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Der Professor, der nur etwa zwei Meter in den Raum getreten war, stand mit dem Rücken zu Torben und blickte auf den oberen Abschluss des Türrahmens, den beide soeben durchschritten hatten. Er sagte: „Multi quarent intrare et non poterunt.“
„Bitte? Was haben Sie gesagt?“, fragte Torben nach, da er mit der Bemerkung nichts anfangen konnte.
„Multi quarent intrare et non poterunt“, wiederholte der Professor und zeigte auf den Türrahmen. „Ich kenne diesen Spruch. Die Übersetzung lautet: Viele wollen eintreten und können es nicht!“
Torben ging zurück und sah, dass das Holz des oberen Rahmens diese Inschrift aufwies. Als er Professor Meinert fragend anblickte, bemerkte er, dass dieser lächelte.
„Dieser lateinische Satz, mein junger Schüler, weist auf das Recht des Schlossherrn hin, darüber zu entscheiden, wer sein Haus betritt. Eigentlich müsste er über dem Eingangstor des Schlosses stehen.“
„Wir sind aber schon im Inneren!“, gab Torben zu bedenken.
„Richtig! Die Frage ist nun, warum wurde er dennoch hier angebracht.“ Der Professor ließ seinen Blick an der Holzverkleidung links und rechts neben der Tür entlangschweifen. Plötzlich hielt er inne, trat einige Schritte nach rechts und ging zielstrebig an die Wand heran. Er dreht sich lächelnd zu Torben um und sagte: „Willkommen im Arbeitszimmer Heinrich Himmlers!“ Er griff in eine Vertiefung in der Holzverkleidung, die Torben bislang nicht bemerkt hatte, und zog ein Teil des Holzes wie ein Portal auf. Dahinter kam eine schwere Holztür zum Vorschein.
„Wirklich nicht schlecht, George! Seien Sie sich meines größten Respekts gewiss!“, lachte der überraschte Torben.
„Moment, Moment!“ Um größtmögliche Ernsthaftigkeit bemüht, obwohl er augenscheinlich gern in das Lachen einfallen wollte, griff der Professor die Türklinke und sagte: „Jetzt also der zweite Versuch: Willkommen im Arbeitszimmer Heinrich Himmlers!“
Die Tür ließ sich völlig mühelos und mit einem leichten Knarren öffnen. Sie gab den Blick auf ein etwa zwanzig Quadratmeter großes, quadratisches und durch zwei Fenster gut erhelltes Zimmer frei. Zu Torbens großer Enttäuschung war es aber bis auf eine dicke Staubschicht, die Boden und Fensterbänke bedeckte, völlig leer. Der Professor, der offenkundig auch mit einer etwas anderen Entdeckung gerechnet hatte, trat noch vor Torben ein und blieb in der Mitte des Raumes stehen.
Torben, der ihm folgte, fiel es sehr schwer, seine Niedergeschlagenheit zu unterdrücken. „Irgendwie habe ich mir das Arbeitszimmer anders vorgestellt.“
„Mein lieber junger Freund, ich muss Sie um Verzeihung bitten!“ Der Professor seufzte. „Ich habe mich in meiner Arroganz einen kurzen Moment dazu hinreißen lassen, mir vorzustellen, dass wir die Ersten sein könnten, die dieses Arbeitszimmer gefunden haben. Ich hatte nicht bedacht, dass Rote Armee und Staatssicherheit das Schloss über Jahrzehnte hinweg genutzt haben. Die Existenz eines geheimen Raumes, wohlgemerkt sogar im Erdgeschoss des Schlosses und von außen sichtbar, wäre ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben. Natürlich wurde der Raum gefunden, gut durchsucht und alles Wichtige konfisziert.“
Mittlerweile von der Entdeckung völlig unbefriedigt, entgegnete Torben mit sarkastischem Unterton: „Alles Wichtige? Hier wurde auch alles Unwichtige mitgenommen! – Also endet unsere Suche hier, richtig? Die Prügelei war demzufolge völlig umsonst!“
„Keineswegs, mein Sohn!“ Der Professor lächelte und legte den Kopf in den Nacken. „Es ist alles hier, was wir benötigen, um den Weg fortzusetzen!“
Torben folgte dem Blick des Professors und sah an der Decke des Raumes ein im Durchmesser etwa zwei Meter kreisrundes Symbol. In dessen Inneren befand sich ein zweiter, etwas kleinerer Kreis. Von der Mitte des Symbols zum Rand des äußeren Kreises verliefen zwölf Linien, die durch ihre harmonische Anordnung das Zeichen in zwölf gleichgroße Teile stückelten. Die Linien verliefen jedoch nicht vollständig gerade. Kurz nach Durchstoßen des ersten inneren Kreises knickten sie nach rechts ab, um kurz darauf mit einem zweiten Knick, diesmal in die linke Richtung, ihren Weg zu ihrem Endpunkt, dem äußeren Kreis, fortzusetzen.
„Das Symbol über unseren Köpfen“, erklärte der Professor, „wird Schwarze Sonne oder Zwölfarmiges Hakenkreuz genannt! Die offizielle Bedeutung des Zeichens ist ebenso unbekannt wie der Künstler, der es entwarf. Sollte ich vor der Aufgabe stehen, das Zeichen zu interpretieren, würde ich sagen, dass es sich möglicherweise um zwölf in Ringform gefasste und gespiegelte Sigrunen handelt. Sie kennen Sigrunen auch. Im Nationalsozialismus wurde die Sigrune als Emblem des Deutschen Jungvolks in der Hitlerjugend und in der doppelten Ausführung als Emblem der Waffen-SS verwendet, was uns wieder zu Himmler führt. Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie vielleicht die Sigrunen zwischen dem äußeren und dem inneren Kreis. Eine Sigrune ähnelt einem S, allerdings mit drei geraden Strichen geschrieben. Der ursprüngliche Name der germanischen Rune lautet Sowilo und bedeutet so viel wie Sonne. Sie wurde im Nazideutschland aber fälschlicherweise als Sig- oder Siegrune umgetauft und in Anlehnung an den Begriff Sieg verwendet.
Aber zurück zur Schwarzen Sonne. Das Symbol an sich ist ein reines Fantasieprodukt und seine Entstehung lässt sich mit der NS-Germanenideologie Himmlers in Verbindung bringen. Heutzutage wird es sehr häufig als Erkennungszeichen in der rechtsextremistischen Szene verwandt, da man sich anderer Symbolik des Dritten Reiches ja nicht bedienen darf, ohne sich der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen.“
„Aber George, was bedeutet das für uns?“, wollte Torben, nun doch wieder interessiert, wissen.
„Das Symbol der Schwarze Sonne wurde im Tausendjährigen Reich nicht gerade inflationär gebraucht. Es gibt – oder ab jetzt muss ich wohl sagen – gab nur eine einzige überlieferte Verwendung.“ Er machte es betont spannend, indem er den Satz in die Länge zog. „Als Bodenornament im Obergruppenführersaal der Waffen-SS in der Wewelsburg.
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Als sich beide sicher sein konnten, keine weiteren Hinweise im ehemaligen Arbeitszimmer Himmlers zu finden, und Torben noch einige Fotos mit seinem Handy gemacht hatte, kehrten sie ohne weitere Zwischenfälle zu seinem Auto zurück. Allerdings hatten die Landstreicher auf ihrer Flucht noch die Gelegenheit genutzt, eine Seitenscheibe einzuschlagen und den Lack der Motorhaube zu zerkratzen. Obwohl es ein altes Auto war, ärgerten Torben die Schäden. Hingegen fiel ihm ein Stein vom Herzen, als er feststellte, dass sie das Buch seines Großvaters, das er im Kofferraum zurückgelassen hatte, nicht angerührt hatten. Er beschloss, zukünftig etwas besser darauf achtzugeben.
Die Rückfahrt, die sich wegen des zerbrochenen Fensters recht kühl und zugig gestaltete, war nichtsdestotrotz für Torben interessant und abwechslungsreich. Der Professor, der Gertrud unter seiner Jacke wärmte, war in ausgezeichneter Stimmung und erzählte ihm einige Hintergründe zu Himmler und der Wewelsburg.
Torben erfuhr, dass Himmler aus bürgerlichem Elternhaus in Lindau am Bodensee stammte und im Ersten Weltkrieg eine Offizierslaufbahn begann, diese aber vor dem Kriegsende nicht abschließen konnte. Die Nazis hatten später trotzdem behauptet, dass er an der Front eingesetzt wurde. Danach hatte Himmler in München Landwirtschaft studiert und in einer Fabrik für Düngemittel gearbeitet, bis er sein Interesse für Politik entdeckte, über Umwege in die NSDAP eintrat und dort schnell Karriere machte. Aus seiner Ehe ging eine Tochter hervor. Mit seiner Geliebten zeugte er aber noch eine weitere sowie einen Sohn. Himmler sah es bei gutrassigen, freien Germanen als legitimiert an, eine solche Zweit- oder Friedelehe zu führen, wenn gemeinsame Kinder geplant waren.
Er interessierte sich auffallend für germanische Geschichte und verfolgte die Absicht, ein großgermanisches Imperium zu schaffen. In Anlehnung an antike Kulte, die für ihn viel mit erstrebenswerten kriegerischen Eigenschaften wie Mut, Kampf und Aufopferungsbereitschaft zu tun hatten, beabsichtigte er, einen Religionsersatz in Form einer germanischen Urreligion zu schaffen. Außerdem sah er vor, eroberte Gebiete von niederen Rassen zu säubern. Eine besondere Beziehung verband ihn mit seinem Namensvetter Heinrich I., Herzog von Sachsen und König des Ostfrankenreiches, der als erster König im Deutschen Reich überhaupt galt. Nicht wenige behaupten, Himmler hätte sich als dessen Reinkarnation gesehen. Auf jeden Fall war er für ihn eine Quelle der Inspiration. Er stilisierte ihn zur spätgermanischen Führerfigur und missbrauchte ihn für seine Ostpolitik, da Heinrich I. den Ungarn Einhalt geboten hatte und zahlreiche Wehranlagen an der Außengrenze seines Reiches errichten ließ, um ihre Überfälle abzuwehren. Verschiedene Wissenschaftler unterstützten Himmler in seiner Auffassung, dass man gerade in Westfalen die größten Reste des alten Germanentums finden könne. So ging er davon aus, dass die Entstehungszeit der Vorgängerin der Wewelsburg, einer sächsischen Wallburg, in die Zeit der Abwehrkämpfe Heinrichs I. gegen die Ungarn zu legen sei.
Laut Professor Meinert wurde die Wewelsburg 1934 von der SS angemietet. Ein Jahr später übernahm Himmler die Anlage, oder genauer, die neu eingerichtete „SS-Schule Haus Wewelsburg“ in seinen persönlichen Stab und verhängte ein Berichtsverbot über alle Umbauarbeiten und Ereignisse im Zusammenhang mit dem Bauwerk. Diese Maßnahme ließ die Burg und ihre Bewohner recht bald sehr geheimnisvoll erscheinen. Das Berichtsverbot wurde 1939 sogar erneuert.
Obwohl als Schulungszentrum für SS-Führer geplant, beherbergte die Burg hauptsächlich Himmlers „germanische Zweckforschung“. Neben dem Architekten Hermann Bartels war Himmlers persönlicher Okkultist Karl-Maria Wiligut für die Ausgestaltung der Burg verantwortlich. Wegen seines großen Einflusses bei dem Reichsführer der SS wurde Wiligut auch als Himmlers Rasputin bezeichnet.
Im Erdgeschoss des Nordturms der Burg entstand in dieser Zeit der Obergruppenführersaal, also ein Raum für die höchsten Generäle der SS, samt darunterliegender Gruft. In der Mitte des kreisförmigen Raumes wurde das Ornament der Schwarzen Sonne eingelassen. Eine andere Verwendung des Symbols war – bis zu ihrer Entdeckung in der Dammsmühle – nicht bekannt.
Für den Professor war klar, dass Torben seine Suche in der Wewelsburg fortsetzen musste. 1945 hatte Himmler zwar die Sprengung der Burganlage angewiesen und der darauf zurückzuführende Brand hatte dem Gemäuer ziemlich arg zugesetzt, nach dem Krieg war sie jedoch wiederaufgebaut worden und beherbergte jetzt ein Museum und eine Jugendherberge.
Torben hatte Professor Meinert zugestimmt, nicht zuletzt, weil er davon ausging, dass der ihn begleiten würde. Der Professor lehnte aber zu seiner Überraschung und – wie er sagte – schweren Herzens mit der Begründung ab, dass er seine „Damen“ nicht allein lassen könne. Torbens Nachfrage, wen er denn mit seinen Damen meine, beantwortete Professor Meinert ausweichend, dies sei ebenfalls eine andere Geschichte. Er bot aber an, sich bei dem Direktor des Museums für Torben einzusetzen, und gab ihm seine private Handynummer mit dem Hinweis, dass er für ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar sei. Er kündigte an, sollte Torben davon keinen Gebrauch machen, sich regelmäßig bei ihm über den Stand der Dinge zu informieren. Er habe letztendlich vor, nach dem Abschluss von Torbens Nachforschungen eine diesbezügliche Abhandlung zu veröffentlichen.
Kurz darauf setzte Torben den Professor an einem kleinen Café in Berlin-Mitte ab und beide verabschiedeten sich so herzlich, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Gertrud, die augenscheinlich Gefallen an seinem alten Auto gefunden hatte, ließ sich beim Lebewohl nur schwer überzeugen, in die bereits einsetzende Dämmerung hinauszuspringen. Als Torben sein Auto wieder in den Fließverkehr lenkte, sah er noch, wie der Professor jemandem im Inneren des Cafés zuwinkte.
Zum Glück fand Torben im Anschluss eine Werkstatt, die in der Lage und bereit war, eine neue Seitenscheibe einzusetzen und sich um die Schadensregulierung mit der Versicherung zu kümmern. Die Ausbesserung der Lackschäden musste allerdings noch etwas warten.
Zurück in seiner Wohnung und nach einer ausgiebigen Dusche, ließ er bei seinem letzten Fertiggericht, das der Kühlschrank noch hergab, und einem Glas Wein, von dem allerdings noch reichlich da war, die Ereignisse des Tages Revue passieren. Er vervollständigte seine Aufzeichnungen, scannte die Widmung ein und schickte alles per E-Mail an eine seiner eigenen Adressen. So konnte er sicher sein, überall auf der Welt mit Zugriff auf seinen E-Mail-Account auch an seine Aufzeichnungen zu gelangen. Damit berücksichtigte er eine – wenn auch schmerzhaft gewonnene – Erfahrung, die ihm mehr als einmal bei unvorhersehbaren Ereignissen die Abgabetermine seiner Artikel gerettet hatte.
Dem Entschluss folgend, das Buch seines Großvaters besser zu verwahren und vor Diebstahl zu schützen, schlug er es in Folie ein, klebte es zu und begab sich damit auf seine kleine Dachterrasse. Vor einigen Jahren, als er noch als investigativer Journalist tätig war, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, besondere Unterlagen, die ihm beispielsweise unter Verletzung des Datenschutzes oder des Dienstgeheimnisses illegal aus Behörden zugespielt worden waren, unterhalb der letzten Reihe Dachziegel in einem kleinen Hohlraum zu verstecken. Torben benötigte zwar einen Stuhl und musste sich auch dann noch ziemlich strecken, aber so wanderte das Buch seines Großvaters an den gleichen Fleck.
Als er in die Wohnung zurückkehrte, dachte er kurz daran, dass das Buch, sollte ihm etwas geschehen, frühestens in einigen Jahrzehnten bei Bauarbeiten wieder auftauchen würde. Die Vorstellung, wie sich der Finder den Kopf zermartern würde, wie es samt seltsamer Widmung dorthin gekommen sein konnte, ließ ihn schmunzeln. Seine gute Laune hielt an, als er sich an seinen Schreibtisch setzte und begann, die Reise zur Wewelsburg zu planen.
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