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Nun aber muß man, um die neuere politische Landschaft Großbritanniens besser zu verstehen, sich die großen Klassenunterschiede und die damit verbundenen sozialen Spannungen Englands (eher denn Schottlands) vor Augen halten. Diese Unterschiede sind geschichtlich-rassisch bedingt. Die Urbevölkerung der britischen Inseln, von denen wir sprachlich nichts wissen und nur kulturell eine Ahnung haben, war ein verhältnismäßig kleines, dunkles, wahrscheinlich auch gar nicht indogermanisches Volk. Stonehenge, dieses rätselhafte, monumentale Gebilde in Hampshire, ist in aller Wahrscheinlichkeit ihr Werk, das nicht nur auf hochentwickelte technische, sondern auch auf astronomische Kenntnisse schließen läßt.3) Diese Urbevölkerung siedelte wahrscheinlich auch in Schottland, Wales und Irland. Dann erst kamen die Kelten, die von den Römern innerhalb Englands und Südschottlands unterworfen wurden. Erst in der Mitte des fünften Jahrhunderts kamen aus der Nordwestecke des heutigen Deutschlands größere Einfälle der Angeln und Sachsen, die das 410 von der letzten römischen Legion geräumte Land nicht nur ausraubten, sondern auch besetzten. Kleine Königreiche entwickelten sich, die sich aber wiederum mit Wikingern und Dänen auseinandersetzen mußten. Knut der Große beherrschte nicht nur Skandinavien, sondern auch England.4) Kaum aber war die dänische Herrschaft vorbei, als das schicksalhafteste Ereignis für England eintraf: die Eroberung durch die Normannen, die französisierte Norweger und in der Normandie seßhaft waren. Sie siegten in der Schlacht von Hastings 1066 und wurden dadurch die Herren Englands. Diese großen, blonden Skandinavier aus Frankreich, deren Sprache bis ins 13. Jahrhundert französisch blieb, gaben nun England die „oberste Oberschichte“, die auch heute oft noch äußerlich erkenntlich ist. Erst historisch spät entstand die englische Sprache, eine Synthese aus dem Altsächsisch-Niederdeutschen und dem Französischen, in der die einfacheren und grundlegenden Worte germanisch, die Kulturausdrücke aber romanisch sind und auch heute die Mehrheit bilden.
Man kann sich leicht vorstellen, daß diese fortwährenden Einbrüche und Überlagerungen dazu führten, daß in einer gewissen Beziehung rassische Unterschiede mit Klassengegensätzen verbunden sind, wobei freilich auch geographische Differenzen eine gewisse Rolle spielten. So ist natürlich der Anteil von „nordischen“ Typen in Ost-England viel höher als im Westen und (besonders) in Wales, wo sich bis auf den heutigen Tag die keltische (walisische) Sprache sehr wohl erhalten hat und von einer dreiviertel Million gesprochen5) wird. Und gerade in Wales fällt die eher klein geratene, schwarzhaarige und dunkeläugige Urrasse stark auf. Die englischen Standesunterschiede sind allerdings nicht nur visuell (wobei es überraschende Ausnahmen gibt), sondern vor allem auch sprachlich und selbstverständlich in Bildung und Manieren.6) Gerade deswegen, weil die Adelstitel so spärlich gesät sind – sie gehen bei den nachgeborenen Söhnen und bei der Mehrzahl der Enkel wieder verloren –, werden die spezifischen Manierismen der Oberschichte „subtil betont“ und schaffen gesellschaftliche Abgründe, die natürlich im sozialen Aufstieg wieder überbrückt werden.7) Hier aber muß auch bemerkt werden, daß das „Aufschauen“ der Unterschichten zu den gesellschaftlich Hoch- und Höchstgestellten mit der Zeit geringer und geringer, der Neid und die Animosität aber (besonders von der Arbeiterschaft zu den Managern und Unternehmern) größer und größer wurden. Heute kann man in England von einem Klassenkampf reden, in dem aber der Adel nur mehr Zuschauer ist.
Im 19. Jahrhundert spielte auch das Empire („Weltreich“) eine große psychologische eher denn wirtschaftliche Rolle. Über die Kolonien und den „Kolonialismus“ werden wir später reden müssen. Es genüge aber hier zu sagen, daß die Möglichkeit, im sehr fernen Ausland interessante Aufgaben und einen erweiterten Horizont zubekommen, für Engländer von größter Wichtigkeit war. Doch war das britische Kolonialsystem sehr anders als das alte spanische, das portugiesische oder auch das französische – allerdings nicht ganz unähnlich dem niederländischen. Der Brite in den Kolonien war manchmal beliebt, zumeist aber respektiert. So korrupt die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert auch gewesen sein mag,8) so unbestechlich und rechtlich denkend war sie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Doch zu einer echten Synthese zwischen dem britischen Wesen und den Nieder- oder auch Hochkulturen der Übersee kam es so gut wie nie. Die Parade der indischen Armee und die Haltung der Offiziere am „Tag der Republik“ (26. Jänner) in Delhi erinnern zwar sehr lebhaft an britische Vorbilder; da glaubt man Sahibs aus Sandhurst mit bräunlicher Hautfarbe vor sich zu sehen, und natürlich hat die englische Sprache im jetzigen „Commonwealth“ sich einen Platz gesichert, den unmoderne oder primitive Idiome ihr nicht streitig machen können, aber man vergesse da nicht die britische „Kälte“ (die oft nichts als Gehemmtheit ist), wie auch das Gefühl einer kollektiven Überlegenheit. Die englische Religion ist eben die anglikanische, und die ist nun einmal auf die Länder der englischen Zunge zugeschnitten. Sie ist nicht universell; sie hat keine Weltreligion produziert. Von einem Mahratten oder Masai zu erwarten, er solle sich dem Idearium von Heinrich VIII., John Knox, Cranmer, Jakob I. und John Locke verschreiben, ist zu viel verlangt. Der katholische Glaube konnte hingegen alle möglichen und unmöglichen Synthesen mit heimischen Kulturen eingehen. Ein Bewohner der Elfenbeinküste mag sich als Franzose fühlen und in Paris sich als Gleicher unter Gleichen bewegen, als copin, aber ein Ibo oder ein Yoruba wird nie auch nur annähernd ein englischer Gentleman werden. Doch waren die Kolonien und auch die Dominions9) für die Engländer ein großer „Atemraum“. Dabei aber erlosch das kleine Engländertum der Little Englander nie ganz. Eine typische Britin der gehobenen Schichten, die in Indien schwanger wurde, fuhr nach England zurück, um dort niederzukommen, denn einesteils fühlte sie doch den Einfluß des ius soli, andernteils10) war es für ihr Kind „peinlich“, später im Leben bei allen möglichen amtlichen oder gesellschaftlichen Anlässen eingestehen zu müssen, nicht in York, in Devonshire oder in Camden House, sondern in Seconderabad, Bangalore oder in Mahabalipuram auf die Welt gekommen zu sein.
Doch das weltweite britische Lebensgefühl zeigte gerade durch diese Beschränkungen, daß man sich dem Kontinent gegenüber stets sehr unsicher fühlte. Am Kontinent gab es zwar die Anglomanie mit allen ihren Facetten; da gab es eine aristokratische, sozialistische, bürgerliche, „protestantische“ Anglomanie, aber auch eine Anglomanie der Katholiken, Juden, Herrenmodeverkäufer, Techniker, Feministinnen, Homosexuellen, Seeleute, Pferdezüchter, Sportler aller Art und der Globetrotter, eine Besessenheit, die heute weitgehend verblaßt ist, doch einst ungeheuer stark war.11) Es gab auch in England einige wenige Schwärmer für den Kontinent – vor allem die großen Nonkonformisten, die von der Gesellschaft angewidert, entfremdet oder abgelehnt am Kontinent lebten (und starben), Männer, und Frauen wie Byron, Shelley, Keats, Kemble, Wilde, D. H. Lawrence, Nancy Mitford, W. H. Auden u.a. mehr. Doch das waren immer Ausnahmen. Es gibt auch heute Engländer, die prinzipiell nicht den Kontinent besuchen, denn dark men begin at Calais, „dunkelhäutige Menschen beginnen in Calais“, was einfach bedeutet, daß Afro-Asien gleich auf der anderen Seite des Kanals seinen Anfang nimmt. Das aber wiederum beleuchtet einen weiteren Aspekt des britisch-kontinentalen Verhältnisses: Wenn der Kontinent „afro-asiatisch“ ist, dann sind die Briten die einzig wirklich weißen Leute, die einzigen wirklichen Europäer. Und das läßt sich wieder umkehren: Europa ist der „farbige“ Kontinent und die Briten sind dann etwas ganz Besonderes. So sagt der durchschnittliche Engländer, daß er im Sommer den Kontinent besuchen würde, doch gibt es eine Minderheit, die umschweifelos erklärt: „This summer we’re going to Europe.“12) Und tatsächlich bildet England zusammen mit den Vereinigten Staaten und Kanada einen ganz besonderen und gesonderten Teil der westlichen Welt, des „Abendlands“.13)
Somit betritt der Brite den Kontinent mit buchstäblich ‚gemischten‘ Gefühlen. Er ist dann ‚ganz wo anders‘.14) Er fühlt sich dann nur zu oft moralisch überlegen aber intellektuell unterlegen. Er ist in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, doch muß man einräumen, daß die oberen Mittelschichten bei uns eine viel bessere Allgemeinbildung genossen haben,15) und der Südeuropäer zwar nicht besser, aber schneller denkt, was tatsächlich rassisch-biologisch-nervlich bedingt ist. (Er ist auch der schnellere und gewandtere Autofahrer.)16) Doch fühlt sich der Engländer bei uns unsicher, weil er die Reaktionen des Kontinentaleuropäers nicht voraussehen kann, und diese Voraussicht allein schafft Vertrauen.17) Sprachlich ist er auch deswegen gefesselt, weil es ihm seine Hemmungen oft nicht erlauben, sich in einer Sprache auszudrücken, von der er weiß, daß er sie nicht gut beherrscht und er sich lächerlich machen könnte. (Abgesehen davon lernt er fremde Sprachen nicht gern, denn schon ein altes englisches Sprichwort sagt: He who speaks two languages is a rascal.) In diesem Überlegenheits-Unterlegenheitsdilemma liegt eine große politische, besser gesagt, außenpolitische Schwäche, die wir auch mutatis mutandis beim Amerikaner finden, der auf der nordamerikanischen, von drei Ozeanen und zwei großen Meeren umspülten, Großinsel lebt.
Doch in einem gewissen Moment „abdiziert“ auch der sich sehr anderen Völkern überlegen fühlende Brite, und er sagt sich dann streng und nüchtern, daß er von seinem Piedestal herabsteigen muß. Der Ausländer, the alien,18) kann in Wirklichkeit nicht wirklich minderwertig sein; er ist im Grunde ein genau so edler, kluger und anständiger Mensch wie der Brite und sollte als solcher behandelt werden, sollte auch für dieselben gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen „reif“ sein. Das ist natürlich so formuliert ein Unsinn. Der alien ist aus einer Reihe von Ursachen nun einmal wirklich ein anderer Mensch, und in der britischen Außenpolitik hat dieser Dualismus, dieses jähe Umkippen von einem Unsinn zum anderen, schwere Enttäuschungen und Niederlagen hervorgerufen. Doch aus zerstörten Illusionen lernen manchmal Einzelne, Völker aber nie.
Je niedriger die soziale Schichte, desto stärker sind – nicht nur in England – die Vorurteile. Lloyd George, ein „kleiner Mann“, Methodist-Baptist, Waliser ohne public school Erziehung, sah in den Ausländern queer devils,19) aber auch Stanley Baldwin, ein anderer Premier, war nicht viel besser: Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, gestand er Douglas Woodruff in 10 Downing Street, wo er schon die Koffer gepackt hatte, daß er der glücklichste Mann auf dem Erdboden sei. Warum? „Weil ich nie mehr in meinem Leben etwas mit einem Ausländer zu tun haben werde!“20) Und dieser Mann hatte in einer der kritischesten Zeiten eine führende Stellung in einem Weltreich. Die Insularität – gar keine so „splendid isolation“! – Englands hat wahrlich keine Grenzen.
Das sind alles Dinge, die man sich vor Augen halten muß, um die britische Außenpolitik der Vergangenheit richtig zu verstehen. Dem Insularismus mit dem Wunsch sich abzusondern und zurückzuziehen steht allerdings auch ein Messianismus gegenüber, der zwar schwächer als der amerikanische oder russische, sicherlich auch weniger aggressiv als der deutsche ist („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“), aber immer stark genug war, um allen Ortes Unheil auszulösen, denn dank der universalen Anglomanie wurde dem britischen Druck nur geringer Widerstand entgegengesetzt. Dieser britische Messianismus hat sich vielleicht am konkretesten in der British-Israel-Society geäußert, die uns glauben machen will, daß die Briten der verlorene zwölfte Stamm Israels und deshalb zur Weltherrschaft berufen wären. Doch auch der Wunsch, die Hoffnung, daß man alle Völker der Welt in britisch-politischem Sinn sanft und artig umerziehen könnte, ist offen oder versteckt, bewußt oder unbewußt immer da gewesen. Dabei aber hat (trotz allem Cant) der Engländer einen echt moralistischen Zug, der auch in der Außenpolitik immer wieder (zumal auch fatal) zum Ausdruck kommt; dem Unterdrückten, dem underdog, sollte immer und überall geholfen werden. Keine Beschwerde auf dem weiten Erdenrund fiel deshalb in England auf taube Ohren, und es wäre verfehlt zu glauben, daß nicht auch Anklagen gegen die britische Herrschaft in England ihre Anwälte fanden. Es haben Briten gegen die Unterdrückung der Iren genau so wie gegen die Verwaltung in Indien protestiert. Freilich, manchmal fanden auch unwürdige Anliegen irregeleitete Verteidiger, was nicht zu vermeiden war; Engländer haben oft für gute, aber auch manchmal für schlechte Sachen als Freiwillige ihre Haut zu Markt getragen.21) Man muß anerkennen, daß während des Zweiten Weltkriegs in England Stimmen gegen den unbeschränkten Vernichtungskrieg aus der Luft sehr laut geworden waren.22) Neben dem Cant gab es immer auch große Ehrlichkeit und größten Bekennermut. So ist auf den britischen Inseln nicht wie in Skandinavien oder Norddeutschland die katholische Kirche sang- und klanglos untergegangen: Die Agonie der Kirche dauerte dort fast 180 Jahre und einzelne Gruppen „überwinterten“ trotz größter Unterdrückung, Einschränkung und Verfolgung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als die ersten Erleichterungen kamen.23)
Die unterschwelige Angst vor dem Kontinent, von dem immer eine Invasion drohen konnte – die letzte fand 1066 statt –, vor einer neuen Armada, beherrschte einen guten Teil der Außenpolitik bis auf unsere Tage. Daher auch das in der Außenpolitik so beliebte Konzept des balance of power, des Gleichgewichts der Mächte am Kontinent. Dieses Prinzip des Divide et Impera hat aber auch jedwede Einigung Europas auf friedlicher oder kriegerischer Basis vereitelt, schaffte aber wiederum innerhalb Englands einen Antieuropäismus, der heute zwar zurückgedrängt, aber lange noch nicht abgestorben ist. Man findet ihn sowohl auf der äußersten Rechten als auf der äußersten Linken mit den verschiedensten Vorzeichen, aber doch gemeinsamer Wurzel.
Die Schotten fühlen sich sehr anders als die Engländer; sie glauben zwar, nicht geographisch, aber kulturell am Kontinent zu sein. Die vorherrschende Konfession Schottlands ist nicht die episkopale Church in Scotland, sondern die Church of Scotland, die presbyterianisch ist und deshalb als echte Schwesterkirche der reformierten Glaubensgemeinschaften der Niederlanden, Frankreichs, der Schweiz und Ungarns betrachtet wird. Auch der Prozentsatz der Katholiken in Schottland ist höher als in England; nicht nur haben wir dort eine relativ größere irische Einwanderung, sondern auch rein katholische Dörfer (manche mit gälischer Sprache) auf den Hebriden und in den Highlands, kein einziges aber in England. Der Geist des Relativismus und des Kompromisses, den Engländern so teuer, ist in Schottland viel weniger vorhanden.24)
Alldies gilt noch viel mehr für Irland, das einst den halben Kontinent missioniert hatte; die irischen Mönche hatten nicht nur große Teile der deutschen Länder bekehrt,25) sondern hatten auch in Rom ihren Einfluß spirituell und theologisch geltend gemacht.26) Nach den Siegen Cromwells und Wilhelms III. (durch Schomberg in der Schlacht am Boyne-Fluß, 1690) sind zahlreiche irische Adelige in das katholische Europa geflohen, wo sie im Militär und in der Politik wichtige Rollen spielten. Man denke da nur an Generäle wie Butler, Browne, McNevin-O’Kelly, Nugent, MacDonald, MacMahon, Politiker wie O’Donnell und Taaffe oder Kirchenfürsten wie O’Rourke. Doch gerade wegen der konfessionellen Intoleranz der Engländer (und auch der Schotten) war die Integrierung Irlands in das „Vereinigte Königreich“ stets problematisch geblieben und führte schon vor der erschwindelten Vereinigung des irischen mit dem britischen Parlament (1801) zu Rebellionen und schließlich zu Aufständen großen Stils. Unbereinigt und eine offene Wunde am Vereinigten Königreich ist das Problem Nordirlands oder, um genauer zu sein, Nordostirlands, denn der nördlichste Punkt Irlands liegt am Rande der Republik.27)
Die größere Kontinentalnähe Irlands merkte man vor allem bei dem Referendum über den Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft. 83 Prozent sprachen sich hier dafür aus. (Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gingen in England-Schottland beim vorletzten Mal hingegen nur 37 Prozent zu den Urnen.)
16. DAS PULVERFASS: DER ALTE BALKAN
Wie entwickelte sich der Balkan in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg? Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war noch die ganze Balkanhalbinsel mit der Ausnahme Dalmatiens und der Ionischen Inseln in türkischen Händen, doch wurde die eigentliche Herrschaft in den „Schwarzen Bergen“ („Montenegro“, Crna Gora) von Bischöfen der Familie Petrović-Njegoš, den Wladykas, ausgeübt. Die Erbfolge ging von Onkeln auf Neffen über. Nach den napoleonischen Kriegen errangen die Serben der Šumadija, des Waldlandes südlich der Donau und Save, eine Autonomie. Geführt wurden sie vom „Schwarzen Georg“, dem Kara Ðorđe, der eine moralische und materielle Hilfe von den österreichischen, genauer gesagt, von den ungarischen Serben genoß. Wie wir schon sagten, lebten zahlreiche Serben in Kroatien-Slawonien und in Südungarn, wohin sie aus der Großtürkei geflohen waren. Deren kirchliches Zentrum war Karlowitz (Sremski Karlovci) im östlichen Slawonien, deren kultureller Mittelpunkt aber Wien. Vuk Stefanović Karadžić, der die serbische Zyrilliza durch weitere Buchstaben ergänzte und eine serbische Schriftsprache zu schaffen bestrebt war, hatte hauptsächlich in Wien gewirkt, wo er auch gestorben ist.
Im tiefen Süden der Balkanhalbinsel rührten sich alsbald die Griechen, die sich mit viel Sympathie aus allen Kreisen Europas, nicht aber der Stockkonservativen, die Freiheit erkämpften. Sie errangen sie aber nur für den Peloponnes, Attika, Böotien und die anliegenden Teile. (Auch die Unabhängigkeit Belgiens wurde von den Konservativen1) keineswegs begrüßt.) Man fürchtete „Veränderungen“ und wollte an dem Status Quo nicht rütteln. Freilich war dieses noch sehr kleine, freie Griechenland von der Verwirklichung der Megale Idea, der Wiedererrichtung des byzantinischen Reiches mit Konstantinopel als Hauptstadt, noch sehr weit entfernt. Eine verrückte Idee? Nicht ganz. Damals waren die Griechen immer noch die größte ethnische Gruppe in der „Kaiserstadt“, und auch die Ostküste der Ägäis war überwiegend von Griechen besiedelt. Smyrna war selbstverständlich eine überwiegend griechische Stadt.
Hier muß man sich auch vor Augen halten, daß sich das alte „kaiserliche“ Osmanenreich zwar durch große Brutalitäten auszeichnete, daß die Sultane immer wieder scheußlichen Palastintrigen zum Opfer fielen,2) sich immer wieder sadistische Revolutionen und Verschwörungen ereigneten, im Staat aber dennoch eine nationale und politische Toleranz eigener Prägung herrschte. So wurden die Massaker der Armenier erst wirklich bestialisch, als die Türkei sich demokratisierte und die Jungtürken mit ihrem Schlagwort „Einigkeit und Freiheit“ die Regierung übernahmen. Diese waren allerdings noch nicht so ‚fortschrittlich‘ wie die „Kemalisten“, die nach dem Ersten Weltkrieg die Monarchie abschafften und durch eine laizistische Republik ersetzten.
In der alten Monarchie konnten die christlichen Minderheiten trotz ganz bestimmter gesetzlicher Beschränkungen bei nur einiger Geschicklichkeit reich werden oder auch in der Verwaltung Karriere machen. So waren die Gouverneure der Donaufürstentümer (Walachei und Moldau), die „Hospodare“, fast immer Griechen aus dem Phanar, einem Stadtteil Konstantinopels. Die Finanzen, ja, das Kapital, lagen zum allergrößten Teil in den Händen von Griechen, sephardischen Juden, Levantinern,3) Armeniern und Europäern. Auch in der Diplomatie spielten die Nichttürken eine große Rolle. So war der letzte kaiserliche Botschafter in Washington, Blacque-Bey, schottischer Abstammung. Er trug einen Fez, war aber dem Glauben nach Katholik.4)
Lange konnten am Balkan die Christen, die dort die Mehrheit bildeten und den gelegentlichen Ausschreitungen der türkischen Soldateska, der Janitscharen und später der Baschi-Bosuks ausgeliefert waren, niedergehalten werden. Die Christen hatten keine tragenden Oberschichten, denn diese waren von den Türken entweder ausgerottet oder auch zum Islam bekehrt worden. Daher auch die häufigen slawischen, albanischen oder griechischen Namen der Paschas. In Bosnien war die kroatische Oberschichte, die dem Bogomilismus gehuldigt hatte, weitgehend islamisiert worden. Bosnien hatte gegen die Türken, durch eine überaus friedliche Ketzerei geschwächt, kaum nennenswerten Widerstand geleistet. „I pade Bosna bezuzdaha – und Bosnien fiel ohne einen Seufzer“, wie es in einem Lied hieß. Diese islamisierten Kroaten behandelten ihre christlichen Konationalen einschließlich der Serben als Rayah, als Herde, als Kmeten („Knechte“). Ähnliches geschah in Zentralalbanien, während in Bulgarien ganze Gebiete (ohne sich sprachlich zu verändern) islamisierten. Diese mohammedanischen Bulgaren wurden Pomaken genannt. Wir müssen uns also den Balkan vor 1878 als ein Gebiet vorstellen, in dem es eine ganze Reihe von teilweise türkisierten und islamisierten Enklaven gab. Der Islamisierung widerstanden also Unterschichten, die nördlich des Griechentums fast rein bäuerlichen Charakters waren; sie wurden natürlich moralisch, aber auch „national“ vom Klerus unterstützt. Das lockere Benehmen der Balkanvölker in der Kirche kommt von dem Umstand her, daß man sich nur in der Kirche vor den Türken sicher wußte: Da war man ganz „unter sich“.
Doch die ganz große Verzahnung der nichttürkischen Balkanvölker bildete schon recht früh ein Hindernis zu ihrer Befreiung. Zwar war der gemeinsame Haß gegen den asiatischen Zwingherrn da, aber auch zugleich sich überschneidende nationale Aspirationen, was sich besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bemerkbar machte. Rußland (und nicht mehr Österreich) erschien aus kulturellen und konfessionellen Gründen der Protektor der Balkanchristen. Die österreichische Präsenz machte sich nur noch bei den Serben fühlbar. Bemerkenswerterweise war die erste Dynastie der serbischen Fürsten die Familie Karađorđević, Abkommen des Schwarzen Georg. Sie war im Geruch, eher pro-österreichisch als russophil zu sein. Das kostete ihr auch den Thron. Nun kam die Familie Obrenovic mit russischem Etikett auf den Thron, doch wurde sie mit der Zeit austrophil. Die furchtbaren türkischen Massaker unter den Bulgaren in den Siebzigerjahren führten die russische Intervention herbei, die mit der Niederlage der Türken endete; es war aber dies, da die Türken gute Soldaten sind, ein bitterer Krieg und kein leichtes Abenteuer. Die Russen diktierten dann den Frieden von San Stefano (einem Vorort von Konstantinopel), der praktisch das Ende der türkischen Herrschaft am Balkan bedeutete. Ein Großbulgarien, in dem alle Bulgaren vereint waren, sollte entstehen.
Das aber brachte die Großmächte auf den Plan. Bismarck trat im Kongreß von Berlin (1878) als „ehrlicher Makler“ auf, und Rußland, das in Europa lediglich Südbessarabien zurückgewann, durfte zwei türkisch-armenische Kreise, Kars und Ardahan, annektieren. Doch da man in Berlin den Traum eines ethnisch-historischen Bulgariens zerbrach – und zwar nur deswegen, weil man in dem wiedererstandenen Bulgarien eine russische Satrapie vermutete –, steuerte man die neueste Geschichte des Balkans in eine falsche Richtung. Die Serben wurden ausdrücklich ermuntert sich in der Richtung von Saloniki auszudehnen und damit das vorwiegend bulgarische Makedonien einzuheimsen. Serbien erhielt 1878 nicht nur Nisch mit einer gemischten serbisch-bulgarischen Bevölkerung, sondern auch Pirot, das rein bulgarisch war: schon dadurch wurde Serbien auf eine südliche Bahn gelenkt. Doch auch die Donaumonarchie tendierte ein wenig demselben Ziel zu: sie wurde ermächtigt, Bosnien und die Hercegovina mit dem „Sandshak“ Novipazar (zwischen dem erweiterten Serbien und Montenegro) militärisch und auch zivil zu verwalten. Doch die Besetzung dieser drei Gebiete der Türkei mit ihrer großen islamischen Minderheit erwies sich als kein militärischer Spaziergang: Die Moslems wehrten sich bitter, und die christliche Bevölkerung wagte es kaum, den Österreichern zu Hilfe zu kommen. In seinen Memoiren erzählt ein k.u.k. Offizier, wie er an der Spitze der vorrückenden Truppen einen alten Moslem Beg, der zurückgeblieben war, fragte, ob die Bosniaken sich denn nicht vor der österreichischen Armee fürchten. Nein, keineswegs. „Vor wem fürchtet ihr euch denn?“ „Nur von den Montenegrinern.“5)