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Während des Essens schlief ich noch am Tisch sitzend voller Erschöpfung ein und wachte erst bei einsetzender Dämmerung wieder auf. Von den beiden Frauen fehlte jede Spur. Ich vermutete, dass sie zwischenzeitlich abgeholt worden waren. In der Hoffnung, richtig gehandelt zu haben, und dennoch voller Zweifel, ob meine Eltern noch am Leben waren, versuchte ich danach, mich zu Verwandten nach Eberswalde durchzuschlagen, weil mir eine Rückkehr nach Berlin zu gefährlich erschien.
Drei Tage später wurde ich aber von einer russischen Patrouille aufgespürt und gefangen genommen. Ich war weder Angehöriger der Waffen-SS, noch gab es anscheinend schriftliche Unterlagen zu meinem Aufenthalt im Führerbunker. Mein Soldbuch wies mich als einfachen Rottenführer aus, sodass ich vergleichsweise fair behandelt wurde. Zwar habe ich auch zwei Jahre in russischer Gefangenschaft in Irkutsk verbracht, aber das konnte ich ertragen.
Übrigens haben meine Eltern den Krieg überlebt und hatten dabei mehr Glück als Bormann, der einige Stunden nach meinem Aufbruch mit einigen anderen Insassen versucht hat, sich aus dem Führerbunker freizukämpfen und nicht sehr weit kam. Noch bevor ich das Päckchen und den Brief übergeben hatte, soll er sich in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 mit einer Giftkapsel umgebracht haben.
Verrückt, nicht wahr, vermutlich wusste niemand, welchen Auftrag mir Bormann gegeben hatte. Hätte ich versagt, wäre vermutlich rein gar nichts mit meinen Eltern geschehen.“
Reiher blickte grimmig und seufzte. Das Erzählen hatte ihn körperlich und das Erinnern emotional erschöpft.
„Haben Sie das Paket oder den Brief geöffnet?“, fragte Torben leise.
„Nein, meine Angst war viel zu groß. Ich habe natürlich oft über die Inhalte der Sendungen nachgedacht. Der Brief? Vermutlich Befehle oder Anweisungen für Truppenbewegungen. Etwas in dieser Richtung. Das Päckchen? Ich weiß es nicht, vielleicht wie bei Ihrem Großvater ein letztes Geschenk Hitlers an einige Getreue. – Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin durch das Erzählen sehr müde geworden, es war anstrengender, als ich dachte. Würden Sie mich jetzt bitte zurückfahren? Wir können ja ein anderes Mal weitersprechen“, bat Reiher.
Torben konnte seine Bitte verstehen. Er sah, wie dringend der alte Mann seine Ruhe brauchte, trotzdem startete er noch einen letzten Versuch, etwas mehr zu erfahren: „Ich kam eigentlich her, um etwas über meinen Großvater zu hören. Sie haben mir jetzt sehr viel über sich erzählt. Was glauben Sie, welchen Auftrag hatte er?“
„Es ist doch offensichtlich, mein Junge“, antwortete der Veteran müde. „So wie mir Bormann einen Befehl erteilte, gab Hitler anscheinend auch ihrem Großvater eine Order. Nur war Hitler so großzügig, Hans gleich ein Geschenk für seine Dienste – in Form seines Buches – zu überreichen. In den Augen des Führers sollte sein Werk durch die persönliche Widmung wohl wie eine Vollmacht für Ihren Großvater wirken, ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe unterstützen.
Hans und ich waren beide niedere Wehrmachtssoldaten ohne besondere Verbindungen zu hohen Offizieren, denen Hitler und sein engerer Stab zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht mehr trauten. Aber vor allem waren wir nicht wichtig, sondern das ganze Gegenteil, nämlich entbehrlich! Wir bekamen zivile Kleidung, um uns ungehinderter oder möglichst unerkannt bewegen zu können. Wenigstens glaubten sie das. Letztendlich übernahmen wir aber Himmelsfahrtskommandos. Niemand konnte wissen, ob wir es schaffen und unsere Ziele erreichen würden. Und trotzdem, so unwahrscheinlich es auch war, ist es sogar uns beiden gelungen, am Leben zu bleiben.
Ich habe vermutlich Befehle nach Wandlitz gebracht, die Göring oder Himmler zugehen sollten. Ihr Großvater hatte vielleicht die Aufgabe, Instruktionen oder Briefe anderen Funktionären zuzustellen. Das ist das ganze Geheimnis. Vielleicht gab es Dutzende von uns. Als ich Hans damals sah, war er in Begleitung eines Jungen. Vielleicht musste auch er einen ähnlichen Auftrag ausführen. Die einzige Frage, die ich mir später immer gestellt habe, betraf die Beweggründe Ihres Großvaters, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mich haben sie mit dem Leben meiner Eltern erpresst. Aber Ihr Großvater hatte keine Verwandten mehr in Berlin.
Nun ja, wir konnten heute Nachmittag leider nicht jedes Geheimnis lüften. Also, mein Junge, machen Sie sich keine weiteren Gedanken! Behalten Sie Ihren Großvater so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. Mehr steckt nicht dahinter!“
„Vielleicht haben Sie ja recht!“, entgegnete Torben, der unwillkürlich an die Widmung denken musste: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann.“
„Natürlich habe ich recht, ich sage es nochmals, wir waren entbehrliche, kleine und dumme Handlanger, mehr nicht!“, krächzte Reiher, der die Botschaft ja nicht kannte, und bekam einen Hustenanfall, der noch andauerte, als Torben ihn bereits wieder im Wohnheim einem Pfleger übergab.
Er hatte genug gehört und wollte ihn nicht länger quälen. Er bat den Betreuer, dem alten Mann später, wenn es ihm wieder besser ginge, nochmals seinen Dank für das Gespräch auszurichten, und hinterließ eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer, falls dem Veteranen noch etwas einfallen sollte.
III
Aufgewühlt von den Erzählungen Reihers, verbrachte Torben den späten Nachmittag und den Abend damit, sein Wissen über das Dritte Reich und – wie er es für sich selbst nannte – den Größenwahn der Nazis aufzufrischen. Relativ schnell wurde ihm klar, dass das Internet als Quelle für die für ihn so wichtigen letzten Kriegstage nicht ausreichend war, und er beschloss, einen Spezialisten zu konsultieren. Als geeignetster Kandidat erschien ihm Prof. Dr. George Meinert, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser galt – schenkte man den Veröffentlichungen Glauben – auf internationalem Parkett als Koryphäe. Einige Kollegen kritisierten jedoch – so musste er in den Artikeln seiner Berufsgenossen lesen – dessen dogmatische Haltung bei der Interpretation von Forschungsergebnissen. Mit sehr deutlichen Worten warfen sie Meinert vor, dass er keine anderen Meinungen zulasse. Sie bezeichneten ihn als beratungsresistent, exzentrisch und introvertiert. Für Torben, der immer schon ein Faible für Dissidenten und Querdenker hatte, wurde er jedoch dadurch nur sympathischer und er beschloss, den Professor in den nächsten Tagen aufzusuchen.
Bei Professor Meinert einen Termin zu bekommen, gestaltete sich schwieriger als gedacht, da ihm bei einem Telefonat mit dem zuständigen Institutssekretariat eine angenehme weibliche Stimme mitteilte, dass der Herr Professor seit einigen Wochen bis auf Weiteres vom Lehrauftrag freigestellt sei.
Torben, galant und charmant wie immer, wenn er von wildfremden Menschen Informationen brauchte, wusste zwanzig Minuten später, dass es sich bei der sympathischen Stimme um eine studentische Hilfskraft im achten Semester namens Melody handelte, die auch Vorlesungen bei Professor Meinert besucht hatte. Sie teilte Torben mit, dass sich der Professor institutsintern mit einigen Kollegen und Vorgesetzten überworfen habe. Für seinen Lehrstuhl werde derzeit ein Nachfolger gesucht und sein Büro sei bereits vollständig geräumt. Auf Nachfrage konnte sie zwar keine private Erreichbarkeit des Professors nennen, gab aber an, gehört zu haben, er würde – um sich etwas die Zeit zu vertreiben – am Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins kleine Führungen für Touristen übernehmen.
Torben bedankte sich bei Melody und erhielt als Gegenleistung für sein einnehmendes Wesen ihre Handynummer, natürlich mit dem Hinweis, dass sie sonst nicht so freigiebig sei, sie ihm aber – sollte er noch Fragen haben – gern behilflich sein wolle. Und da Melody nicht nur ein außergewöhnlicher Name war, sondern sie wirklich ganz sympathisch klang, notierte sich Torben tatsächlich ihre Nummer und heftete sie an seine Pinnwand. Vielleicht würde sich ja irgendwann eine Gelegenheit ergeben, sie persönlich kennenzulernen und festzustellen, ob ihr Äußeres dem Klang ihres Namens entsprach.
Torben erinnerte sich dank alter Recherchen daran, dass man bei einer behördlich zugelassenen und registrierten Firma angestellt sein musste, um als Guide in Berlin arbeiten zu können. Durch diese Information wusste er eine Stunde und sieben Telefonate bei Sightseeing-Agenturen später nicht nur, dass der Professor tatsächlich kleine Stadtrundgänge anbot, er hatte sogar für den nächsten Tag eine individuelle Führung bei ihm buchen können.
Um elf Uhr morgens lernte Torben den Professor dann auch tatsächlich kennen.
Bekanntermaßen gibt es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Der Professor beherzigte mit seinem Auftreten offensichtlich diesen Grundsatz. Statt eines älteren, zerzausten Gelehrten mit Nickelbrille und durchgewetzten Ärmeln sah sich Torben einem mittelgroßen, braun gebrannten und sehr gepflegten Mann reiferen Alters gegenüber, der augenscheinlich – so verrieten es Bauchansatz und leicht gerötete Nase – den Herbst seines Lebens in vollen Zügen genoss.
Der Professor trug einen hellen Leinenanzug mit weißem Hemd samt passendem beigefarbenen Halstuch. Ein weißer Strohhut und ein Spazierstock vervollständigten das Ensemble. In seiner ganzen Erscheinung erinnerte er Torben eher an den jungen Hemingway als an einen steifen Akademiker.
Das Bemerkenswerteste an seinem Auftritt bestand jedoch darin, dass er in Begleitung eines braunen Chiwawas erschien, den er an einer Leine führte. Torben musste schmunzeln, als er sah, wie vorsichtig und behutsam der kräftige Mann mit dem winzigen Hund umging, anscheinend sogar mit ihm redete. Der Professor war Torben vom ersten Augenblick an sympathisch.
Insgeheim hatte er gefürchtet, Professor Meinert aufgrund des Verlustes seines Lehrstuhls in niedergeschlagener Stimmung vorzufinden. Als sie sich aber gegenüberstanden, wurde er vom blanken Gegenteil überrascht. Der Professor begrüßte ihn mit einem freundlichen und offenen Lächeln. „Ah, lassen Sie mich raten, Sie müssen Herr Trebesius sein. Richtig? Ein wirklich außergewöhnlicher Name, vielleicht können Sie mir ja später etwas über seinen Ursprung erzählen. Wie ich höre, zeichnen Sie sich durch einen erlesenen Geschmack aus, weil Sie darauf bestanden haben, dass ich Ihre Führung übernehmen soll. Mir wurde nämlich gesagt, Sie hätten ausdrücklich nach mir verlangt.“ Der Professor kicherte kurz, ehe er munter weiterplapperte. „Oder wollen Sie mir etwas verkaufen oder mich gar ausrauben? Nein? Ein kleiner Scherz! Na ja, wie dem auch sei, wie Sie sicherlich schon erraten haben, bin ich Professor Meinert und dies ist Gertrud, sozusagen meine bessere Hälfte, die mich seit einigen Jahren begleitet.“
Als der kleine Hund seinen Namen hörte, wedelte er freudig mit dem Schwanz. Der Professor ergänzte dessen ungeachtet sofort: „Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen wunderschönen guten Morgen! Was möchten Sie gerne besichtigen? Wir könnten uns die Ausstellung ‚Topographie des Terrors‘ ansehen oder wir wandeln durch die Ministergärten und ich erzähle Ihnen, wie es 1945 hier aussah. Oder wollen Sie sich tatsächlich das Holocaust-Mahnmal ansehen? Hoffentlich verlangen Sie dann aber nicht, dass ich etwas schaffe, was bisher keinem gelungen ist, nämlich eine Interpretation für dieses Bauwerk zu finden. Aber nun reden Sie doch endlich!“
Torben, der zwischenzeitlich nur kurz genickt hatte, als es um die Bestätigung seiner Person ging, nutzte die kurze Unterbrechung im Redeschwall des Professors, um sich erst einmal selbst vorzustellen. „Guten Morgen, Herr Professor, wenn Sie möchten, können Sie mich gerne Torben nennen.“
Die Reaktion darauf kam rasch und war überaus freundlich. „Gut, gut, das mache ich gerne. Mein Vorname lautet übrigens George. Und ja, eh Sie fragen, der Name ist recht ungewöhnlich für jemanden, der gerade noch im Berlin des Nationalsozialismus geboren wurde. Aber was soll ich sagen, meine Mutter war seit der Verfilmung des Buches ‚Die Reise nach Tilsit‘ von Hermann Sudermann, die 1927 in die Kinos kam, in den amerikanischen Schauspieler George O’Brien vernarrt. Und so heiße ich eben nicht Georg, sondern George.“
„Es freut mich ungemein, Sie kennenzulernen, George“, wurde er von Torben unterbrochen, der nicht wollte, dass der Professor, der offenkundig das Dozieren vor Studenten gewohnt war, wieder in einen Monolog verfiel. „Ich bin mir sicher, dass Sie ein hervorragender Stadtführer sind. Vielleicht können wir irgendwann auch einmal gemeinsam eine Führung machen, aber heute bin ich hier, um Ihnen etwas zu zeigen und Ihre Meinung dazu zu hören.“
Der Professor, offenkundig von diesem Anliegen überrascht, stutzte kurz und antwortete: „Dies ist normalerweise nicht das übliche Prozedere. Als professioneller Stadtführer müsste ich jetzt sicherlich entrüstet ablehnen, aber als Gelegenheitsarbeiter, der ich bin …“ Er zuckte mit den Schultern. „Also gut, Sie haben mich neugierig gemacht. Um was handelt es sich denn? Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mein Wissen über das Dritte Reich benötigen?“
Torben hatte zwischenzeitlich das Buch aus seiner Umhängetasche geholt und reichte es dem Professor. „Damit liegen Sie goldrichtig! Ich hoffe, Sie können mir hiermit weiterhelfen?“
Der Professor rückte seine Brille zurecht, ließ die Schlaufe der Hundeleine über das Handgelenk auf den Unterarm gleiten und nahm das Buch entgegen. „Oha, ‚Mein Kampf‘ von Adolf Hitler. Sie wissen schon, dass hier nicht der richtige Ort ist, dieses Buch so offen zu zeigen.“ Er blickte ihn über den Rand seiner Brille an. „Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen“, forderte er Torben auf. „Vielleicht durch die Steinquader des Mahnmals? Dort sieht wenigstens nicht jeder, worin wir beide schmökern.“
Torben nickte und beide näherten sich den ersten Stelen des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“.
„Das Buch ist in erstaunlich gutem Zustand. Aber was wollten …“ Die Stimme des Professors erstarb, als er die erste Seite aufgeschlagen hatte und die Widmung las. Er hielt in seinen Bewegungen inne, sodass Torben und Gertrud auch stehen bleiben mussten. Die kleine Hundedame nutzte sofort die Gelegenheit, um am nächsten Steinquader zu schnüffeln,
„Sehr interessant. Ist das authentisch? Wurde das Buch wirklich an seinem Todestag signiert?“
„Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir vielleicht sagen“, antwortete Torben.
„Ganz so einfach ist das nicht, mein junger Freund! Wo haben Sie das Buch her? Und vor allem: Wissen Sie, wer es vom Führer bekommen hat? Der Kreis der Menschen, die ihn in seinen letzten Stunden sahen, ist recht überschaubar. Einer von ihnen könnte es jedoch tatsächlich erhalten haben, denn die Handschrift ähnelt schon stark der des Führers. In den letzten Wochen vor seinem Tod sollen in Hitlers Armen Lähmungserscheinungen aufgetreten sein. Er war ein kranker Mann und das Schreiben fiel ihm zunehmend schwer. Ich bin aber natürlich bei Weitem kein Gutachter.“
Torben holte kurz Luft und begann zu erzählen: „Das Buch stammt aus dem Nachlass meines verstorbenen Großvaters. Ich vermute, dass er es persönlich vom Führer unmittelbar vor dessen Suizid empfangen hat.“
In den folgenden Minuten setzte er den Professor darüber in Kenntnis, was er von Konrad Reiher über seinen Großvater und deren beider Anwesenheit im Führerbunker erfahren hatte. Erst als er endete, registrierte er, dass sein Zuhörer ihn dieses Mal nicht unterbrochen hatte. Vielmehr glänzten dessen Augen regelrecht und fast erweckte es den Eindruck, als ob der Professor plötzlich frischer und jugendlicher aussah.
Als er sicher sein konnte, dass Torben seine Ausführungen abgeschlossen hatte, erwiderte Professor Meinert: „Mein lieber junger Freund, ich glaube, das ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft!“ Er lachte und legte seine freie Hand auf Torbens Arm. „Ihre Geschichte und Ihre Nachforschungen sind höchst interessant. Sie eröffnen einen völlig neuen Blick auf die letzten Tage des Tausendjährigen Reiches. Sie sind von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Ich bin sehr froh, dass Sie den Weg ausgerechnet zu mir gefunden haben. Sie kommen allerdings“ – der Professor seufzte und ließ Torben los – „zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt zu mir. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich meinen Lehrstuhl abgegeben und mich sozusagen ins Privatleben zurückgezogen habe.“ Der grimmige Blick des Professors verriet, dass dieser Schritt nicht freiwillig erfolgte.
„Das weiß ich bereits“, entgegnete Torben. Schon wenige Minuten nach der herzlichen Begrüßung durch den Professor hatte er entschieden, den für ihn richtigen Experten für seine Recherchen kennengelernt zu haben. Jetzt wollte er ihre Zusammenarbeit nicht mit einer Lüge beginnen. „Ich habe gestern mit dem Sekretariat Ihrer Fakultät gesprochen. Ist es unhöflich, nach dem Grund Ihrer Entscheidung zu fragen?“
„Keineswegs, Torben! Zugegebenermaßen werden Sie mein Motiv allerdings vielleicht als höchst banal betrachten. Ich habe bei meinen Forschungen die Rolle der Alliierten schon immer sehr differenziert betrachtet. In einem meiner letzten Gutachten habe ich mich nun dazu hinreißen lassen, mich diesbezüglich noch kritischer als jemals zuvor zu äußern. Es ging dabei um den Tod von neun Jungen der Hitlerjugend, die – so belegen es neu aufgetauchte Unterlagen – im März 1945 bei Treseburg im Harz von US-Soldaten erschossen, oder besser gesagt, hingerichtet wurden. Da aber die HJ eine von der Wehrmacht unabhängige Organisation und ihre Mitglieder, formell genommen, somit keine Militärangehörigen waren, habe ich das Handeln der US-Amerikaner im Rahmen meiner Gutachtertätigkeit im Strafverfahren als Mord eingestuft. Bekanntlich kann dieser nicht verjähren. Was zur Folge hätte, dass die an der Tat beteiligten und noch lebenden GIs hätten verhaftet werden müssen.
Seine Magnifizenz – der Rektor meiner Hochschule – sowie der Kanzler und einige andere sahen den Fall jedoch völlig anders und verlangten von mir, dass ich das Gutachten zurückziehen, abändern und den Terminus Kriegsverbrechen verwenden solle, was nebenbei gesagt impliziert, dass die Handlungen nicht mehr verfolgt werden können. Als ich den Damen und Herren sagte, was sie mich mal können, war dies wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von meinem Standpunkt aus betrachtet hätte ich aber nicht nur meine wissenschaftliche Meinung aufgegeben, ich hätte die für einen Forscher notwendige Unabhängigkeit verloren.
Mittlerweile habe ich sogar eine Vermutung, was den möglichen Hintergrund der Bitte oder Order betrifft, ganz wie Sie wollen. Offensichtlich strebt meine Hochschule eine Kooperationsvereinbarung im Bereich der Forschung mit einer finanzstarken Universität an der Ostküste der USA an. Verständlicherweise möchte man den zukünftigen Partner nicht mit amerikakritischen Enthüllungen vor dem Kopf stoßen.
Und so – wieder einmal um einige Illusionen ärmer – habe ich unlängst beschlossen, in den sofortigen Ruhestand zu treten. Die Entscheidung fiel mir zumindest in finanzieller Hinsicht leicht, da ich vor einigen Jahren das ausgesprochene Glück hatte, eine größere Erbschaft anzutreten. Einen solchen Vorgang kann ich jedem nur empfehlen.“
Torben, der dem Professor aufmerksam zugehört hatte, sagte: „Ich bedauere sehr, wie man mit Ihnen umgegangen ist, George. Die Frage ist aber nun, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, denn mir persönlich ist es völlig egal, ob Sie noch eine Professur innehaben oder nicht!“
Das Gesicht des Professors hellte sich augenblicklich auf und er erwiderte: „Sie haben recht, Torben! Es ist töricht, Trübsal zu blasen und ewig einer verflossenen Liebe nachzuweinen! Die Devise muss lauten: Auf zu neuen Ufern! Also, Sie halten mit diesem Buch eine unglaubliche Chance in der Hand, das Ende und womöglich das Erbe eines der größten Diktatoren der Geschichte der Menschheit etwas aufzuhellen. Ich verfüge zwar über keine Mitarbeiter mehr, die mich bei meinen Forschungsarbeiten unterstützen, aber wir, ich meine damit Gertrud und mich“, er streichelte der inzwischen deutlich gelangweilten kleinen Hundelady den Kopf, „würden uns freuen, wenn wir Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen können. Und außerdem wird das – sollten wir erfolgreich sein – meinen früheren Arbeitgeber ziemlich verärgern.“
Der Professor lachte erneut, setzte zum Weiterlaufen an und reichte Torben das Buch. „Hier, nehmen Sie es zurück! Die Widmung habe ich mir sowieso gemerkt. Es gehört ja Ihnen, aber achten Sie gut darauf. Wir werden den Wälzer bestimmt noch brauchen. Um das Rätsel zu lösen, schlage ich vor, dass wir uns erst einmal gedanklich in die letzten Kriegstage zurückbegeben. Meinen Sie nicht auch?“
Torben, der gerade unter den neugierigen Blicken Gertruds, die wohl auf ein Leckerli hoffte, sein Buch verstaute, nickte kurz als Zeichen der Zustimmung.
Der Professor, abermals gut gelaunt und voller Elan und Tatendrang, hatte nun endlich wieder die Gelegenheit, sein lebenslang erworbenes Wissen über das Dritte Reich und den Nationalsozialismus weiterzugeben, und es bereitete ihm großes Vergnügen. Fast schon theatralisch setzte er an: „Beginnen wir also mit der ersten Unterrichtsstunde! Sie hätten keinen besseren Ort für den Anfang unserer Reise in die Geschichte wählen können!“
Professor Meinert und Torben gingen langsam zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals hindurch. Weil nicht genügend Platz war, mussten sie hintereinander laufen. Torben sah, wie der Professor ab und an seine Hand über die Steinquader gleiten ließ.
„Waren Sie jemals vorher hier, mein junger Freund?“, fragte er ihn, während er sich umdrehte.
„Nun ja“, gab Torben etwas verlegen zu, „ich habe zwar eine Wohnung im Wedding, aber ich bin viel unterwegs und verbringe wenig Zeit in Berlin. Um ehrlich zu sein, ich habe mir das Mahnmal noch nie richtig angeschaut.“
Professor Meinert hatte nicht vor, ihn zu kritisieren. „Das ist nicht schlimm! Ich verstehe das, Sie sind ein junger Mensch und voller Leben. Der Tod sollte Sie jetzt noch nicht beschäftigen.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dieses Mahnmal erinnert an eines der dunkelsten Kapitel des Dritten Reiches. Ich will Ihnen nichts vormachen, vielleicht müssen wir uns genau mit diesen Dingen auseinandersetzen.“
Gertrud, die jetzt etwas ängstlich schien, was nicht verwunderlich war, da die Stelen bisweilen selbst die beiden Männer überragten, wurde vom Professor auf den Arm genommen. „Es sind übrigens zweitausendsiebenhundertelf Betonpfeiler, die in parallelen Reihen auf einer Fläche von fast zwei Hektar aufgestellt wurden. Jeder der grauen Pfeiler ist etwa einen Meter breit und zweieinhalb Meter lang.“ Jetzt kam bei ihm doch noch der Stadtführer durch. „Die Höhen reichen von zwanzig Zentimetern bis fast fünf Meter. Wie Sie vielleicht erkennen können, ist das Stelenfeld sanft, aber unregelmäßig geneigt. Optisch ergeben die Steine eine Welle“, klärte der Professor Torben auf. „Die Quader sind nur der sichtbare Teil des Mahnmals. Zu dem Komplex gehört auch ein unterirdisches Museum mit einer Namensliste der bekannten jüdischen Holocaustopfer. Die Stelen sollen wohl an Grabsteine erinnern, da Ähnlichkeiten zu den Sarkophag-Gräbern jüdischer Friedhöfe bestehen. Aber nicht einmal bei der Eröffnung 2005 gab es eine offizielle Interpretation der Architektur, nur verschiedene Deutungen. Wissen Sie, nicht nur deshalb ist die Gedenkstätte umstritten“, führte er weiter aus. „Der Holocaust hat nicht nur Juden, sondern auch andere Opfergruppen hinweggerafft. Es hätte auch ein gemeinsames Mahnmal geben können. Um es zu finanzieren, wurde zudem bei anderen Gedenkstätten rigoros gestrichen. Die Hälfte der Stelen wies überdies bereits nach drei Jahren Risse auf und etliche werden deshalb jetzt mit Stahlbändern gesichert. Auch die Bauarbeiten wurden seinerzeit einmal unterbrochen, als bekannt wurde, dass der Anti-Graffiti-Schutz der Stelen – offensichtlich ist so eine Versiegelung in Berlin vonnöten – durch die Degussa AG aufgetragen werden sollte. Deren Tochterfirma Degesch hatte im Dritten Reich das Giftgas Zyklon B hergestellt, mit dem die Juden in den Konzentrationslagern vergast wurden.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich nicht, wie unsensibel und unwissend Menschen sein können. Aber genug davon, wir sind an der Stelle angekommen, die ich Ihnen zeigen wollte.“






