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Der Türkei verblieb auf europäischem Boden ein immerhin 169 000 Quadratkilometer großes Territorium, das unmittelbar der Hohen Pforte unterstand. In Bosnien und der Hercegovina wie auch im Fürstentum Bulgarien zwischen dem Balkan und der Donau war die Souveränität des Sultans nur mehr auf dem Papier. Auch die Landschaft südlich des Balkan-Gebirges mit dem fragwürdigen Etikett „Ost-Rumelien“, erst 1908 vom Königreich Bulgarien formell annektiert, war nominell unter türkischer Oberhoheit. Thessalien wurde erst in den Achtzigerjahren von der Türkei an Griechenland abgetreten. Doch gerade dieses weiterhin noch türkische Gebiet mit einer türkischen Minderheit sollte später zum Zankapfel der wiedererstandenen christlichen Staaten werden, vor allem aber das makedonische Kernstück. Dort fand 1903 ein (hauptsächlich von Bulgaren getragener) Aufstand statt, der aber von den Türken niedergeschlagen werden konnte. Die I. M. R. O., die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“, wollte hier eine „Schweiz des Balkans“ aus Bulgaren, Griechen, Kutzo-Wlachen, Albanern und Türken errichten, aber die Türkei behielt vorläufig noch die Oberhand. Nur eine Allianz der christlichen Balkan-Nationen konnte die Türkei auf ein Mindestmaß in Europa reduzieren…
Aus einer Reihe von Gründen spielte der Balkan als Bedrohung des europäischen Friedens eine so folgenschwere Rolle. Da war erstens einmal die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Rußland – und hinter der Habsburgermonarchie stand das Deutsche Reich. Der Bau einer Bahn nach Konstantinopel (über den sich der berühmte „Orient-Express“ bewegte) und dann von der anderen Seite des Bosporus in das damals noch türkische Mesopotamien, die sogenannte „Bagdadbahn“, erregte vor allem englische Gemüter. Der deutsche Einfluß in der Nähe Südpersiens und damit auch Indiens machte London nervös. Ein weiterer Faktor der Unruhe war das Problem der Meerengen, die von der Türkei kontrolliert wurden. Doch Rußland, stets bestrebt aus seiner Verschachtelung im Schwarzen Meer auszubrechen, trachtete, eisfreie Häfen in gesicherten Lagen zu bekommen,6) wiewohl England über eine russische Präsenz im Mittelmeer keineswegs entzückt gewesen wäre. Ein dritter Faktor war interner Natur: die große Leidenschaftlichkeit, Wildheit und auch Grausamkeit dieser aus jahrhundertelanger Sklaverei erwachten Völker, verbunden mit ganz spezifischen Gebietsansprüchen. So hätten zum Beispiel die Großmächte in unserem Zeitalter nie die skandinavischen Staaten gegeneinander ausspielen können. Anders aber war dies am Balkan, wo es keine klaren historischen, ethnischen oder religiösen Grenzen gibt. Ja, man kann sogar sagen, daß es keine einzige eindeutige Grenze am Balkan gibt, mit der einzigen Ausnahme der historisch--ethnischen bulgarisch-rumänischen Grenze an der unteren Donau, wobei allerdings die letzte Strecke in der Dobrudscha wieder strittig ist. Das äußerst harte Leben unter der türkischen Herrschaft, die Kargheit der Böden, das mancherorts grausame kontinentale Klima, das Fehlen der humanistischen Tradition, vielleicht auch die physisch-nervliche Erregbarkeit der Balkanrassen haben hier ein wahres Pulverfaß geschaffen.
Oft stellten die Großmächte in ihrem Spiel um die Vorherrschaft am Balkan auch falsche Spekulationen an. So wurde im sehr verkleinerten Fürstentum Bulgarien unter dem von Rußland geförderten Fürsten Alexander von Battenberg7) der russische Einfluß keineswegs vorherrschend. Dieser Fürst beschloß ganz einfach (so wie einst Louis Bonaparte in den Niederlanden), das Land ganz im Interesse seiner Einwohner zu regieren, was ihm den Unwillen Kaiser Alexanders III. zuzog, der alle Hebel in Bewegung setzte, um ihn zu stürzen. Um nach der äußerlichen Vereinigung des Fürstentums mit Ost-Rumelien die Unabhängigkeit seines Staates nicht zu gefährden, dankte Fürst Alexander ab. Sein Nachfolger, der Fürst und spätere „Zar der Bulgaren“, Ferdinand I. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Koháry, war den Russen anfänglich auch nicht genehm, doch als Mitglied des Hauses Sachsen–Coburg genoß er die Sympathien der westlichen Mächte,8) und Nikolaus II., der Alexander III. nachgefolgt war, gab seinen Widerstand gegen ihn auf.
Nach der Schwächung der Türkei durch den italienisch-türkischen Krieg von 1911–1912 entschlossen sich die christlichen Balkanstaaten zu einem konzentrischen Angriff gegen die Türkei. Dabei fiel Bulgarien die Hauptrolle zu, und das bulgarische Heer erlitt auch die größten Verluste. Schließlich waren es größtenteils bulgarische Einheiten, die an der Çadalca–Linie vor Konstantinopel lagen. Die Serben waren entlang der Morawa und des Wardar–Tales vorgestoßen, die Montenegriner hatten sich auf Nordalbanien geworfen, die Griechen rückten auf Saloniki vor. Nach einem Waffenstillstand, der aber abgebrochen wurde, da die Türken konzessionsunwillig waren, ging der Kampf weiter. Schließlich mußte die Türkei Ostthrakien bis zur Linie Enos–Midia den Verbündeten überlassen. Dadurch blieben die Meerengen und das Marmara-Meer weiter bei der Türkei.
Als aber dann die Serben und Griechen das vorwiegend bulgarische Makedonien unter sich teilen wollten, kam es zu einem Krieg aller Verbündeten, zu denen noch die Rumänen und die Türken stießen, gegen Bulgarien. (Auch das ferne Montenegro griff in diesen ungleichen Kampf ein.) Gegen eine Allianz von fünf Staaten konnte Bulgarien nicht aufkommen. Zwar bekam es schließlich einen Zugang zur Ägäis, aber von Makedonien nur einen Zipfel, und zudem verlor es die südliche Dobrudsha an Rumänien, das am Balkan auch nicht leer ausgehen wollte. Diese große Tragödie trieb Bulgarien ganz automatisch in zwei Weltkriegen auf die Seite Deutschlands: Es war jetzt auf allen Seiten von Feinden umgeben.9)
Serbien kontrollierte nun Gebiete, die kaum serbisch waren: Die Makedonier Bulgariens wurden zu „Südserben“ erklärt, alle ihre Familiennamen wurden mit der Endung „ić“ versehen, bulgarische Bücher und Zeitungen wurden verboten. Der Umstand, daß Dušan der Große einmal über Makedonien und Nordgriechenland geherrscht hatte, wurde als historisches Alibi bei dieser Annexion verwendet. Die Unterdrückung der Makedonier war aber noch milde im Vergleich zur Verfolgung der größtenteils islamischen (und nur zu kleinem Teil katholischen) Albaner im Kosovo–Gebiet. Dort wurden sie zu Tausenden abgeschlachtet. (Letzte Massaker unter ihnen fanden unter Titos Régime in den Fünfzigerjahren statt.) Serbiens Drang nach dem Meer über albanisches Gebiet stieß jedoch auf den Protest der Großmächte. Ein Staat Albanien mit islamischer Mehrheit, katholischen und ostkirchlichen Minderheiten, sollte geschaffen und die Montenegriner aus dem eroberten Skutari (Shkodra) zum Abzug gezwungen werden. Hier wirkte sich die konkrete Zusammenarbeit des Dreierbundes zum ersten- und zum letztenmal aus.
Mit der Eroberung des überwiegend albanischen Kosovo-Gebietes war auch das Schlachtfeld in die Hände der Serben gefallen, auf dem die Unabhängigkeit des alten Serbiens in einer bitteren Niederlage ihr Ende gefunden hatte. Sultan Murad besiegte damals den König Lazar Hrebeljanović, wurde aber darauf in seinem Zelt von einem Serben (Obilić oder Kobilić) erdolcht. Dieser Tag, der Veitstag (Vidovdan), der 28. Juni 1389, spielt in der serbischen epischen Dichtung und in Liedern eine große Rolle. Im Osten Europas sind es oft nicht die Siege, nicht die Triumphe, die das Herz bewegen oder auch geistige Zäsuren hinterlassen, sondern Niederlagen und Katastrophen. Die polnischen und ungarischen Nationalhymnen drücken dies sehr deutlich aus.10) Das tragische Lebensgefühl des Ostens reagiert eben anders als das unsere. Und darum war auch die Eroberung des Amselfeldes durch die Serben die Erringung einer nationalen Gedenkstätte, die nun nationalistisch umgestaltet werden sollte.11)
Das alles aber gab dem serbischen Nationalgefühl einen gewaltigen Auftrieb – fünf Jahre nach der bosnischen Annexionskrise.12) Doch hatte jetzt das Königreich in seiner Bevölkerung mindestens ein Drittel Nichtserben. Nun richteten sich die Blicke der Nationalisten auch nordwärts und westwärts, so zum Beispiel nach Südungarn, das in Wellen von flüchtigen Serben zuerst mit ungarischer, dann aber auch mit österreichischer Hilfe besiedelt worden war. (Durch die Verwüstungen der Türken war ein Großteil der Magyaren in der Bácska und im Banat ermordet, verschleppt oder vertrieben worden.) Zu einer weiteren Expansion Serbiens ermunterten aber auch die „Pan“-Ideen: nicht so sehr der Panslawismus, sondern der „Jugoslawismus“, dem sich allerdings die „artfremden“ Bulgaren nie anschlossen.13) Es wurde die These vertreten, daß Serben, Kroaten und Slowenen eigentlich eine Nation bildeten, wobei allerdings die Serben die zahlreichsten waren. Zwar kamen die Serben und Kroaten aus benachbarten Gebieten im Norden des Slawentums,14) aber sie machten geschichtlich verschiedene Entwicklungen durch, was auch ihren Charakter sehr anders prägte. Die Mehrzahl der Kroaten hatten nie als Kmeten unter dem türkischen Joch gelebt. In Agram hatte man nie eine Moschee gebaut (wie zum Beispiel in Belgrad, Erlau oder Fünfkirchen). Die Kroaten waren katholisch, die Serben gehörten der Ostkirche an. Die Kroaten sind ein mitteleuropäisches Volk von Seefahrern, die Serben orthodoxe Inlandbewohner der Balkanhalbinsel. (Die Montenegriner sind Serben mit eigener Geschichte.) Auch scheint selbst ein gewisser Rassenunterschied zu bestehen: Manche Männer und Frauen sind zweifellos visuell Serben oder Kroaten. Die Slowenen sind kulturell Österreicher. Vergessen wir nicht, daß das Slawentum slowenischer Prägung einmal bis ins Salzkammergut15) und nach Osttirol hereinreichte. Bayrische (manchmal aber auch fränkische oder alemannische) Siedler hatten Rumpfösterreich germanisiert. (Graz hieß – im Unterschied zu Windischgraz – „Bairisch-Graetz“!) Die Slowenen, die sich ähnlich kleiden wie die Alpenbewohner und auch eine sehr ähnliche Musik haben, sind die einzigen nichtgermanisierten Österreicher. Zwischen einem Slowenen aus der Südsteiermark, aus Südkärnten oder der Oberkrain und einem Montenegriner aus Andrijevica oder einem Moslem aus Sarajevo besteht ein himmelweiter Unterschied, genau so zwischen einem Isländer und einem Südtiroler oder einem Elsässer und einem Ostpreußen.
Doch nicht nur der territoriale Appetit der Serben wurde durch die Annexion von Fremdvölkern vermehrt, sondern auch jener der Rumänen. Die südliche Dobrudsha war von Bulgaren und Tataren bewohnt. Der Überfall Rumäniens auf Bulgarien war ein besonders häßlicher Akt, der sich allerdings im Jahre 1916 mit dem Überfall auf Siebenbürgen wiederholen sollte. Das östliche Ungarn hatte auch weder zur Moldau noch zur Walachei gehört. Auch hier konnten nur rein ethnische Ansprüche erhoben werden, wobei noch zu bemerken ist, daß ein Land, das „Rumänien“ heißt, seinen Namen nur einer Sprachschöpfung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts verdankt.16) Doch dieser Dolchstoß Rumäniens sollte sich in unserem Jahrhundert noch etliche Male wiederholen.
Rumänien gehört geschichtlich, aber nicht (wenn man von der Dobrudsha absieht) geographisch zum Balkan. Und sagen wir es hier gleich auch deutlich: Man darf keineswegs hochnäsig auf den Balkan herabblicken, der schließlich die Wiege unserer Kultur und Zivilisation ist. Zwar gibt es dort viel Korruption, Grausamkeit, schlechte Organisation, Unehrlichkeit und Tücke, doch daneben auch viel Tapferkeit, Opfermut, männliche Entschiedenheit, Intelligenz, Ritterlichkeit und künstlerische Begabung. Ein Montenegriner wie Milovan Ðilas, der immer wieder gegen die Belgrader Machthaber protestierte, immer wieder die schweren Gefängnisstrafen auf sich nahm, seine früheren Irrtümer offen bekannte und nie klein beigab, wäre bei uns in Westeuropa nur äußerst selten zu finden.
17. DAS PROBLEM ITALIEN
Was geschah in Italien im vorigen Jahrhundert? Dort sehen wir bald die nationaldemokratische Idee des Risorgimento mit betontem Linksdrall entstehen, doch fehlte in Italien anders als in Deutschland die Reichsidee. Die Vertreter des Risorgimento träumten nicht von einem italienischen Staatenbund (nach dem Muster des Deutschen Bundes), sondern von einer zentralistischen italienischen Gesamtmonarchie – wenn nicht von einer demokratischen Republik. Diese Sehnsucht nach einem liberal-progressiv-laizistischen Einheitsstaat, von der Französischen Revolution und der Freimaurerei inspiriert, war in den verschiedenen Teilen des Landes und den Klassen unterschiedlich vertreten. Zwei der reichsten und wirtschaftlich entwickeltsten Regionen, die Lombardei mit Mailand und Venetien, gehörten zu Österreich und wurden vorzüglich verwaltet.1) Das nicht minder fortschrittliche Königreich Sardinien, aus Savoyen, Piemont, der früheren Republik Genua und Sardinien bestehend, war einer französischen Dynastie untertan, von der sich aber die gemäßigten Elemente des Risorgimento die Einigung Italiens erwarteten. Zwischen Österreich, Sardinien und dem Kirchenstaat gab es eine Reihe von kleinen Fürstentümern, von denen das Großherzogtum Toskana (mit der Hauptstadt Florenz), von einer Nebenlinie des Hauses Habsburg-Lothringen regiert, das größte war. Auch hier war die Verwaltung ausgezeichnet und seit den Tagen Leopolds II., des späteren Kaisers, höchst „progressiv“.2) Weniger erfolgreich war die Verwaltung des Kirchenstaats, der sich in einer schwachen S–Kurve vom Po bis zum Tyrrhenischen Meer herunterzog. Das tägliche Leben in diesem Land war für die meisten Bewohner keineswegs schlecht; es hatte sogar einige ausgezeichnete Institutionen, wie zum Beispiel die Spitäler,3) und das Justizwesen war ausgesprochen mild. Zerfahren und zerrüttelt war eher das Königreich der Beiden Sizilien mit der Hauptstadt Neapel, damals die größte Stadt Italiens (Rom stand bis 1900 an dritter Stelle). Eine große Agrarreform hatte unter Joachim Murat, König von Neapel und Schwager Napoleons, stattgefunden, aber die reichen Grundbesitzer kauften die Parzellen fauler Bauern fleißig wieder auf. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam eine eher radikale Agrarreform. Doch schon damals rührte sich die Mafia in Sizilien und die Camorra am Festland.4) Dazu gab es noch eine Reihe von politischen Geheimbünden, wie zum Beispiel die Carbonari, die sich über ganz Italien ausbreiteten.
Es muß aber gesagt werden, daß diese lokalen Regierungen bei der Masse der Bevölkerung nicht unbeliebt waren. Die von der Idee des Risorgimento Begeisterten gehörten eher den gehobeneren Schichten an, dem großen und dem kleineren Bürgertum, wie auch einem Teil des Adels und nicht zuletzt des Klerus. Der Welschtiroler Graf Antonio Rosmini-Serbati, Gründer des Rosminianer-Ordens, war ein glühender italienischer ‚Patriot‘ und das war auch der sehr katholische Manzoni. Deshalb war es nicht völlig überraschend, als sich 1846 die Hoffnungen der Liberalen auf den neuen Papst, Pius IX., konzentrierten, der schließlich in Rom, im Herzen Italiens, residierte und durch seine durchgreifenden Reformen im Kirchenstaat unter den Anhängern des Risorgimento sich zahlreiche Freunde geschaffen hatte. Ja, ein päpstliches Korps, verstärkt durch Freiwillige, war 1848 nach Norditalien gezogen, um gegen die Österreicher zu kämpfen, aber die Niederlage der Sardinier führte auch zu dessen Rückberufung. Doch Pius IX. fühlte sich dann durch die Ermordung seines Ministers Rossi (ein Opfer der Radikalen) so tief getroffen, daß er den Liberalen jeden Zuspruch verweigerte. Dies führte zu einem Aufstand in Rom, worauf der Papst in die Festung von Gaeta flüchtete. Französische Truppen befreiten ihn aus diesem Exil erst zwei Jahre später. (Auch glaubte Louis Napoleon, damals noch Präsident, durch diese Aktion einen Stein im Brett der Kirche zu bekommen.) Es war aber somit auch offenbar, daß die päpstliche Herrschaft nur mehr durch ausländische Intervention gehalten werden konnte.
Es war erst die Intervention Napoleons III. auf der Seite Sardiniens und des Risorgimento, die 1859–1860 zur Gründung des Königreichs Italien und zur Aussöhnung des sardinischen Königs mit dem Revolutionär Garibaldi und seinen Rothemden führte: Dadurch erhielt die gemäßigte den Vorrang über die extreme Linke. Nur mehr Venedig und der stark verkleinerte Kirchenstaat blieben noch außerhalb des geeinten Italiens. Das siegreiche Preußen legte Venetien 1866 den Italienern zu Füßen, und nach dem Abzug der französischen Truppen bekam Italien dann auch 1870 die Ewige Stadt. Dieser Abzug war das Resultat des deutschen Sieges in Frankreich. 1939 wollte Hitler diese deutschen Geschenke an Italien noch mit dem Südtirol–Abkommen krönen: Die Deutschen Tirols, durch Italiener ersetzt, sollten schließlich in die Krim verpflanzt werden. Freilich gab es nach 1870 immer noch im Sinne der Nationaldemokratie ein „Unerlöstes Italien“, eine Italia Irredenta: Welschtirol und Triest mit Teilen des Küstenlands und das westliche Istrien, wie auch Korsika, Nizza (die Geburtsstadt Garibaldis) und aus historischen Gründen Savoyen, das französischsprachige Stammland der Dynastie. Auch schmerzte es die Italiener, daß die Franzosen Tunis annektiert hatten, denn das war das italienische „Gegenufer“ mit zahlreichen italienischen Immigranten und ländlichen Siedlern.
Doch muß man sich fragen, ob die Einigung Italiens ein Erfolg war. Genau so wie in deutschen Landen vor der Errichtung des Zweiten Reichs, gab es in Italien eine Reihe von Staaten mit eigenen Hauptstädten, Höfen und einer Vielfalt von Gesellschaften mit verschiedenen Sitten und Gebräuchen. Oft wurde selbst in den höchsten Kreisen (wie zum Beispiel in Venedig) der lokale Dialekt gesprochen. Die Kultur Piemonts war weitgehend französisch. Mailand hatte ein ganz anderes Lebensgefühl als Neapel. Rom und Florenz waren Welten für sich. Nun aber sollte Italien in einen Einheitsbrei verwandelt werden, was glücklicherweise trotz aller Anstrengungen nicht völlig gelingen sollte. Auch noch im Ersten Weltkrieg hatten Sizilianer nicht das geringste Interesse an einer „Erlösung“ von Triest oder Trient. Man denke da einmal an die Höhlenbewohner der Sassi von Matera in der Basilicata, die aber auf ihre Art mit ihrem Los keineswegs unzufrieden waren.5) Doch in Bologna, in Udine und in Turin verlief das Leben in ähnlichen Bahnen wie weiter im Norden. Zweifellos waren hier die ethnisch-kulturellen Unterschiede bedeutend mehr markiert als im Deutschen Reich. Cavour, der eigentliche Gründer des italienischen Einheitsstaates, hatte nicht umsonst einen französischen Namen und eine hugenottische Mutter; auch liebte er die Stadt Genf über alle Maßen. Er war ein „Nordeuropäer“, ein liberaler und fortschrittlicher Graf, der ein mediterranes Land bedachtsam zusammengeklebt hatte…
Doch das Verhältnis dieses neuen, im Vergleich zum Zweiten Deutschen Reich unhistorischen Landes zur Kirche war schwer getrübt. Die Könige Italiens waren von 1870 bis Anfang 1929 als Usurpatoren Roms automatisch exkommuniziert, also von den Sakramenten ausgeschlossen und wurden immer wieder nur auf dem Totenbett in die Kirche aufgenommen. Katholiken wurden anfänglich von der Kirche aufgefordert, am politischen Leben überhaupt nicht teilzunehmen (taten es aber natürlich doch); ein führender jüdischer Freimaurer und Kirchenfeind, Signor Nathan, wurde Bürgermeister Roms; man baute ein riesiges Finanzministerium in der Nähe des Vatikans, um diesen in den Schatten zu stellen und errichtete ein Denkmal für Giordano Bruno: Der Abgrund zwischen Staat und Kirche war durch die Besetzung des Kirchenstaates total. Natürlich wurde den Italienern auch die Zwangszivilehe aufoktroyiert, die Bismarck im Zweiten Reich und das Dritte Reich in Österreich noch viel später dauernd(!) eingeführt hatten. Der Papst betrachtete sich als Gefangener im Vatikan, und als Italien schließlich im Ersten Weltkrieg sich auf die Seite der Westmächte stellte, mußten die Alliierten in den Londoner Protokollen die Zusicherung geben, daß der Vatikan zu Friedensverhandlungen nicht eingeladen werden durfte.
Das geeinte Italien war also in jeglicher Beziehung – territorial, psychologisch, weltanschaulich – nicht wirklich geeint, und das einfache Volk trauerte eine zeitlang den entschwundenen Lokaldynastien nach. Italien wurde von gemäßigt linken Kräften regiert, während auf der äußersten Linken der Sozialismus steigend Anhänger gewann. Auch der Anarchismus als zugespitzter, staatsfeindlicher Individualismus, der italienischen Volksseele sehr gut angepaßt, entfaltete sich recht bedenklich. (Es fragt sich, wie viele kommunistische Wähler Italiens heute in Wirklichkeit Anarchisten sind, die sich in die PCI oder auch in die Brigate Rosse verirrt haben!) Der Antiklerikalismus, sowohl mit dem Sozialismus und Nationalismus als auch mit dem Liberalismus innigst verbunden, färbte die politische und kulturelle Szene. Das technisch, materiell-organisatorisch-disziplinär „zurückgebliebene“ Land wollte mit seinen Führern um jeden Preis „fortschrittlich“ sein und mit der Mitte und dem Norden Europas erfolgreich konkurrieren. Die Kirche zu beschuldigen, am „Rückstand“ die Hauptschuld zu tragen, war ein beliebtes Alibi für viele Schwächen, ein naheliegender Kampfschrei. War man doch im angebeteten Norden davon überzeugt, daß die Kirche den Analphabetismus fördere, das Obskurantentum anfeuere und den „Konservatismus“ auf ihre Fahnen geschrieben hatte.6)
Unter allen diesen Umständen war es sehr natürlich, daß das Verhältnis Italiens zum Dreierbund (Österreich-Ungarn, Deutsches Reich, Italien), der eigentlich nur dank der Verstimmung Italiens durch die französische Annexion von Tunesien entstanden war, nicht sehr haltbar sein konnte. Deutschland wurde zwar bewundert, aber nicht geliebt, denn als Tourist war der milord anglais bedeutend freigebiger, wenn nicht auch manierlicher. Österreich–Ungarn hingegen war national der Erbfeind und historisch der Hort des katholischen Glaubens. Dazu kam das magische Bild der Italia Irredenta von Trient bis zur Bocche di Cattaro! Doch gab es in Italien auch Kreise, die in der Minderheit waren, aber am Dreierbund festhielten. Ich kannte italienische Offiziere, die im Sommer 1914 von einer Mobilisierung gegen Frankreich träumten und auch später den italienischen Kriegseintritt nicht nur als Verrat, sondern auch als politischen Unsinn allerersten Ranges betrachteten – was er auch tatsächlich war.
Das savoyische Königtum war nicht stark, und Italien war eine eher parlamentarische als konstitutionelle Monarchie. Die Politik wurde nicht vom König, sondern fast ausschließlich von Politikern gemacht. Die republikanischen Traditionen in Italien waren stark, stärker als anderswo in Europa mit Ausnahme der Schweiz und Frankreichs: Da waren das Beispiel der antiken römischen Republik, die verschiedenen Versuche einer römischen Republik in neuerer Zeit (die letzte mit der Beteiligung Garibaldis 1848–1849), die venezianische und die genuesische Republik, die republikanischen Perioden von Florenz. Und schließlich war der Kirchenstaat nur eine Wahlmonarchie. Auch vergesse man nicht, daß gerade weil Italien eine republikanische Tradition hatte, es dort auch eine solche der Diktatur mit antiken Wutzeln gab, ist doch die Diktatur eine republikanische Institution. Und die Tradition einer Duarchie? Auch eine solche hatte es im alten Rom mit den beiden Konsuln gegeben. (Und in Notzeiten den Dictator.)
Mit all diesen Problemen beschwert trat Italien in den Ersten Weltkrieg ein, nachdem die Versuche, von der mit Rußland auf Leben und Tod kämpfenden Donaumonarchie Gebietsabtretungen zu erpressen, gescheitert waren.
18. UNRUHIGES IBERIEN
Spanien und Portugal waren im 19. Jahrhundert noch viel einschneidenderen Krisen ausgesetzt als Italien. Nach 1813 kämpften keine ausländischen Truppen mehr auf der iberischen Halbinsel, dafür aber blühten die Bürgerkriege. Das Régime Joseph Bonapartes, wie auch der Einbruch der Ideen der Französischen Revolution ließen hier tiefe Spuren. Man spricht gerne über die „Romanen“ oder den „lateinischen Charakter“, aber die Portugiesen sind von den Spaniern grundverschieden, die Kastilier unterscheiden sich von den Katalanen, und die Basken sind natürlich ein Sonderfall.1) Alle diese Völker sind härter und stolzer als die Italiener: „una piccola combinazione“ gefällt den Iberern nicht. Kompromisse werden scharf abgelehnt.2)
Die Spanier – das sind die Kastilier, Katalanen, Galizier und gewissermaßen auch die Basken – hatten am Anfang des 18. Jahrhunderts das Pech, daß dank des Patt im Spanischen Erbfolgekrieg die Habsburger durch die Bourbonen ersetzt wurden. Mit Ausnahme von Karl III. (der schon früher König in Neapel war) hat diese Dynastie in Spanien keinen hervorragenden Monarchen hervorgebracht. Die Habsburger, wie vor ihnen Ferdinand und Isabella, los reyes católicos, waren die Glorie Spaniens gewesen – bis allerdings auf den Zweiten Karl, el rey hechizado, der verrückt war und kinderlos starb. Karl IV. aus dem Hause Bourbon wurde ein Gefangener Napoleons, der seinen Bruder Joseph als König einsetzte. Das aber war den Spaniern zu viel: Das Volk erhob sich in einer grimmigen Revolte, die von England aus militärisch unterstützt wurde. Ein „modernes“ Volk erträgt eine Fremdherrschaft, ein urwüchsiges tut dies nicht. Die spanische Erhebung zehrte an den Armeen Napoleons bis zum bitteren Ende und inspirierte sicherlich auch die Erhebung eines anderen „rückständigen“ Volkes, das Rückgrat hatte, der Tiroler. Doch der Tiroler Aufstand war von einem Mann von hoher Qualität geleitet, der spanische Aufstand hingegen war spontan und kopflos. Im Gegensatz zu den Südamerikanern kennen die Spanier den Personenkult eigentlich nicht. Auch Franco war nie allgemein beliebt.