach eine über das Notwendige hinausweisende intellektuelle Bildung als Verschwendung gelten. Somit war es nur konsequent, dass Anträge auf Freiplätze nur noch für Taubstumme im Alter von 12 bis 14 Jahren gestellt werden konnten, denn nur durch Heraufsetzung des Eintrittsalters war die erwartete Arbeitsfähigkeit der taubstummen Menschen zu gewährleisten.
2.2.2 Die Blindenanstalt
Die Parallelen zwischen den Anfängen der Taubstummen- und Blindenbildung in Paris sind unübersehbar. So ist, ungeachtet der zeitlichen Differenz, auch im Falle der Bildung von Menschen mit Blindheit eine hervorragende Persönlichkeit Motor der Anstaltsgründung: Valentin Haüy (1745–1822), Sprachwissenschaftler und königlicher Dolmetscher. Nicht anders als die Taubstummenanstalt hat auch die Blindenanstalt zunächst den Charakter einer Privatanstalt, und sie soll gerade den Kindern armer Bevölkerungsschichten offenstehen. Auch sie befindet sich permanent in einer finanziell äußerst angespannten Situation und bewegt sich in ihrem pädagogischen Konzept zwischen dem Ideal allgemeiner Menschenbildung und der utilitaristischen Festlegung auf die Hinführung zur Erwerbsarbeit.

Valentin Haüy
August Zeune
Natürlich kannte Haüy wie alle gebildeten Franzosen seiner Zeit Diderots Briefe über die Blinden, aber es bedurfte eines Schlüsselerlebnisses, um in ihm den Plan reifen zu lassen, mit einem Unterrichtsversuch für blinde junge Menschen zu beginnen. Es war die unwürdige Zurschaustellung blinder, kostümierter Musikanten auf dem Pariser Markt Saint-Ovide im Jahre 1771, von der Haüy in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder berichtete und die ihn zutiefst empört hatte. Noch im Sommer 1806, als Haüy Paris Richtung Russland verließ und auf seiner Reise Halt in Berlin machte, trug er den bildlichen Beweis dieser Szene mit sich, gleichsam als symbolischen Beleg für die notwendige Befreiung blinder Menschen aus solch erniedrigender Abhängigkeit durch Unterricht und Erziehung. August Zeune, der spätere Direktor der Blindenanstalt in Berlin, erwähnte diese Episode in seinem Werk „Über Blinde und Blindenanstalten“, in dem er schrieb: „Haüy zeigte bei seiner Anwesenheit in Berlin mir einen Kupferstich, wo dieses lächerliche Tonspiel vorgebildet war, worunter noch Reimereien zur Verspottung der Blinden standen.“ (Zeune 1817, 32)






