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Nein, Lene sah erstmal keinen Grund, die Schule zu beenden. Keinen Grund, ihre Freiheiten aufzugeben, die sie sich nach und nach auch als Nesthäkchen erobert hatte. Jedenfalls nicht, bevor sie herausgefunden hatte, was das Leben mit ihr vorhatte – oder sie selbst mit ihrem Leben? Und was sie vermochte? Und nichts aufgeben, bevor sie Vaters Bibliothek durchgelesen hatte. Wahrscheinlich gab es sogar noch weitere Bücher. Neue und alte, von denen sogar Vater nichts ahnte? Nein, ihre eigene, kleine Freiheit würde Lene nicht aufgeben, sondern möglichst weit ausdehnen, solange das eigene Leben spannend und unerforscht war.
Sie sah das alte Schulgebäude in Gedanken vor sich. Sah sich selbst, immer eilig, gerade und energisch, lachend mit den Freundinnen durch die altbekannten Straßen laufen. Oder allein, bummelnd, den Kopf gesenkt auf die Pflastersteine oder Sandwege. In tiefe Gedanken versunken. Sie kannte wohl jeden dieser Steine, jede Pfütze bei Regenwetter. Fest war das in die ersten, profunden Rillen des Gehirnspeichers eingegraben.
Oder sie spielte Hans-guck-in-die-Luft. Lene-guck-in-die-Luft forschte in dunklen Winterabenden die Sterne durch, ihre leuchtenden Himmelsbilder, ihre gleißende Helligkeit, und sie dachte Wege von oben nach unten, von unten nach oben. Und manchmal wünschte sie sich da hoch hinauf, der gute Gottvater wohnte da irgendwo zwischen seinen Sternen, so hatte es der Pastor erzählt, und der musste es ja wohl wissen. Mutter meinte, das könne kein Mensch so genau erforschen, denn das sei „eine Sache des Glaubens und der symbolischen Glaubensvorstellung“. Aber Lene hielt sich lieber an Leute, die es wussten, an gut gelernte und sichere Wahrheiten. Jedenfalls war der liebe Gott seinen Sternen näher als den Menschen, denn er ließ sich auf der Erde nicht mehr blicken. Das allerdings bestritt der Pastor energisch und Mutter war da ganz seiner Meinung, aber das glaubte Lene nun allen beiden nicht. Obwohl die Erwachsenen natürlich schon mehr Jahre und Erfahrungen auf dem Buckel hatten und allerlei erlebt haben mochten, wer weiß. Tatsache war aber doch: Seit der ungerechten Kreuzigung damals hatte Gott sich von der menschlichen Erde verabschiedet, - und das konnte ihm auch niemand verübeln, fand Lene, so kleinlich und voller komischer Gesetze, Regeln und Sitten und mancherlei Bosheiten und Gemeinheiten es hier zuging. Deshalb wollte sich Gott wohl auch nicht mehr in irgendeiner Menschengestalt hier blicken lassen. Das nahm Lene ihm nicht übel. Da hatte er es zwischen seinen Sternen doch weitläufiger und herrlicher, übersichtlicher und unabhängig von der vergleichsweise so jämmerlich kleinen Erde.
Lene fand die Menschen um sich herum zwar nicht schrecklich, aber sie dachte für sich, es könnte nicht schlecht sein einigen Kontakt nach oben zu halten. Drähte zu spannen. Gedankenfäden hinauf zu schicken. Sich in diesen Sternen auszukennen. Es ging eine Ruhe, eine Stille von da oben aus. Blicke nach oben, nachts, so aus der menschlichen Dunkelheit heraus, machten manches erträglicher: aufgeschlagene Knie, Ärger mit der dummen Nachbars-Trine, Sorgen wegen Vaters gefalteter Stirn oder Muttchens Husten.
Diese Gewohnheit, nachts nach oben zu blicken und tagsüber nach unten -, Distanz zu den Menschen um sich herum zu schaffen, sich selbst wieder ordentlich zu sortieren, und vor allem Ausschau zu halten nach Zeichen oder Wundern, vielleicht auch nur solche herbei zu sehnen, das war immer so geblieben. Intensive Wünsche, Träume und Sterne, die gehörten für Lene zusammen und hatten ihre hellen Plätze am Nachthimmel.
Die Sterne, das leuchtende Firmament über ihr und die hölzerne Schreibtischplatte vor ihr, das waren Fixpunkte. Dazwischen hatte sich ihr Leben gespannt.
Stopp, ehe ihre Gedanken zu weit voraus liefen, kehrte Lene in ihr Früher zurück. Die Schule, ach ja, und die Kleinstadt Osterode. Damals groß, denn weiter reichte, abgesehen von den Ferien, ihr tägliches Leben kaum.
Osterode mit seinen Schulalltagen, mit seinen Honoratioren, die ins Direktorhaus zu Besuch kamen, mit seinen kleinstädtischen Problemen und Perspektiven, aber auch Diskussionen über Weltgeschehen und Zukunft, Osterode nicht zuletzt natürlich mit seinen Festen.
Ein besonderes, Aufsehen erregendes, für Klatsch sorgendes und noch lange freudig erinnertes Ereignis war die feudale Doppelhochzeit im Rektorhaus 1904. Lotte, die älteste Tochter und ihr Landvermesser Fritz feierten gleichzeitig mit Dore und ihrem humorvollen Leo ihre standesamtliche und dann kirchliche Trauung. Lenchen hatte ihr letztes Schuljahr zu fassen, kam sich jedoch angesichts dieser spektakulären Erwachsenen-Allüren ihrer geliebten Schwestern wieder einmal gehörig klein, unfertig und unerfahren kindlich vor. Wahrscheinlich war sie das auch. Dore war damals 24 Jahre alt, Lotte mit ihren 30 Jahren schon doppelt so alt wie Lenchen.
Die Stadt ließ sich nicht lumpen, sondern schenkte wertvolles Silber für 24 Personen. Man denke: zwei der fünf Töchter des Gymnasialdirektors wurden gleichzeitig aus der elterlichen Obhut und Oberaufsicht entlassen und den wahrlich liebenswerten und tüchtigen Schwiegersöhnen übergeben.
Lenes Abgangs-Zeugnis der Schule wurde am 7. April 1905 ausgestellt. Lenchen war fast 16 Jahre alt.
Fünf Tage, bevor sie mit diesem Abschlusszeugnis die Schule verließ, gab es ein weiteres denkwürdiges Ereignis. Lene wurde in der Evangelischen Stadtkirche von Superintendent Stange konfirmiert. Es war der Sonntag Lätare, der zweite April 1905.
Das war eine wichtige, einschneidende Feierlichkeit, nicht nur für Lene, sondern für die ganze Familie. Denn immerhin wurde die Jüngste nun nach der Taufe erneut und aus eigenem Willen unter Gottes Schutz und Schirm gestellt und damit gewissermaßen und traditionell ins Erwachsenenleben gehoben.
Getauft worden war sie am 30. Juni 1889, ebenfalls in dieser evangelischen Kirche von Superintendent Stange. Der sollte sie jetzt auch konfirmieren.
Für die Eltern war ihre Konfirmation sicher mit einer Art Erleichterung verbunden, - es war eben der Schritt ins Erwachsensein -, für Lenchen selbst aber doch mit äußerst gemischten Gefühlen. Natürlich wollte sie ihre Taufe nun selbst bekräftigen und erneuern. Damals war sie ja noch zu klein gewesen. Als sie in festlich-vornehmes Schwarz gekleidet mit ihren Freundinnen die Kirche betrat, wünschte sie nichts sehnlicher, als Gottes Gegenwart so richtig zu spüren, fromm zu sein für ihr ganzes restliches Leben, demütig alles zu tun, was Gott von ihr verlangte, was auch immer das sein mochte. Würde sie das denn spüren? Als sie zu den vordersten Reihen der Kirchenbänke schritt, wo die Konfirmanden Platz nehmen sollten, war sie plötzlich skeptisch: konnte sie denn wirklich versprechen, was sie jetzt gleich geloben würde? Ein Versprechen musste gehalten werden, das war unumstößlich. Immer und immer musste dieses Versprechen zu Gott gelten, nie durfte sie ausbrechen. Gott würde besonders ab jetzt wohl immer an ihrer Seite sein, alles sehen, alles vielleicht sogar kommentieren, kritisieren? Aber versprach Gott ihr denn nicht auch etwas? Wenn sie das nur mal sehen oder richtig merken könnte. An diesem Sonntag bildete sie sich das auf jeden Fall ein, vielleicht war es auch so, aber wer konnte das wissen? Du liebe Zeit, ihr kritischer Verstand spielte nicht immer mit, wenn ihre Gefühle mal anders wollten, - war das etwa schon Sünde? Lene merkte, wie sie immer aufgeregter wurde. Sie zerknüllte ihr weißes Spitzentaschentuch zwischen den Fingern, merkte, wie ihr heiß wurde, wahrscheinlich bekam sie auch wieder einen roten Kopf. Verstohlen blickte sie zur Seite, wo ihre Freundinnen vielleicht von ähnlichen Gedanken drangsaliert wurden. Aber deren Gesichter sahen rein, weiß und himmelsschön aus. So sah sie natürlich auch aus, - jedenfalls für oberflächliche Blicke. Aber sah irgendjemand, wie es in ihr drinnen aussah? Am letzten Sonntag bei der Konfirmanden-Prüfung vor versammelter Gemeinde, als die Freundinnen zappelig und heiß vor Aufregung waren, da war sie die Ruhe selbst gewesen. Alles Gelernte saß in ihrem Kopf, das wusste sie, und sie konnte es ohne weiteres hervorholen und aufsagen, was war denn groß dabei? Aber jetzt, jetzt kam es doch erst darauf an, ob sie tatsächlich wollte, ob sie es wert war, ob nicht doch ihre vielen Missetaten, - kleine Lügen, Spöttereien, Frechheiten -, überwogen vor Gottes Angesicht?
Mit Herzklopfen ließ sie die Zeremonie über sich ergehen. Ihre beiden Konfirmationssprüche konnte sie natürlich auswendig. Sie waren aus der Offenbarung Johannes 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben“ und aus Jesaias 41,10: „Fürchte dich nicht, Ich bin bei Dir, weiche nicht, denn ich bin Dein Gott“. An das „fürchte dich nicht“ wollte sie sich halten, das nahm sie sich vor, das passte ihr gut.
Dann war alles überstanden. Unter dröhnend klingendem Glockengeläut traten sie hinaus, der Himmel war hell über den hohen Linden, die Luft frühlingsfrisch und herrlich. Lene atmete auf, hob das Gesicht zum Himmel. Da oben war er auf jeden Fall, der Gott, das spürte sie. Und gleichzeitig also jetzt dicht bei ihr. Naja, irgendwie würde sie es schon schaffen, ihr Versprechen zu halten.
Zu Hause besah sie ihre Konfirmations-Urkunde, die rundum mit feinen, alten und mit kunstvollen Schnörkeln versehenen Zeichnungen in zartem Grün versehen war. Das heilige Abendmahl bildete das Hauptbild unten, an den Ecken und Seiten war die Urkunde mit Geschehnissen aus dem Neuen Testament illustriert. Sie seufzte. Also gut: sie würde „getreu sein“, fürchten tat sie sich sowieso fast nie, bis jetzt jedenfalls nicht. Warum sollte sie jetzt damit anfangen, wenn Gott mit ihr sein würde?
Eine Woche später war die Schulzeit zu Ende.
Und jetzt? Schluss mit Lernen? Nach zehn Schuljahren hielt sie ihr Abgangs-Zeugnis in den Händen. Die Zensuren waren natürlich in Ordnung, aber sie freute sich nicht. Nein, wirklich nicht, war das nicht komisch? Die Klassenkameradinnen machten frohe und glückliche, zumindest zufriedene Gesichter. Sie spekulierten auf Arbeit, vielleicht als Haushaltshilfe oder in der elterlichen Landwirtschaft, vielleicht bei der Post. Und manche dachten sogar schon ans Heiraten. Dachten an den Märchenprinzen? Die große Liebe etwa? Oder schlicht ans Versorgtsein durch einen Ehemann, der Geld für beide verdiente?
Lene konnte es nicht ändern, sie war enttäuscht. Das bisschen Lernen sollte alles gewesen sein? Wieder einmal haderte sie mit ihrem Schicksal als Mädchen auf der Welt zu sein. Schade, schade, dass sie nicht ein Junge geworden war. Dann hätte sie gerade jetzt mehr Möglichkeiten gehabt. Was gab es denn für Mädchen? Gar nichts weiter? Sie war nicht nur enttäuscht, sie war empört.
„Freust dich gar nicht, Lenchen?“ fragten die Freundinnen. Alle umringten sie. „Hast doch die besten Noten!“
„Na und?“ Sie wusste, dass sie zum Erschrecken streng aussehen konnte, und das genau wollte sie jetzt auch. Die anderen Mädchen aber waren so fröhlich, die lachten sie einfach aus. Lene wandte sich ab. So wie die anderen war sie eben nicht. Nein, das würde ihr nicht gelingen, auch wenn sie sich Mühe geben sollte. Aber das wollte sie gar nicht. Nein, sich einfach zufrieden geben mit dem, was andere vielleicht von ihr erwarteten, das kam nicht in Frage. Vater und Mutter würden natürlich die guten Zensuren sehen, die sie so wichtig fanden. Tatsächlich hatte sie „sehr gut“ in Betragen, in Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe, in Religion, Deutsch, Englisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. Ein „gut“ stand da für Französisch, Naturwissenschaften, Singen und Turnen. Das einzige „genügend“ stand da natürlich für das elende „Schreiben“. Ja, das würden die Eltern alles zu sehen bekommen und sie deswegen loben. Sie selbst blieb aber am letzten Satz hängen, der untendrunter stand:
„Da Magdalena Wüst jetzt die Schule verlässt, um in das Elternhaus zurückzukehren, so wird sie mit den besten Segenwünschen für die Zukunft entlassen.“
Ins Elternhaus zurück? War das nicht beschämend? Im Elternhaus war sie vor der Schule und während der Schule doch die ganze Zeit schon gewesen. Sie überlegte: Nach Hause, dahin waren die Schwestern nach der Schule zurückgekehrt, hatten sich im Haushalt getummelt und geübt und sich auf Festen vergnügt, lustig und kritisch nach Verehrern Ausschau gehalten und sich erwachsen gefühlt. Mit dem Abgangs-Zeugnis in der Hand galt man als groß und die Kindheit war vorbei. Naja, was die Leute so dachten!
Mit gesenktem Kopf und einer zornigen Falte auf der Stirn kam sie nach Hause, hielt den Eltern ihr Zeugnis entgegen. Gnädig nahm sie Lob und Glückwünsche entgegen, bemühte sich Stolz und Freude zu zeigen. Mutterchen hatte ihr Lieblingsessen gekocht. Das war reizend von ihr.
Zum Glück hatte sie sich bald etwas anderes in den Kopf gesetzt. Etwas, das Vater ja ebenfalls schon vermutet und angedeutet hatte: ein Seminar? Danzig? Wieder zu Hause herumsitzen, das war jedenfalls nichts für sie, nein, bestimmt nicht. Was für Möglichkeiten gab es denn noch?
Freiheiten
Der Kaffee war ein Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste. Jedenfalls seit sie zusammen in der Haynstraße wohnten. Oft kam Kaki zum Kaffee herüber, oft trafen sie sich bei ihr in der Husumerstraße drüben. Oft gab es auch Kaffee mit Nachbarn.
Wenn das Wasser im Kessel kochte, der Filter auf der Kanne stand und es bereits betörend duftete, griff Lene eilig im Flur den Schlüssel vom Haken, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und lief die Treppe hoch.
„Frau Zettel? Kaffee ist gleich fertig.“
Oben ging die Wohnungstür. „Ach, Sie Gute! Komme gleich.“
Das war schon früher so gewesen. Schon kurz nachdem sie hier in Hamburg angelangt waren. Während Lene jetzt in ihre Küche zurückeilte, liefen auch ihre Gedanken unversehens zurück. Früher mal…
In den Jahren kurz vor dem Krieg, als sie selbst kaum hier angekommen war, da hatten sie auch schon zusammen Kaffee getrunken. Damals, Mitte der Dreißiger Jahre, war die liebe Nachbarin, Frau Zettel, nicht allein gekommen. „Ich kann die Lütte doch nicht oben lassen.“
Die Kleine knickste artig, spähte durch den Flur zur offenen Stubentür. „Onkel Viva da?“
Der alte Herr, kaffeedurstig wartend in seinem Sessel, war entzückt. „Na, unser Ilschen, was für eine Ehre.“ Er paffte sich in eine Venezuela-Duftwolke und musterte das junge, rotwangig-energische Persönchen. „Kaffee oder Malen?“
„Weißt du doch.“ Ungeduldig zappelte sie vor seinen übereinander geschlagenen Beinen. „Ich trink doch nicht Kaffee.“
„Immer noch nicht? Na, dann zu den Farben.“ Vorsichtig legte er die Zigarre auf den Messing-Ascher. Seine Knie knackten, als er sich erhob. „Lenchen, bringst mir den Muckefuck rüber? Dann habt ihr die Stube für euch.“
Frau Zettel trug schon das Tablett mit Tassen aus der Küche herein. „Machen Sie mir das Kind nicht eitel.“
Er schüttelte den Kopf: „Nee, so ist die nicht.“ Und er folgte der Kleinen, die bereits quer durch den Korridor hüpfte. „Das grüne Zimmer, das mag ich so.“
Er öffnete die Tür. „Ich hör immer Zimmer? Von wegen! Mein Atelier heißt das doch, wie du weißt. So viel Höflichkeit muss sein.“
„Malen Sie wieder, Herr Wüst?“ rief die Nachbarin.
Aber er war schon hinten in der Diele, winkte ab. „Schscht. Verraten wird nichts.“
Frau Zettel hörte ihr Töchterchen kichern und flüstern. Hatten die beiden ein Geheimnis?
„Kaffee kommt gleich.“ Lene schob die Zeitungen auf dem Tisch beiseite. „Immer Platz nehmen, liebe Frau Zettel.“ Sie wies auf das Kanapee, rückte für sich selbst einen Stuhl ab und setzte sich. Nur auf die Kante, denn sie sprang gleich wieder auf, um den Kaffee zu holen. Stillsitzen war nicht ihre Sache. Der Schreibtisch hatte sie lange genug festgehalten. Jetzt war Kaffee dran. Und dafür war auch die liebenswerte Nachbarin immer zu haben.
„Kekse?“ Sie hielt die Schale schon in der Hand. „Kennen Sie ja schon. Nichts Neues. Die Kinder mögen‘s auch mal gern süß.“
„Ihre selbstgebackenen? Ah, die mit ohne alles?“ Sie kicherte, „Nur mit Liebe, weiß ich ja.“
Lene nickte. „Mach‘ ich doch oft. Einfach und schnell.“
„So die Kinder, ja was machen die? Gute Fortschritte?“
„Naja“, Lene zögerte, „Alles ist eben anders. Sehr anders hier.“
Frau Zettel nickte.
Lene war schon wieder auf dem Weg in die Küche. Immer neugierig, die Nachbarin, dachte sie, obwohl von Herzen mitfühlend und aufmerksam. Aber Frau Zettel brauchte nicht alles zu wissen. Georg hatte es nicht leicht. Die Buben waren hier so hanseatisch, arrogant, eben weltoffen, manche eingebildet, wie auch immer, Lene selbst war da noch nicht so ganz im Bilde. Hanna in der Grundschule hatte es besser getroffen.
„Ich bringe den beiden eben was rüber“, rief sie der Nachbarin zu.
Mit der dampfenden Kaffeetasse und einem weiteren Kekstellerchen beladen durchquerte sie den dunklen Korridor und klinkte die Ateliertür mit dem Ellenbogen auf. Da saß der alte Herr vorgebeugt auf seinem Hocker an der Staffelei. Die kleine Ilse hatte er auf einen Stuhl vor den Kleiderschrank beordert. Da thronte sie, stolz und rot, weil sie sich doch so Mühe gab still zu sitzen. Das war nicht einfach. Und dazu noch das ständige „Sitz gerade! Schultern zurück. Hände ruhig, - Meine Güte, bist du zappelig. – Oh, Kaffee, wunderbar. Dank dir.“
„Hilft euch das hier?“ Lene setzte alles auf den Tisch ab und zwinkerte dem Kind zu. „Ich verrat‘ auch nichts.“
Sie ließ die beiden allein und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Frau Zettel gemütlich in der Sofaecke lehnte.
„Nu‘ aber, was?“ Lene goss ein, schob der Nachbarin das Milchkännchen näher und setzte sich endlich. „Was gibt’s denn so Neues?“
Während sie sich bemühte zuzuhören, schweiften ihre Gedanken ab. Frau Zettel merkte es nicht. Lene nahm die Tasse in beide Hände. Der Duft, ah! Sie nahm einen Schluck, lächelte zum Kanapee hinüber, nickte der Nachbarin zu. Dort hatte Paul immer…, Kaffeestunden damals…, nein, sie wollte das jetzt nicht zulassen. Vorbei ist vorbei. Aber das Früher drängte sich immer wieder in die Gegenwart vor. Das war wohl so bei alten Leuten. War sie so alt? Zu alt vielleicht für die Gegenwart? Sie straffte die Schultern, stellte die Tasse ab. „Nehmen Sie Kekse, Frau Zettel, - ach, ich seh‘, Sie haben ja schon.“
Das Lachen der Nachbarin war hell und fast mädchenhaft übermütig. „Wieder in Gedanken? Nein, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. - Wie kommt Hanna denn zurecht?“
Hanna. Ihre allerbeste alte Hanna-Freundin und die junge, tüchtige Hanna, ihre Tochter. Hanna und Georg. Die waren ihr geblieben, und das war die Gegenwart. Haltepunkte.
Lene schüttelte die Vergangenheit in die sauber geputzte Vergangenheits-Gehirn-Schublade. Verstauben sollte hier nichts. Aber alles hatte seine Zeit, und jetzt wollte sie die Nachbarschaft genießen. Die Frauen mochten sich, so unterschiedlich sie auch waren. Zum Kaffee gehörte ein Schwatz und entspannte Leichtigkeit. Eine kleine, kalte Dusche im Kopf, die erfrischte. So eine Abwechslung hatte sie schon immer gebraucht. So einen Plausch, liebe Menschen, mit denen man lachen konnte.
Als Ernst mit Ilschen aus dem Atelier kam, sprang die Kleine mit roten Wangen zu ihrer Mutter. „Du weißt das nicht, du weißt das nicht, Mami, und du darfst das nicht wissen.“
„So? Also doch ein Geheimnis?“
Ernst schmunzelte. „Nichts verraten, Ilschen.“ Und die Kleine legte verschwörerisch den Finger an die Lippen.
Die Kanne war leer. Die große und die kleine Nachbarin verabschiedeten sich dankend, Lene räumte den Tisch ab. Dann eilte sie wieder an den Schreibtisch. „Du hast wohl auch noch zu tun, Enn?“
„Bin schon weg, keine Sorge.“ Er lachte der Schwester ins Gesicht.
„Noch eine halbe Stunde, dann kommt Hanna aus der Schule.“
Ja, so war das früher gewesen. Bald nach ihrer Ankunft hatte sich die Vormittags- Kaffeestunde etabliert. Das war jetzt gute 16 Jahre her, turbulente, schreckliche und inzwischen neue, sehr andere Zeiten. Gewohnheiten waren da zum Anklammern wichtig, das hatten sie alle gemerkt.
Der Schreibtisch war ihr geblieben. Lene ging vor den Schubladen in die Knie. Sie wusste, wonach sie suchte. …
In Elbing gab es ein Lehrerinnen-Seminar in der „Kaiserin-Victoria-Schule“. Vater war Lehrer geworden, warum also sollte Lene das nicht auch fertigbringen? Sie musste ja nicht Gymnasialdirektorin werden, aber Lehrerin, das wäre doch wenigstens etwas.
Es gab auch noch einen weiteren Grund: Erst wenn sie zu Hause auszog, würde sie sich vielleicht mal erwachsen fühlen. Wie mochte das sein?
Sie verlor keine Zeit, meldete sich an mit Vaters Hilfe, und bekam am 11. April 1905 das nötige Führungs-Attest der Polizeiverwaltung zu Osterode ausgehändigt. Nachteiliges über ihre Führung war zum Glück ja nicht bekannt.
Soweit ihr Plan. Und den setzte sie durch. Zog also, schwupps, zu Hause aus. Und bereits nach wenigen Tagen stellte sich auch das ein, was sie selbst und sicherlich die Schwestern von ihr erwarteten: das Erwachsen-Gefühl. Jetzt konnte das richtige Leben losgehen. Jetzt entschied sie selbst weitgehend, wie sie ihre Tage und Nächte einteilte, was sie sonst so trieb. Ein klitzekleiner Haken war nur der Geldbeutel. Mit diesem Haken hing sie noch am Vater fest. Da waren die ehemaligen Schulkameradinnen natürlich besser dran, die jetzt selbst ihr Brot verdienten.
Elbing war nicht weit weg, aber doch weit genug, fand Lene. Nur etwa acht Kilometer vom Frischen Haff entfernt, konnte sie hier schon den Duft der großen weiten Welt schnuppern, oder nicht?
Elbing, das Wort stammte, wie sie lernte, vom ostgermanischen „Albing“, dem „weißen, hellen“ Fluss. Hell und nordisch wirkte auch die Stadt. Schlank wie der Turm der Nikolaikirche waren auch die Fronten der Patrizierhäuser am Hermann-Balk-Ufer, jedes in seiner individuellen, vornehmen Eigenart der Backsteinbaukunst gestaltet, die Fronten zur Straße hin. Der mächtige Bau des Heilig-Geist-Hospitals beeindruckte ebenso wie das schmucke Rathaus am Friedrich-Wilhelm-Platz mitsamt den rund um den viereckigen Marktplatz gelegenen hanseatischen Kaufmanns- und Bürgerhäusern. Hohe Fachwerkspeicherhäuser lagen am Elbingfluss. Die Stadtanlage war der Ostsee zugewandt und spürbar auf Handel ausgerichtet. Wie andere Hafenstädte wurde auch in Elbing der Schutz einer Ordensburg frühzeitig durch den naheliegenden Schutz des Fernhandelsplatzes ersetzt.
Ja, Elbing gefiel Lenchen. Die Stadt stand der schwesterlichen Hansestadt Danzig in nichts nach, fand sie. Noch vor rund 600 Jahren war Elbing die weitaus bedeutendere Hansestadt gewesen. Es hatte eine günstigere handelsgeografische Position. Erst als die Öffnung des Frischen Haffs weitgehend verlandete, verlor auch der Handel an Bedeutung.
Die berühmteste Verbindung zwischen Osterode und Elbing war natürlich der Oberländer Kanal, eine ausgetüftelte technische Meisterleistung. Das wusste jedes ostpreußische Schulkind. 1845, also 44 Jahre vor Lenes Geburt, begann man unter Leitung des Königsberger Ingenieurs Steenke mit dem Bau dieses Kanals. Er sollte eine Schiffsverbindung zwischen den 100 Meter höher gelegenen Seen des Oberlands und dem Drausensee bei Elbing und damit auch zum Frischen Haff werden. Fünf Geländestufen innerhalb der Seenkette wurden durch geneigte Ebenen miteinander verbunden. Auf diesen geneigten Landwegen wurden die Schiffe auf Eisenbahnwagen geladen und auf Schienen jeweils hinaufgezogen. Dampfer rollten so über Land. Es war eine etwa 200 Kilometer lange Verbindung zwischen den Seen, davon 41 Kilometer Kanal. Etwa 1860 war das technische Kunstwerk fertiggestellt. Die neue Schiffsstraße diente zunächst meist dem Güterverkehr. Als 1893 dann die Eisenbahnstrecke zwischen Elbing und Osterode gebaut wurde, verlor der Kanal an Bedeutung für den Handel, entwickelte stattdessen aber als einzigartige Kuriosität eine Anziehungskraft auf Feriengäste zu jeder Jahreszeit.
Lenchen reiste mit der Bahn. Direkt nach den Ferien fing das Lernen in Elbing an. Das war fast wie Schule, nur etwas „erwachsener“ und mit strengerer Beurteilung. Die „sehr gut“ fielen nicht mehr so einfach vom Himmel. Nur im Rechnen und Zeichnen lagen ihre Leistungen an dieser begehrten Spitze. Die Fächer waren ähnlich, Handarbeiten kam dazu und Geigenspiel. Letzteres sollten Lehrer üblicherweise beherrschen. 1905, im ersten Jahr kam sie in Klasse C, Zeugnisse gab es zu Michaelis vor den Herbstferien und zu Ostern 1906, da wurde sie versetzt in Klasse B. Ostern 1907 kam sie in die Klasse A, das war schon die höchste. In den letzten eineinhalb Jahren musste sie auch Lehrproben halten. Die waren dann mit „genügend“ beurteilt worden.