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Der Kampfring war mittlerweile zur Bühne zurückgebaut, eine Leinwand und eine Karaoke Anlage aufgestellt worden. Die jungen Leute, die als Letzte gekommen waren, erkoren aus ihrer Mitte einen rothaarigen Halbwüchsigen mit einem gefährlich aussehenden Sonnenbrand im Gesicht zum ersten Gesangsstar des Abends. Mit einer grauenhaften Version von U2 s „With or without you“ erklang ein Lied, das noch mehr längst vergessene Dämonen in Torben weckte und ihn noch tiefer in seine Trugbilder und Tagträume schleuderte.
Aber plötzlich war sie da, eine sanfte und vertraute Stimme, ganz nah an seinem Ohr, und eine warme Hand, die sich behutsam auf seinen Unterarm legte. Er konnte die Worte zuerst nicht verstehen und fragte wie in Trance: „Was … Was ist los?“
Aus dem Gemurmel wurden klare Sätze, die zu ihm durchdrangen: „Ich sagte, dass du unseren Song selbst in deinem jetzigen Zustand tausendmal besser singen würdest.“
Er blickte auf den Mund, aus dem die Worte kamen und versank, wie schon hunderte Male zuvor, in den darüber liegenden grünen Augen. Er sagte sich, dass sie nicht real sein konnte! Sie war nicht hier! Sein Verstand musste ihm einen noch übleren Streich spielen! Die langen, schwarzen Haare, die wunderschönen Lippen, all das bildete er sich nur ein. Ganz klar, er wurde verrückt!
Sie erkannte offenbar sogar in seinem glasigen Blick, was in ihm vorging und sprach weiter: „Torben, hörst du mich? Ich bin es, Julia!“
„Julia?“, die Schleier seines Rausches lüfteten sich ein klein wenig, „Julia, bist du es wirklich? Erst Levitt, dann du … Was machst du hier?“
Sie stöhnte auf und er bemerkte, wie erschöpft sie aussah, aber trotzdem schenkte sie ihm ein wundervolles Lächeln. „Na ja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten gehen. Und jetzt komm mit, ich bringe dich hier raus.“
Die halbvolle Flasche Schnaps auf der Theke zurücklassend, ließ sich Torben von ihr widerstandslos aus der Bar führen, weil es sich in diesem Moment wie das einzig Richtige anfühlte. Die Menschen um ihn herum nahm er längst nicht mehr wahr. Julia musste ihn unterwegs mehrfach stützen, denn seine Beine versagten ihm zunehmend den Dienst, er strauchelte und lief ständig Gefahr, in die Gosse zu stürzen. Unter großer Anstrengung gelang es ihr aber, ihn unbeschadet durch die Massen an Feierfreudigen zu schleusen und wenig später auf die Rückbank eines am Straßenrand abgestellten Toyotas zu wuchten. Während sie ebenfalls einstieg und die Tür hinter sich schloss, sah der noch immer benommene Torben plötzlich Levitts Hinterkopf vor sich. Als dieser sich umdrehte und fragend Julia anblickte, drückte sie gerade Torbens Hand und flüsterte ihm zu: „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Ich pass auf, dass dir nichts geschieht.“
Während der Betrunkene nur stumm nickte, brummte Levitt: „Sind Sie sicher, dass wir ihn wirklich brauchen? Er wird nur Ärger machen! Schauen Sie sich ihn doch nur einmal an! Ich habe schon Penner gesehen, die im Vergleich zu ihm wie Top-Manager wirkten.“
Julia schüttelte den Kopf: „Sie haben keine Ahnung, was in ihm steckt! Wir haben Dinge erlebt und gesehen, die die meisten Menschen nie erleiden müssen. Es ist nur verständlich, dass ihn das mitgenommen hat. Ich habe zugestimmt, Ihnen zu helfen, weil ich die Sache für mich zu Ende bringen möchte. Aber das kann ich nur mit ihm an meiner Seite! Also fahren Sie endlich los und bringen Sie uns hier weg!“
„Meinetwegen“, seine Stimme klang immer noch etwas knurrig, „aber ich fürchte, sobald er wieder nüchtern ist, wird er wohl erneut auf unsere Gesellschaft verzichten wollen. Ich glaube, er hat sich entschieden, sich einfach selbst zu Grunde zu richten.“
„Nein“, Julias Stimme war zwar leise, weil Sie Torben, der mittlerweile neben ihr weggenickt war, nicht aufwecken wollte, aber sie klang fest und entschlossen, „er hat nur versucht, alleine mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden, und das ist ihm nicht gelungen. Ich war zu hart zu ihm, und es war mein Fehler, ihn gehen zu lassen. Ich weiß, dass wir einander brauchen, um uns gemeinsam unseren Ängsten zu stellen, und er weiß es jetzt auch! Da bin ich mir ziemlich sicher!“
Levitt brabbelte noch eine Antwort, die wie ein sarkastisches „Na, wenn Sie es sagen!“ klang, und fuhr los. Julia hörte aber schon längst nicht mehr zu, sondern sah den schlafenden Torben lange an und flüsterte ihm zu: „Ich werde alles tun, um dir zu helfen!“ Es wirkte aber fast, als sagte sie das eher zu sich selbst.
II
Torben bezog gemeinsam mit Julia, Levitt und einem weiteren, jüngeren Mossad-Agenten namens Mosche Shalev, den er ebenfalls bereits kannte, ein paar nebeneinander liegende Zimmer in der zweiten Etage eines schäbigen Motels. Mosche wurde, seitdem er ihre kleine Truppe am Hamburger Flughafen in Empfang genommen hatte, die Rolle des Fahrers zuteil. Und Levitt? Ja, Levitt schien irgendwie zum Anführer ihrer Gruppe aufgestiegen zu sein. Er fällte mittlerweile nahezu alle Entscheidungen, ob nun wichtig oder nicht.
Torben versuchte, sich an möglichst viel zu erinnern, was in den letzten Stunden geschehen war.
Thailand lag noch nicht einmal zwei Tage zurück, und doch kam es ihm so vor, als sei eine kleine Ewigkeit vergangen. Julia hatte nicht gelogen, als sie davon sprach, ihn nach Hause bringen zu wollen, wenn man den Begriff Zuhause etwas weiter definierte und damit lediglich das Heimatland meinte, denn in Deutschland waren sie schon mal.
Er konnte sich durch seinen letzten Rausch nicht an jedes Detail ihrer Reise erinnern. Nachdem sie ihn in der Bar aufgelesen hatten, brachten sie ihn wohl gleich in sein Hotel und stellten ihn unter eine kalte Dusche, die ihn in die Lage versetzte, zumindest für die nächsten Stunden halbwegs auf den Beinen zu bleiben. Levitt und Julia packten – von seinen Flüchen und Verwünschungen begleitet, als das eiskalte Wasser auf ihn niederprasselte und sich in seinem Kopf wie tausend kleine Nadeln bohrte – eilig seine Sachen zusammen und beglichen die offenen Rechnungen. Als das erledigt war, verfrachteten sie ihn wieder in den Toyota und kündigten ihm an, dass ihr nächstes Ziel der Flughafen Bangkok sei. Torben, noch halb betrunken, hatte nur mit den Schultern gezuckt, was von beiden als Zustimmung aufgefasst wurde. Von der eigentlichen zweistündigen Fahrt bekam er nicht viel mit, weil er tief und fest schlief. Am Flughafen wurde er dann auch recht grob von Levitt geweckt, weil es Julia einfach nicht gelingen wollte.
Verschlafen und verkatert, wie er war, registrierte er kaum, dass sie ein uniformierter Flughafenbeamter am Zoll und allen anderen Kontrollen vorbei hastig zu einer Linienmaschine brachte. Sie hatten kaum ihre Sitze in der Business Class eingenommen, da rollte der Flieger auch bereits auf die Startbahn. Torben war mittlerweile sowieso alles egal, denn die Trunkenheit oder genauer die Betäubung seiner Nervenbahnen ließ langsam nach. Während Julia und Levitt ihre Sitze in Liegepositionen brachten, um sich auszuruhen, übergab er sich mehrfach auf der Flugzeugtoilette und fühlte sich hundeelend. Erst nach einigen Stunden, in denen er im Halbdunkel ständig und fast schon zwanghaft Julia in ihrem unruhigen Schlaf beobachtete, klangen die schmerzhaften Magenkrämpfe ab, und die Müdigkeit überwältigte ihn. Er wachte erst auf, als sie im Landeanflug auf Frankfurt am Main waren.
Julia schien genauso wie er noch ziemlich verschlafen zu sein. Sie lächelte ihm müde aber aufmunternd zu. Im Gegensatz zu ihnen beiden wirkte Levitt erstaunlich frisch. Irgendwie war es dem Mossad-Agenten sogar gelungen, sich zu rasieren. Als Torben das bemerkte, strich er sich unbewusst über seine langen Bartstoppeln. Er konnte sich nicht einmal mehr an seine letzte Rasur erinnern.
Die Temperaturen waren in Deutschland zwar bedeutend niedriger als in Thailand, aber eine strahlende Sonne verkündete, dass es ein angenehmer Frühsommertag werden würde.
Zeit, das schöne Wetter zu genießen, blieb nicht, denn Levitt drängte schon wieder zum Aufbruch, da sie ihre Reise mit einem innerdeutschen Flug nach Hamburg fortsetzen sollten. Und so bestand Torbens Frühstück dann auch lediglich aus einem Coffee to go in der Ankunftshalle, den er unbemerkt von seinen Begleitern mit etwas Cognac aus einer kleinen Schluckflasche aus einem Duty-Free-Shop aufpeppte.
Leidlich wiederhergestellt und am Nachmittag endlich in der Lage, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, erfuhr Torben erst in der Hansestadt, wo sie auf einen breit grinsenden Mosche trafen, warum sie so in Eile waren. Es war Julia, mit der er bisher kaum ein offenes Wort wechseln konnte, die ihn jetzt in einem kleinen Zimmer eines bestenfalls zweitklassigen Hotels darüber aufklärte.
Es war das erste Mal auf diesem Trip, dass sie wirklich allein waren und Torben erinnerte sich, dass ein ähnlicher Moment bereits mehr als zwei Monate zurücklag. Sie waren sich in Wien nähergekommen, obwohl Michael zu jener Zeit noch am Leben war, der, damals wie heute, wie eine riesige Mauer zwischen ihnen stand.
Julia brach als erste das Schweigen: „Torben, wie geht es dir? Ist soweit alles okay?“
Während sie bei ihrer Frage an der Tür stehen blieb, bewegte sich Torben in Richtung Bett, ließ sich darauf fallen und antwortete etwas scherzhaft: „Ich fühle mich so, wie ich aussehe! Die nächsten Tage sollte ich wohl lieber auf Alkohol verzichten.“
„Kannst du das denn?“ Die Bemerkung klang beiläufig, sollte ihn aber trotzdem direkt treffen.
Er ignorierte die Anspielung und stellte selbst eine Frage: „Okay, was um alles in der Welt machen wir hier?“
Sie seufzte, setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und sagte leise: „Ganz einfach – ich möchte, dass diejenigen, die für den Tod deiner Mutter und Michaels verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Aber, das ist …“ Weiter kam Torben mit seiner Antwort nicht, denn Julia schnitt ihm sofort das Wort ab und entgegnete energisch: „Kein Aber! Das sind wir ihnen schuldig! Es geht mir nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit!“
Kopfschüttelnd erwiderte Torben darauf: „Was wir wollen spielt keine Rolle! Julia, diese Geschichte ist zu groß für uns! Begreifst du das noch immer nicht? Diese Leute sind zu allem fähig! Gerade du müsstest das am besten wissen!“
„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, ihre Stimme wurde leiser, „sobald ich meine Augen schließe, sehe ich Michaels entstellten Leichnam vor mir.“
Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach: „Torben, ich muss mich dieser Sache stellen, um wieder ein normales Leben zu führen.“ Ihr Händedruck wurde stärker. „Und ich weiß, dass es dir genauso geht. Bevor wir beide damit nicht abgeschlossen haben, wird es auch keine gemeinsame Zukunft für uns geben.“ Torben schlug der Puls plötzlich bis zum Hals. Sie sprach von einem gemeinsamen Leben mit ihm, wovon er nicht mehr zu träumen gewagt hatte, denn er hatte sie nicht nur einmal enttäuscht. Nicht genug, dass er es war, der sich vor mehr als zehn Jahren von ihr getrennt hatte, er hatte sie auch allein gelassen, als es um die Organisation von Michaels Beerdigung ging, und er hatte ihr nicht beigestanden, als sie sich den Fragen der trauernden Verwandten stellen musste, ein weiteres Versäumnis, das er sich vorwerfen musste.
Julia wiederum hatte trotz allem an der Beerdigung seiner Mutter teilgenommen und ihm dadurch die nötige Kraft gegeben, diesen Tag durchzustehen.
Ihr Erscheinen verstand er aber im Nachhinein – so redete er es sich seit Wochen ein – nur noch als rein freundschaftliche Geste, da sie sich danach lediglich zweimal kurz sahen und während Torbens Vietnamreise weniger als ein halbes Dutzend Mal miteinander telefonierten. Und nach jedem dieser – in seinen Augen – unpersönlichen Telefonate hatte er sich schlechter gefühlt als vorher. Sie wurden dadurch nur zu weiteren willkommenen Anlässen, um zur Flasche zu greifen.
Aber vielleicht hatte sie ja nur etwas Zeit gebraucht, um – genauso wie er – etwas Abstand zu gewinnen und ihre Gefühle zu ordnen. Tief in seinem Inneren begann wieder ein Funke zu glimmen, sein Widerstand brach und er hörte sich selbst die Frage stellen: „Levitt und du, wie wollt ihr denn vorgehen?“
Ihr Händedruck löste sich, sie stand auf und lief in dem kleinen Zimmer langsam auf und ab.
„Wir haben eine Spur gefunden, die vielleicht zum Orden führen könnte. Sie hängt offenbar mit den Finanzgeschäften dieser Stiftung in Bad Mergentheim zusammen, die als Tarnung für die Priesterinnen gedient hatte.“
Torben erinnerte sich, sie waren damals bei ihren Nachforschungen auf das Deutschordensschloss in Bad Mergentheim gestoßen. In Unkenntnis, dass dort tatsächlich just zu diesem Zeitpunkt eines der wichtigsten Treffen des Ordnens stattfand, hatte Torben die Veranstaltung gestört, was dazu führte, dass seine Freunde und er gefangen genommen wurden. Es stellte sich heraus, dass die im Schloss ansässige Stiftung für Demografie und Pflege der deutschen Kultur eine der vielen Tarnorganisationen der Priesterinnen war. Nach ihrer Entdeckung hatten die Ertappten jedoch unverzüglich begonnen, die dort unterhaltenen Büros zu räumen und alle Spuren zu verwischen.
In Torben fing es zu arbeiten an. Julia könnte Recht haben. Obwohl der Orden unbeschreiblich mächtig und einflussreich war, hatten es seine Repräsentanten sicherlich dennoch nicht mehr geschafft, alle Unterlagen zu vernichten, die zum Beispiel in deutschen Finanzämtern oder den zuständigen Ministerien zu der Stiftung lagerten. So sehr sich die Priesterinnen auch anstrengt hatten, dieses Mal hinterließen sie bestimmt Brotkrumen, denen man folgen könnte.
Julia sprach bereits weiter: „Mosche hat die Ermittlungen der deutschen Behörden begleitet. Ihm ist der Vorname einer Person aufgefallen, die die Prokura besaß, die Finanzgeschäfte der Stiftung abzuschließen, nicht nur, weil er in seinen Ohren ziemlich ungewöhnlich klang, sondern auch, weil er ihn bei deiner Aussage, die du damals machen musstest, schon einmal gehört hatte. Er lautet Margot. Du weißt schon, Meisterin Margot! Das könnte eine gute Spur sein, glaubst du nicht?“
Torben dachte nach. Margot war nicht eine x-beliebige Vertreterin des Ordens. Sie wollte ihm damals zur Flucht verhelfen und hatte ihm gestanden, dass die Schwester seines Großvaters namens Hilde Schauweiler nicht im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen war. Sie war vielmehr der Trumpf gewesen, mit denen sein Vorfahr zur Zusammenarbeit mit dem Geheimzirkel genötigt und zu Höchstleistungen motiviert worden war.
Margots Familie wurde nach Kriegsende vom Orden auserwählt, Hilde an Kindes statt großzuziehen. Und so kam es, dass beide Frauen wie Schwestern aufwuchsen. Die Gefühle, die sie verbanden, hatten aber, je älter sie wurden, irgendwann nichts mehr mit Geschwisterliebe gemein. Margot hatte ihm erzählt, dass sie bis zu Hildes Tod nicht nur gemeinsam dem Orden dienten, sondern über all diese Jahrzehnte auch eine Liebesbeziehung pflegten.
Dennoch zweifelte er: „Julia, ich weiß nicht, ist das nicht alles etwas weit hergeholt? Sicherlich ist der Name Margot heute nicht mehr so geläufig, aber vor siebzig, achtzig Jahren war es keineswegs ungewöhnlich, sein Kind so zu nennen.“
„Ich bin noch nicht fertig!“, setzte Julia schnell fort, die spürte, wie Torbens Neugier erwachte. „Der komplette Name lautet Margot Wiese. Es gibt zwar keine Adresse zu ihr, aber wir sind in den Unterlagen auf eine weitere Frau namens Hilde Wiese gestoßen, für die die Stiftung Beiträge an die Rentenversicherungsanstalt abgeführt hat. – Verstehst du, zwei Schwestern, die beide für die Stiftung arbeiteten und laut den Unterlagen auch noch ungefähr gleich alt waren! Dazu die Vornamen Margot und Hilde! Es passt alles zusammen, meinst du nicht auch?“
Selbst Torben musste zugeben, dass dies ein erstaunlicher Zufall war und fragte gespannt: „Was habt ihr noch?“
In diesem Moment erkannte Julia, dass sie ihn am Haken hatte. Und Torben wusste es auch. Sie setzte sich wieder neben ihn. „Die Zahlungen der Stiftung an Hilde wurden vor fast neun Jahren eingestellt. Das könnte auf zwei Möglichkeiten deuten, zum einen, dass sie sich einen anderen Arbeitgeber gesucht hat oder zum anderen, dass sie …“
„ … verstorben ist“, beendete Torben den Satz.
Julia nickte.
„Mosche hat in den letzten Wochen unzählige Sterbeanzeigen durchforstet und Bestattungslisten eingesehen. Offenbar gibt es kein einheitliches Sterberegister in Deutschland. Du erinnerst dich vielleicht an den letzten Zensus. Dieser wurde ja auch mit fehlenden oder ungenauen Strukturdaten begründet. Auf jeden Fall hat er etwas gefunden.“
„Du sprichst sehr oft von diesem Mosche“, bemerkte Torben beiläufig und mit dem Versuch eines Augenzwinkerns.
„Was? Was soll das denn jetzt?“ Julia schüttelte ungläubig den Kopf. „Nichts weiter, es fiel mir nur auf. Ich wusste nicht, dass du so engen Kontakt zum Mossad hast. Also, auf was ist er gestoßen?“
„So intensiv war der Kontakt nicht. Ich glaube, sie wollten eher mit dir reden, aber du hast dich ja völlig abgekapselt. Wahrscheinlich hatten sie gehofft, über mich an dich heranzukommen. Offensichtlich lagen sie da nicht ganz daneben.“ Dieses Mal blinzelte sie ihm zu.
„Aber weiter, in dem Monat, in dem die letzte Einzahlung erfolgte, wurde die Urne einer Frau Hilde Wiese anonym, ohne Grabstelle auf einer extra für diese Fälle vorgesehenen Fläche eines Friedhofs in einem kleinen Ort namens Meldorf an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste beigesetzt.“
„Also deshalb sind wir hier. Aber wie kommt ihr darauf, dass uns das weiterbringt?“
„Weil sich ihr Todestag morgen jährt!“
III
Torben saß auf der Rückbank einer dunklen Mercedes Limousine. Julia, die ihre Augen geschlossen hatte, befand sich nicht einmal eine Armlänge entfernt und er hätte sie so gerne berührt. Aber soweit waren sie noch lange nicht.
Ihr Gespräch am gestrigen Abend hatte, nachdem sie ihm das Sterbedatum seiner Tante mitgeteilt hatte, nur noch einige Minuten gedauert. Sie hatte ihm lediglich noch eröffnet, dass sie hofften, heute Margot auf dem Friedhof zu stellen, falls sie an das Grab ihrer verstorbenen Geliebten zur Andacht kommen sollte. Danach hatte sie ihn mit Verweis auf ihre Jetlag-bedingte Müdigkeit allein in seinem Zimmer zurückgelassen.
Unter der Dusche waren seine Selbstzweifel zurückgekehrt. Doch er hatte auch so etwas wie einen Funken Hoffnung gespürt, eine Zuversicht seine Beziehung zu Julia betreffend. Er kannte sie schon seit seinem siebzehnten Lebensjahr. Vor zehn Jahren hatte er sich aus rein egoistischen Gründen von ihr getrennt. Heute wusste er, dass er damit vermutlich den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Aber vielleicht bekam er jetzt eine zweite Chance.
Als er wenig später mit der Hand das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel wischte, um sich endlich wieder einmal zu rasieren, fühlte sich das beinahe wie ein kleiner Neuanfang an. Es war fast, als trennte er sich mit den Bartstoppeln von einem Teil seines alten Lebens. Unbewusst verzichtete er danach – das erste Mal seit Wochen – sogar auf seinen abendlichen Schlummertrunk und ging gleich zu Bett.
Er wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Levitt und Mosche kehrten zurück und stiegen ins Auto ein. Das Zuschlagen der Türen sorgte dafür, dass Julia ihre Augen wieder öffnete und sich aufrecht hinsetzte.
Levitt wandte sich ihnen zu: „Sehen Sie das dunkelgrüne Eisentor, auf der rechten Seite?“ Torben und Julia nickten. „Es ist der einzige Eingang zum Friedhof. Es wurde gerade aufgeschlossen. Der Friedhof hat jetzt bis 19 Uhr geöffnet. Also stellen Sie sich schon mal auf eine längere Wartezeit ein, und machen Sie es sich bequem. Hoffen wir, dass die Priesterinnen sentimentaler sind, als man ihnen auf den ersten Blick zutrauen würde. – Und Torben, Sie sind der Einzige von uns, der Margot kennt. Das heißt …“
„Ich weiß, was das heißt!“
Mit Torbens ruppiger Bemerkung endete auch das Gespräch. Offensichtlich war keinem von ihnen nach weiterem Reden zumute. Es war 8.03 Uhr morgens.
Während Torben sich gerade ausmalte, wie er Margot stellen und was er ihr sagen würde, vertrat sich Julia wenig später mit Mosche die Beine. Als Torben sie mit einigen Croissants sowie gefüllten Kaffeebechern zurückkehren sah und bemerkte, wie ungezwungen sich der junge Mossad-Agent mit ihr unterhielt, ja fast schon flirtete, und es sogar schaffte, sie zum Lachen zu bringen, spürte er erst, welch langer Weg noch vor ihnen lag. Julia und er waren weit davon entfernt, wieder unbefangen miteinander umzugehen.
Die Sonne kletterte langsam aber stetig immer höher und sorgte dafür, dass sich der Innenraum der Limousine zunehmend aufheizte, sodass sie bald alle Fenster öffneten, um zumindest etwas kühlenden Luftzug zu haben. Etwa ab 9 Uhr besuchten die ersten Menschen den Friedhof. Meist waren es ältere und vom Leben gebeugte Männer und Frauen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen. Torben stellte sich jeden einzelnen von ihnen vor, wie sie anschließend an den Gräbern ihrer Lieben standen und im Stillen zu ihnen sprachen.
Gerade als seine Gedanken zu seiner Mutter abschweifen wollten, stieß ihn Julia leicht von der Seite an und zeigte auf einen ankommenden dunkelblauen Audi A6, der dreißig Meter von ihnen entfernt einparkte. Levitt und Mosche bemerkten ihn auch und Letzterer begann unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen.
Der Fahrer verließ kurz darauf den Wagen, öffnete eine der hinteren Türen und half einer Frau in einem dunkelgrauen Kostüm beim Aussteigen. Noch bevor sie ihr Gesicht sehen konnten, wusste Torben, dass es tatsächlich Margot war. Er sagte: „Ihr hattet Recht! Das ist sie!“
„Sind Sie sich vollkommen sicher, Torben? Vielleicht sollten wir sie näher herankommen lassen!“, zweifelte Levitt.
„Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher! Das ist Meisterin Margot!“, antwortete er mit einem grimmigen Ton in seiner Stimme. „Und sie wird uns jetzt zum Orden führen!“
„Nicht so schnell! Sehen Sie, der Chauffeur begleitet sie auf den Friedhof!“, gab Mosche rasch zu bedenken.
Torbens Hand lag jedoch bereits auf dem Türöffner der Wagentür und er erwiderte: „Das ist mir egal! Ich spreche sie einfach an! Was will sie schon machen, mich am helllichten Tage erschießen und wegrennen? Sie wird mit mir reden müssen!“
„Dann sollten Sie wenigstens eine Schutzweste tragen! Wir haben welche im Kofferraum!“, forderte ihn Levitt auf.
Torbens Antwort bestand nur aus zwei Worten: „Zu spät!“ Noch während er diese aussprach, entriegelte er die Tür, trat auf die Straße und ließ Julia mit zwei derb fluchenden Mossad-Agenten hinter sich zurück.
Margot hielt einen Strauß weißer Dahlien in der Hand und betrat mit ihrem Fahrer, einem circa einen Meter neunzig großen, athletisch wirkenden Mann mit dunklem Teint und nach hinten gegeltem Haar, den Friedhof. Torbens Abstand zu ihr betrug weniger als dreißig Meter und er folgte ihr zügig, um die Entfernung nicht noch größer werden zu lassen. Als er sah, wie sie einen kleinen Weg auf der rechten Seite einschlug, der unter einigen alten und schattenspendenden Platanen hindurchführte, beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Links und rechts des Pfades reihten sich moderne Grabsteine genauso wie verwitterte Putten und brüchige Steinkreuze, aber nichts davon konnte jetzt sein Interesse wecken oder ablenken. Er wollte nur noch eines: Margot stellen und dazu zwingen, ihm seine Fragen zu beantworten. Und je näher er diesem Ziel kam, umso mehr Adrenalin strömte durch seine Adern.
Das Knirschen des Sandes unter seinen Füßen, das seinen schnellen Schritt verriet, erregte wenig später die Aufmerksamkeit von Margots Begleiter. Er drehte sich zu ihm um, aber Torben war bereits zu nah und drängte einfach an ihm vorbei. Bevor der Leibwächter reagieren oder etwas sagen konnte, umrundete er auch Margot und stellte sich der sichtlich überraschten Priesterin in den Weg und begrüßte sie mit einem: „So schnell sieht man sich wieder!“
Der Bodyguard wollte Margot sofort von Torben wegziehen, aber seine Schutzperson überwand sehr schnell ihren ersten Schock, erhob die Hand und sagte: „Schon gut, Tim! Ich kenne diesen Mann!“
Der so Angesprochene schien trotzdem unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Er musterte Torben offen feindselig und antwortete: „Madam, wollen Sie wirklich mit ihm reden? Ich könnte …“





