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Als ich auf diese Stelle zu robbte, schlug mir das Herz bis zum Hals, da Meador ja jederzeit wieder auftauchen konnte. Aber nichts dergleichen geschah und so erreichte ich …“
Frau Kern brach mitten im Satz ab und griff erneut zur Tasse.
Torben, ungeduldig wie immer, fragte sofort nach: „Was erreichten Sie?“
„Was glauben Sie denn, was sie gefunden hat?“ Der Professor lächelte, als er das sagte. „Sie wird den geheimen Zugang zu den Altenburger Höhlen gefunden haben, den Meador genutzt hat, um nach und nach den Domschatz zu stehlen, während der Haupteingang von seinen Kameraden bewacht wurde. Nicht wahr, meine Liebe?“
„Ganz recht!“, bestätigte Frau Kern schmunzelnd die Vermutungen Professor Meinerts. „Ich fand damals einen Belüftungsschacht, der vermutlich künstlich in den Berg getrieben worden war, weil man ja die Höhlen auch als Luftschutzbunker nutzen wollte. Eigentlich war dieser Zugang mit einem schweren Eisengitter verschlossen, aber das stand jetzt offen und selbst ein Schloss konnte ich nirgends sehen. Der Schacht war schmal, gerade breit genug, dass sich ein erwachsener Mann noch durchzwängen konnte. Und Meador war genau dies offensichtlich gelungen.
Zufrieden mit meiner Entdeckung zog ich mich wieder zurück und versteckte mich in der Nähe hinter einigen mit Moos überzogenen Felsen. Ich brauchte Geduld, denn erst etwa eine Stunde später sah ich von dort, wie zunächst Meadors Kopf aus dem Loch hervorschaute und kurz darauf der restliche Körper folgte. Ich beobachtete ihn, wie er das Gitter wieder schloss und mit einigen Zweigen und Laub tarnte. Sein Rucksack schien mir jetzt prall gefüllt zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich offensichtlich gut gelaunt auf den Rückweg zu seinem Auto.
Ich folgte ihm wieder genauso vorsichtig und mit einigem Abstand. Wenig später sah ich, wie Meador, nachdem er seine Beute im Kofferraum verstaut hatte, gemeinsam mit Carl wegfuhr. Als ich mir relativ sicher war, dass sie nicht doch umdrehten, lief ich zum Lüftungsschacht zurück.
Dort angekommen, gelang es mir mit viel Mühe, das Gitter aufzudrücken. Ich blickte in die Dunkelheit, und mir schlug kühle und leicht modrige Luft entgegen, die mich frösteln ließ. Ich wollte unbedingt wissen, was dort unten war. An Ungeheuer und Monster glaubte ich sowieso nicht – nicht nach diesem Krieg – und Meador war wieder weggefahren. Vor wem sollte ich also Angst haben? Und so kletterte ich langsam die in die Felswand getriebenen Eisensprossen hinunter, die schon mit einer Rostschicht überzogen waren, immer darauf bedacht, auf dem nassen Metall nicht auszugleiten.
Es war ein schöner Frühlingstag Anfang Mai, sodass mir die mittlerweile hoch am Himmel stehende Sonne halbwegs Licht spendete. Außerdem sagte ich mir, sollte es zu dunkel werden, würde ich eben einfach umdrehen. Aber ich hatte Glück, als ich nach etwa zehn Metern wieder festen Boden spürte, stieß ich mit meinem Fuß an einen Gegenstand, der mit einem leisen, metallischen Klicken zur Seite rollte. Ich tastete danach und konnte es kaum fassen. Es war eine Taschenlampe! Meador musste sie zurückgelassen haben, vielleicht für seinen nächsten Besuch.
Sie funktionierte, und so konnte ich mich umsehen. Der Gang, in dem ich mich befand, war nur wenig größer als der Schacht über mir. Einige der Flächen erschienen unnatürlich glatt. Wahrscheinlich hatte man für die Belüftung der Höhlen, um sie als Bunker zu benutzen, einfach einen Felsspalt vergrößert. Der Gang verlief nahezu waagerecht und führte mit einer Rechtsbiegung von mir weg, sodass ich nur die ersten Meter ausleuchten konnte.
Selbstverständlich war ich unglaublich aufgeregt. Aber Umdrehen kam für mich damals nicht in Frage, zu groß war meine Neugier, was sich am Ende des Ganges verbergen könnte. Ich wollte es unbedingt wissen! Also drang ich mit Hilfe der Taschenlampe immer tiefer in die Höhle vor.
Ich war etwa dreißig Meter gegangen, da vernahm ich Geräusche. Ich schaltete das Licht so schnell ich konnte aus und hoffte, dass mich bislang niemand bemerkt hatte. Plötzlich fiel mir ein, dass es Meador sein könnte, der doch noch einmal zurückkehrte und sich mir nun von hinten näherte. Ich stellte mir vor, wie er längst das geöffnete Abdeckgitter und die fehlende Taschenlampe entdeckt hatte und jetzt den Eindringling mit gezogener Waffe jagte, bereit ihn zu töten. Schon spürte ich seinen starken Griff an meinem Hals. Ich bekam trotz der Kühle unter der Erde einen Schweißausbruch und Panik stieg in mir hoch. Was sollte ich nur machen? Er würde mich sicherlich jeden Moment ermorden, weil ich sein Geheimnis entdeckt hatte.“
Frieda Kern machte erneut eine Pause, blickte ihre Besucher an und fragte: „Noch etwas Tee?“
Torben prustete regelrecht los, so musste er lachen: „Tee? Sie fragen an der spannendsten Stelle der Geschichte, ob wir noch etwas Tee trinken möchten? Ich wage kaum zu atmen, damit ich alles, was Sie erzählen, auch ganz genau höre! Sie sind einfach unglaublich, meine Liebe!“
Frieda Kern lächelte und antwortete mit einem Augenzwinkern: „Ich weiß! Ich wollte ja nur feststellen, ob Sie mir noch zuhören.“
„Natürlich tun wir das. Und nun erzählen Sie schon, was passierte weiter?“, forderte Torben sie auf.
„Da ich vor Ihnen sitze, liegen Sie mit Ihrer Vermutung richtig, dass es nicht Meador war, der sich gemeinsam mit mir in der Höhle befand.“
Sie nippte erneut an ihrer Tasse und Torben lächelte in sich hinein. Ihre Gastgeberin verstand es wirklich, sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Er hätte sie gern in jüngeren Jahren kennengelernt. Er konnte sie sich gerade sehr gut als verwegenes dreizehnjähriges Mädchen vorstellen.
Sie sprach nun doch endlich weiter: „Da kein nach Blut lechzender Meador in der Dunkelheit auftauchte, beruhigte ich mich langsam und konzentrierte mich auf die Geräusche, die ich hörte. Sie kamen weder näher noch aus Richtung meines Einstiegs. Ihre Quelle lag also vor mir. Kurzerhand steckte ich mir die Taschenlampe in den Hosenbund, damit ich sie nicht aus Versehen gegen die Felsen schlug und tastete mich danach langsam und vorsichtig in der Dunkelheit weiter nach vorn. Nach einiger Zeit konnte ich die Wände und Konturen des Schachts wieder schemenhaft erkennen. Vor mir gab es also eine Lichtquelle. Außerdem wurden aus den unverständlichen Geräuschen langsam aber sicher mehrere Stimmen und kratzende beziehungsweise schlagende Laute.
Da ich wieder mehr sah, kam ich auch schneller vorwärts, und nach wenigen Minuten stieß ich auf eine geräumige Höhle. Sie lag etwa zwei Meter unterhalb meines Spalts, der durch einen Vorsprung in der Wand von unten sicherlich kaum zu erkennen war.
Ich legte mich auf den Bauch und kroch zum Ende meines Ganges. Vorsichtig spähte ich nach unten.
Ich sah dutzende große und kleine Kisten, provisorisch aus alten Brettern oder neuem, unbehandelten Bauholz gefertigt, die in der Mitte einer wahrlich riesigen Höhle lagerten. Ich wusste sofort, dass ich auf den Schatz der Quedlinburger Kirchen gestoßen war. Als durch die Bombenangriffe der Engländer die ersten historischen Gebäude in Deutschland brannten, hatten unsere Stadtoberhäupter nämlich beschlossen, vorsichtshalber alle wertvollen Gegenstände auszulagern, damit uns nicht das Gleiche widerfahren konnte. Nur wenige Eingeweihte wussten damals, wo die Sachen deponiert worden waren.
Wir Kinder träumten natürlich davon, zufällig auf diesen Schatz zu stoßen und plötzlich unermesslich reich zu sein. Mir war es offensichtlich gelungen! Und Meador auch! Plötzlich wurde mir klar, dass er nach und nach wie ein Grabräuber im alten Ägypten die historischen Artefakte plünderte.
Aber es gab auch noch andere, die von dem Aufenthaltsort wussten, denn von meiner vermutlich sicheren Position aus konnte ich zwei mir nicht bekannte Frauen beobachten, die sich im Lichte einer Petroleumlampe ebenfalls an einer der Kisten zu schaffen machten.“
Torben machte sich eifrig Notizen, und Frieda Kern wartete kurz, damit er mit dem Schreiben hinterherkam.
„Die ältere von beiden, sie trug eine zu große Männerjacke und eine graue Schirmmütze, gab Anweisungen, und die jüngere durchkramte den Behälter. Ab und an hielt sie einen funkelnden Gegenstand hoch. Doch jedes Mal schüttelte die Alte den Kopf. Das jeweilige Objekt wurde danach wieder sorgfältig in Papier, Lumpen oder Holzspäne verpackt.
Beide Frauen waren sehr erregt, und ich hörte, wie sie offensichtlich über jemanden schimpften, ihn gar fast schon verfluchten. Sie sprachen von dem ‚elenden Hund, der das Kreuz und den Flakon‘ mitgenommen hätte. Sie sagten, dass es besser gewesen wäre, ihn gleich zu töten. Außerdem wäre es ‚eine verrückte Idee‘ gewesen, die Hinweise in den Gegenständen zu verstecken. Ich nehme an, dass sie Meador meinten.“
„Moment, bitte nicht so schnell! Wenn Sie erlauben? Ich habe gleich an dieser Stelle ein paar Nachfragen“, unterbrach der Professor, und Frieda Kern reagierte mit einem kurzen Kopfnicken.
Professor Meinert setzte an: „Sie haben also vermutlich in der Altenburger Höhle, in der der ausgelagerte Domschatz lagerte, zwei Frauen überrascht?“
„Genau, das sagte ich.“
„Aber, wie kamen die beiden in die Höhle?“
„Sie wussten offensichtlich genauso wie Meador von den Belüftungsschächten. Ich sah, wie sie die Höhle etwas später durch einen anderen auf der gegenüber liegenden Seite verließen.“
„Also gab es mehrere davon?“
„Offensichtlich!“
„Ist Ihnen an den beiden Frauen irgendetwas Besonderes aufgefallen? Sprachen Sie sich mit Namen an?“, erkundigte sich der Professor weiter.
„Ihre Gesichter konnte ich kaum erkennen. Die Ältere war vielleicht um die sechzig. Die andere halb so alt. Sie trugen Hosen. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Das taten schon damals viele Frauen, weil es einfach zweckmäßig war. Die Kleidung war hochwertig, aber stark verschmutzt, als ob sie länger nicht gewechselt worden war. Es fielen weder Namen, noch kann ich mich sonst an irgendetwas Besonderes erinnern. Es tut mir leid.“
Torben gefiel nicht, wie der Professor die alte Dame regelrecht vernahm. Er schaltete sich wieder ins Gespräch ein: „Frau Kern, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Was Sie uns erzählt haben, hilft uns wirklich weiter. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, suchten die beiden Frauen nach zwei Gegenständen, die Sie ‚Kreuz‘ und ‚Flakon‘ nannten. Wurden sie noch fündig?“
„Nein, und das verärgerte sie ungemein. Sie beratschlagten, was sie tun könnten. Ich hörte, dass sie darauf hofften, dass die Gegenstände vielleicht irgendwo zum Kauf angeboten würden. In ihren Augen könnte der Soldat – sie kannten Meadors Namen ja nicht – die ganzen Sachen nicht ständig mit sich herumtragen.“
„Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass er sie per Feldpost nach Hause schicken würde“, brummte der Professor.
„Vermutlich“, pflichtete ihm ihre Gastgeberin bei.
„Und diese beiden Gegenstände, von denen wir gerade sprechen, Sie meinen, das könnten die beiden noch immer verschollenen Artefakte des Domschatzes sein?“, fragte Torben.
„Nach allem, was ich gelesen habe, fehlt noch immer von einem Bergkristallreliquiar in Form einer Bischofsmütze – das könnte der ‚Flakon‘ sein – und einem aufklappbarem Kruzifix – also nichts anderem als einem Kreuz – jede Spur! Meine Antwort lautet also: Ja!“ Torben bohrte nach: „Und Sie haben ganz genau gehört, dass in diesen Artefakten Hinweise versteckt gewesen sein sollen?“
„Ja, mein Sohn! Das sagte ich bereits!“, antwortete Frieda Kern freundlich und lehnte sich zufrieden zurück.
Mit der Bemerkung „Unglaublich“ tat Torben das Gleiche.
Professor Meinert hatte jedoch noch weitere Fragen und wandte sich nochmals an Frau Kern: „Haben Sie sich die Kisten genauer angeschaut?“
„Nein, das habe ich nicht. Ich hatte Angst, dass ich es vielleicht nicht schaffen würde, an der glatten Wand wieder in meinen Schacht hochzuklettern.“
„Meador ist es doch auch gelungen?“, wandte der Professor ein.
„Ja, er war aber auch ein erwachsener Mann und ich nur ein halbwüchsiges Mädchen!“, konterte ihre Gastgeberin. „Ich wartete noch einige Minuten in der Dunkelheit, bis die beiden Frauen, die wirklich unglaublich wütend darüber waren, dass ausgerechnet diese beiden Stücke ebenfalls entwendet worden waren, in ihren Felsspalt verschwanden. Danach trat ich ebenfalls den Rückweg an und kletterte nach einer knappen Viertelstunde aus dem Loch ins Freie.
Die Taschenlampe hatte ich zuvor selbstverständlich wieder an die Stelle gelegt, wo ich sie gefunden hatte, damit Meador bei einer eventuellen Rückkehr keinen Verdacht schöpfte. Das Lüftungsgitter schloss ich ebenfalls und tarnte es wieder mit Moos und Ästen. Als ich zu meinem Fahrrad ging, hielt ich nach den beiden Frauen Ausschau, schließlich mussten sie kurz vor mir an die Erdoberfläche zurückgekehrt sein, wenn auch an anderer Stelle. Sie hatten allerdings offenbar einen mir unbekannten Weg eingeschlagen, denn ich konnte sie nirgends entdecken.
Als ich endlich wieder auf meinem Rad saß, folgte ich einer spontanen Eingebung und radelte den Weg noch einen halben Kilometer weiter. Dabei umrundete ich quasi den Altenburger Berg. Plötzlich tauchten vor mir in einiger Entfernung ein Fahrzeug der US-Armee und zwei Armeezelte auf. Ich sah, dass einige GIs gelangweilt im Schatten einiger Bäume Karten spielten oder schliefen. Im Hintergrund konnte ich eine Felswand erkennen. Zufrieden, dass ich jetzt den Haupteingang zum Höhlensystem gefunden hatte, der tatsächlich wie vermutet von den Alliierten bewacht wurde, drehte ich um und kehrte nach Hause zurück.“
„Haben Sie damals irgendjemandem von Ihren Erlebnissen berichtet?“, wollte Torben wissen.
„Um Himmels willen, nein, natürlich nicht!“, lachte Frieda Kern. „Was glauben Sie denn, was mein Vater mit mir gemacht hätte? Er hätte mich für meinen Leichtsinn grün und blau geschlagen! Ich habe es schön für mich behalten und bin auch nie wieder dorthin gefahren.
Im Laufe der Zeit habe ich das Erlebte einfach vergessen. Andere Sachen in meinem Leben waren wichtiger. Familie, Beruf, Freud und Leid. Erst als der Schatz wiederentdeckt wurde und nach Quedlinburg zurückkehrte, erinnerte ich mich daran. Als dann auch noch von zwei fehlenden Gegenständen berichtet wurde, die just in meine Geschichte passten, erschien mir das sehr ungewöhnlich, sodass ich mit Verwandten oder Freunden – so wie jetzt mit Ihnen – darüber gesprochen habe.
Vorher hatte ich dies nicht ein einziges Mal getan. Damals genügte mir mein Wissen, dass Carl nicht Meadors Liebhaber war.
Er hatte ihn wahrscheinlich lediglich zur Höhle oder den Belüftungsschächten geführt. Vielleicht kannte Carl die Gegend von den Kriegsspielen und Manövern, die die Hitlerjugend immer dort abgehalten hatte und bei denen er möglicherweise zufällig auf die Zugänge gestoßen war.
Ach, eines fällt mir gerade noch ein: Ein paar Tage später sah ich die alte Frau aus der Höhle, wie sie sich in den Gasthäusern am Marktplatz herumdrückte und versuchte, mit den GIs ins Gespräch zu kommen. Allerdings wenig erfolgreich, weil denen anscheinend eher nach jungen Mädchen der Sinn stand.“
„Und haben Sie sie später noch einmal wiedergesehen?“, fragte Torben.
„Nein, weder davor noch danach! Nur dieses eine Mal in der Höhle und das andere Mal bei den Bier trinkenden Soldaten.“
Torben begriff, dass sie von der alten Dame alles erfahren hatten, an das sie sich noch im Zusammenhang mit der Altenburger Höhle, Meador und dem Domschatz erinnern konnte. Eher aus persönlicher Neugier fragte er jedoch noch: „Und was wurde aus Ihnen und Carl?“
„Eine Frieda und einen Carl gab es nie. Carl wurde wegen seiner Kontakte zu den Amerikanern bei den größeren Mädchen interessant, was mir natürlich das Herz brach. Aber ein, zwei Jahre später, die auch meiner körperlichen Entwicklung gut taten“, Frieda Kern blinzelte ihm verschwörerisch zu, „gab es andere Carls und irgendwann meinen Willi.“
Torben sollte sich noch Tage später daran erinnern, wie zärtlich sie bei den letzten Worten über den Rahmen der alten Fotografie strich.
XI
Darin waren sich Torben und der Professor einig: Frieda Kern hatte sich für ihre Sache als Glücksfall erwiesen. Wie so viele Male zuvor, hatten sie eher zufällig eine interessante Geschichte ausgegraben, die womöglich mit dem Orden in Verbindung stehen könnte. Jetzt hieß es, die Spur weiter zu verfolgen. Zwar war die seit Jahrzehnten erkaltet, aber an solche Herausforderungen hatten sie sich längst gewöhnt.
Als erstes trafen sie sich wieder mit den beiden Frauen und setzten sie kurz über das Gespräch mit Frieda Kern in Kenntnis.
Julia und Anna waren selbst nicht untätig gewesen und hatten die Zeit genutzt, um St. Servatius noch weiter zu besichtigen, einschließlich der Krypta in der höchstwahrscheinlich statt eines deutschen Königs eine junge Hexe beerdigt lag. Dadurch konnten sie mit eigenen Erkenntnissen glänzen.
Und so berichtete auf dem Spaziergang zurück zum Hotel zuerst Annabell: „Der Name des Doms geht auf einen der drei Eisheiligen, den Servatius von Tongern, zurück. Zwar vermischen sich in dieser Heiligenfigur vermutlich zwei historische Gestalten zu einer einzigen; besondere Verehrung in Deutschland erfuhr der Heilige Servatius aber, weil er den Einfall der Hunnen circa 450 nach Christus vorhergesagt haben soll.
Damals befand er sich der Legende nach auf einer Wallfahrt in Rom. Dort soll ihm der heilige Petrus erschienen sein, der ihm diesen bevorstehenden Angriff verkündete. Er reiste sofort ab und warnte die Bürger, die sich entsprechend wappnen konnten.“
„Die göttliche Erscheinung wird wohl viel eher auf die Hinweise der päpstlichen Spione zurückzuführen sein, die in der ganzen ihnen bekannten Welt unterwegs waren und der Kurie jede nur noch so unwichtige Information zukommen ließen“, vermutete der Professor.
„Das nehme ich auch an“, stimmte Anna ihrem Vater zu.
Torben, der so mutig gewesen war, Julias Hand zu greifen und sie jetzt hielt, kombinierte: „Im Ergebnis hieße das aber nichts anderes, als dass Mathilde, bei der wir vermuten, dass sie in Wahrheit eine Meisterin des Ordens gewesen ist, sich bei der Namensgebung ihres Stiftes in Quedlinburg bewusst für einen Heiligen entschieden hat, der durch sein Handeln das germanische Reich vor einem kriegerischen Einfall warnte, richtig?“
„Genau, ein erneuter genialer Schachzug des Ordens!“ Professor Meinerts Antwort wurde vom Kopfnicken der Frauen begleitet.
Anna redete weiter: „Wir haben uns außerdem den Kirchenschatz angesehen und wegen seiner Plünderung mit dem Kurator gesprochen.
Demnach hatte Meador 1945 unter anderem das Samuhel-Evangeliar, eine aus fast zweihundert Seiten bestehende Prachthandschrift, und den Reliquienschrein Heinrich des Ersten entwendet. Die Anzahl und Größe aller Stücke würde – glaubt man Frieda Kerns Geschichte – es tatsächlich nötig machen, dass ein einzelner Mann mehrfach in die Altenburger Höhle hätte einsteigen müssen.“
Julia ergänzte: „Wir wissen ferner, dass der Domschatz in der sogenannten Großen Höhle oder Champignonhöhle eingelagert gewesen war. Champignonhöhle deshalb, weil hier tatsächlich einmal diese Pilze gezüchtet worden. Während des Krieges sollen auch Teile der Quedlinburger Industrie dort untergebracht gewesen sein.“
„Der Betrieb der Maschinen der Produktionsstätten hätte bestimmt ein gewisses Belüftungssystem nötig gemacht“, dachte Professor Meinert laut nach. „Was für Frieda Kerns Geschichte spricht.“
„Solltet ihr vorhaben, euch die Örtlichkeit anzuschauen, wird daraus leider nichts“, fuhr Julia fort, „weil sich in den Hohlräumen 1980 einige ostdeutsche Philosophen mehrfach zu Feiern trafen, wurde der Zugang zur Höhle aus Angst vor ‚staatsschädlichen Zusammenrottungen‘ und ‚im Auftrag der kommunistischen Regierung‘ gesprengt. Ein Zugang ist seitdem nicht mehr möglich. Gleichwohl sollen wohl noch andere kleine Höhlen samt separaten Eingängen existieren.“
Julia blieb stehen und zwang Torben dadurch, das Gleiche zu tun. Sie sagte: „Außerdem, und hier wird die Geschichte für uns wieder interessant, hatte der Kurator noch zu berichten, dass man Jahre später zufällig auf einen Luftschacht der Großen Höhle stieß, der durch Naturschützer zu einer Einflugöffnung für Fledermäuse gemacht wurde.“
„Wieder etwas, was in Frieda Kerns Geschichte stimmt“, freute sich Torben. „Ich könnte dich küssen!“
„Vielleicht später“, antwortete Julia herzhaft lachend.
„Definitiv!“, kommentierte Torben gedanklich ihre letzte Bemerkung.
„Und was ist mit mir, wer küsst mich? Ich war auch dabei!“ Annabell tat gekränkt.
„Kommt schon Kinder, benehmt euch!“, schaltete sich Professor Meinert ein.
„Hey, bist du eifersüchtig?“ Annabell amüsierte sich über das Verhalten ihres Vaters und nahm ihn in den Arm. „Ich kann dich doch drücken!“
Dem Professor gefiel natürlich die Umarmung seiner attraktiven Tochter, die die neidischen Blicke etlicher Passanten auf ihn zog, trotzdem räusperte er sich und sagte: „Jetzt ist aber gut! Lasst uns endlich zum Hotel gehen.“
„Nicht so schnell“, Anna hatte sich wieder beruhigt. „Nur eines noch: Es wird die Herren freuen, dass wir nunmehr – quasi aus erster Hand des Kurators – wissen, dass tatsächlich aus dem Domschatz noch immer ein Bergkristallreliquiar in Form einer Bischofsmütze und ein gleichschenkliges Kreuz byzantinischer Herkunft aus dem 14. Jahrhundert, das man im Übrigen sogar öffnen konnte, fehlen. Beide Gegenstände wurden in Dallas nachweislich im Besitz Meadors gesehen. Sie sind also erst in den USA abhandengekommen.“
„Und vielleicht noch immer dort“, mutmaßte Torben.
Julia wurde misstrauisch: „Oh, oh, ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Herr Trebesius, du willst doch nicht etwa nach Texas und die beiden Artefakte suchen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Derzeit sieht es so aus, als ob in den beiden noch fehlenden Teilen des Domschatzes geheime Botschaften oder Hinweise des Ordens versteckt worden. Als Meador sie stahl, gerieten sie quasi außer Kontrolle. Der Orden wird sie zurück haben wollen und intensiv nach ihnen suchen.“
„Vielleicht hat er sie schon längst gefunden. Möglicherweise kehren sie nur deshalb nicht zurück“, gab der Professor zu bedenken. Er umfasste den Arm seiner Tochter und brachte sie so dazu, endlich den Weg weiter fortzusetzen. Julia und Torben folgten ihnen nach. Julia beugte sich dabei zu Torben und flüsterte ihm ins Ohr: „Seine letzte Aussage meint er doch nicht ernst oder?“
Torben grinste und sagte: „Nein, ich kenne ihn. Gedanklich geht er jetzt alle Optionen durch. Womöglich überlegt er bereits, ob er einen alten Kunstschieber auf dem amerikanischen Markt kennt, den er um Hilfe bitten könnte.“
Als er ihr Gesicht so nah vor dem seinen sah und bemerkte, wie gelöst sie im Moment war, umfasste er einem Impuls folgend ihre Hüfte und zog sie eng an sich. Seine Lippen fanden die ihren und ihr Mund öffnete sich bereitwillig.
Plötzlich ertönte die Stimme des Professors: „Dafür haben wir später noch Zeit!“
Torben und Julia, die sich wie zwei ertappte Teenager fühlten, trennten sich schnell voneinander und blickten ihm entgegen. Professor Meinert brummte nur, drehte sich um und ging zügigen Schrittes wieder weiter.
Torben sah jedoch, wie Annabell grinste und in Julias Richtung mit dem Mund Worte formte, die „Na endlich“ heißen konnten. Verwirrt blickte er zu Julia und sagte: „Ich versteh nicht ganz …“
Sie lächelte nur, hauchte ihm noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund und antwortete geheimnisvoll: „Ich weiß, dass du manche Sachen nicht verstehst. Du bist halt ein Mann. Manchmal braucht es einfach den richtigen Moment. So sind Mädchen eben. Und jetzt komm, sonst kriegen wir wirklich noch Ärger mit dem Professor.“ Julia machte sich von ihm los, eilte der wartenden Anna entgegen, hakte sich bei ihr ein und Torben sah keine andere Möglichkeit, als sich seinem Schicksal zu ergeben und seinem Mentor und den beiden kichernden Frauen zu folgen.
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