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Doch war Spanien immer auch der Empfänger ausländischer Ideen. Im Jahre 1812, als schon der Süden befreit war, traten in Cádiz die Cortes zusammen, nicht als „ständische“ Vertretung,3) sondern als Parlament modernen Stils, und gaben dem Land eine Verfassung – die einer konstitutionellen Monarchie. Die Befürworter dieser Verfassung waren die „Freiheitlichen“, los liberales.4) Diese Verfassung wurde nach dem Abzug der Franzosen und der Rückkehr der Bourbonen von Ferdinand VII., dem Sohn Karls IV. anerkannt, dann aber wieder abgelehnt. Ein neuer Aufstand brachte die Intervention der Heiligen Allianz, doch schließlich wandte sich der wankelmütige Ferdinand wieder den Liberalen zu. Seine Witwe (die vierte Frau!) schloß sich fest an das liberale Lager an und wurde die Regentin ihrer Tochter, der Königin Isabel II. Diese „altkastilische“ Erbfolge war jedoch dem inzwischen von Spanien übernommenen salischen Erbrecht, das der männlichen Thronfolge den absoluten Vorrang gibt, entgegengesetzt. Karl, der Bruder Ferdinands, beanspruchte den Thron. Ihn unterstützten die katholisch-konservativen Apostólicos, und dieser Erbfolgestreit, der bis auf unsere Tage angedauert hat, leitete die Serie der Karlistenkriege ein, in denen das konservative und katholische Spanien der Carlistas und das liberale Spanien der Isabelinos sich mörderische Schlachten lieferten. Nach dem Tode Ferdinands erhoben sich die Karlisten im Norden des Landes und wurden erst 1838 besiegt. Ein karlistischer Putsch mißlang im Jahre 1860. Doch die Kriege flammten wieder in voller Stärke im Jahre 1872 auf, als Amadeus von Savoyen auf die spanische Krone verzichtete und das Land herrenlos war. Sie dauerten bis 1876.5) Sind das bloß historische Reminiszenzen? Keine Spur. Ohne die Hilfe der Karlisten, die am tapfersten kämpften, wäre die Militärrevolution, die im Juli 1936 ausbrach, nie gewonnen worden.
Die ganze Geschichte Spaniens von 1808 an ist blutig; mit dem Gift der Französischen Revolution in seinen Eingeweiden sollte das Land nie zur Ruhe kommen: eine Revolution, eine Krise, eine Rebellion, ein Bürgerkrieg, ein Umsturz folgte nach dem anderen. General Franco gab im Mai 1946 in den Cortes einen Abriß der spanischen Geschichte seit jenen Tagen bis zum Juli 1936 als der große Bürgerkrieg ausbrach, in dem es nur der Zufall wollte, daß Franco eine so gewichtige Rolle spielte. Ferdinand VII., sagte er, kehrte nach einem grauenhaften Krieg und Bürgerkrieg, der mit der Niederlage der Franzosen endete, im März 1814 nach Spanien zurück. 19 Jahre hindurch dauerte der Kampf zwischen Absolutismus und Liberalismus – sechs Jahre des Absolutismus mit der Unterdrückung der Liberalen, drei Jahre liberaler Herrschaft mit blutiger Verfolgung der Absolutisten, zehn Jahre eines milden Absolutismus bis zur Herrschaft von Isabel II., mit fortwährenden Revolten und Aufständen, einem Bürgerkrieg, der zu einer ausländischen Intervention führte, dem fast totalen Verlust des Kolonialreichs und der steigenden Gefahr der Karlistenkriege. Vom Tode Ferdinands VII. bis zum Sturz der Königin Isabel, vom September 1833 bis zum September 1868, sah Spanien 41 Regierungen und zwei Bürgerkriege, von denen der erste sechs Jahre dauerte. Es gab zwei Regentschaften und den Sturz der Monarchie, drei neue Verfassungen, 15 Militärrevolten, zahlreiche lokale Unruhen, häufige Priestermorde, Brandlegungen, Verhaftungen, Meutereien, einen Attentatsversuch auf die Königin und zwei Aufstände in Kuba.
Vom Fall der Monarchie im Jahre 1868 bis zur Regierung Alfons XIII., etwas weniger als 34 Jahre, gab es 27 Regierungen, einen ausländischen König (Amadeus von Savoyen), der nur zwei Jahre regierte, eine Republik, die vier Präsidenten in elf Monaten hatte, einen Bürgerkrieg, der sieben Jahre dauerte, verschiedene republikanische Aufstände und fast dauernde Rebellionen; dazu kam ein Krieg mit den Vereinigten Staaten, der dem Land beinahe den Rest der Kolonien kostete. Zwei Präsidenten der Republik wurden umgebracht, und es gab zwei neue Verfassungen.
Von der Thronbesteigung Alfons XIII. bis zum 4. April 1931, als die zweite Republik ausgerufen wurde, gab es in den ersten 28 Jahren 29 Regierungen. Drei Attentate richteten sich gegen das Leben des Königs. Es gab verschiedene revolutionäre Bewegungen, militärische Revolten und die Errichtung einer Diktatur. Diese dauerte sieben Jahre, das einzige Zwischenspiel, das Frieden, Ordnung und Fortschritt brachte. Das Jahr darauf sah zwei verschiedene Regierungen und den Fall der Monarchie. Die Republik, die vom April 1931 bis zum Juli 1936 bestand, war eine Synthese aller Unruhen, Revolutionen und Rebellionen der spanischen Vergangenheit. In etwas mehr als fünf Jahren gab es zwei Präsidenten, 22 Regierungswechsel, eine Verfassung die fortwährend aufgehoben werden mußte, zahllorse Einäscherungen von Klöstern und Kirchen sowie religiöse Verfolgungen. Es gab sieben schwere Unruhen, eine kommunistisch-anarchistische Revolution (in Asturien), Sezessionsbewegungen in zwei Gebieten und die Ermordung von Oppositionsführern, die von Regierungskräften durchgeführt wurde.6)
Die Richtigkeit dieser Behauptungen kann nicht angezweifelt werden. Sie ist feststellbar. Nur fragt man sich unwillkürlich, ob diese eher doch betrübliche ‚Leistung‘ rein aus dem spanischen Charakter heraus erklärt werden kann oder ob da auch andere Gründe mitspielen. Sicherlich ist der Absolutismus des Denkens, die Verachtung für den Kompromiß, die Begeisterung für alles Extreme sehr spanisch. Man erinnere sich da an das spanische Revolutionslied der Exaltados aus dem Jahre 1821:
Muera quien quiere moderación
A viva siempre, y siempre viva
Y viva siempre la exaltación.7)
Auch wäre es verfehlt, in den Spaniern ein Volk von Neurotikern und Hysterikern zu sehen. Es gibt neben dem Extremismus auch eine spanische Nüchternheit und Klarheit, ja selbst eine spanische Selbstdisziplin, 1968 hatte Spanien die niedrigste Mord- und Totschlagsziffer der Welt.8) Die Schilderungen des spanischen Charakters, die wir von George A. Ticknor, dem „Bostoner Brahmanen“,9) bekamen, der das Land im Jahre 1817 bereiste, berichten von Spanien als von einem für das Reisen sehr beschwerlichen Land, das aber zugleich das „freiheitlichste Land der Welt“ für diesen Amerikaner war. Ticknor war von den Spaniern begeistert: „Hier ist größere Kraft ohne Barbarei, Zivilisation ohne Korruption als irgendwo anders. Kannst du das glauben?“ fragt er seinen Vater Elisha Ticknor in einem Brief. Und später sagt er: „Ein stilleres, anständigeres, die Gesetze befolgendes und loyaleres Volk habe ich nirgends in Europa gesehen.“ Doch mußte er auch erwähnen, daß die Regierung sehr schwach war, und die königlichen Gesetze ganz einfach ignoriert wurden.10) Von der Inquisition aber berichtete Ticknor, daß man sie allgemein verachte und sie nur noch Priester und Lehrer manchmal beeindrucke. Als sie nicht viel später ganz abgeschafft und durch die Polizei ersetzt wurde, gab es wütende Demonstranten, die in den Ruf ausbrachen: „Viva la Inquisición! Muera la policia!“11) Das katholische, anarchische Lebensgefühl war in diesem Volk immer präsent: Vergessen wir da auch nicht, daß weder die Spanier noch die Portugiesen je die Leibeigenschaft gekannt hatten!
Der einzige Faktor, der das historische Spanien einte, war der Glaube, denn politisch, sprachlich, regional, sozial sind die Spanier zutiefst gespalten, aber der gemeinsame Glaube hält sie noch irgendwie zusammen. Nun aber wurde durch die Aufklärung der Glaube unterhöhlt, und der Spanier wandte sich in seinem kompromißlosen Absolutismus nur zu oft anderen „Glaubensformen“ zu. Die Worte Dostojewskijs: „Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt!“ fielen auch beim Spanier auf einen fruchtbaren Boden. Wenn es Gott nicht gibt, dann ist die Kirche nicht vielleicht (wie das ein nordeuropäischer Agnostiker gerne formulieren würde) eine Einrichtung von „volkspädagogischem Wert“, sondern ein ganz ungeheurer Schwindel. Dann aber gehören Priester wie Schweine abgestochen, Nonnen öffentlich geschändet und Klöster kurzerhand eingeäschert. Man erinnere sich an den Wahlspruch der Heiligen Therese von Avila: „Dios o nada – Gott oder Nichts!“ Man bedenke da wieder, daß die Völker der alten Kirche, also der katholischen und der östlichen, revolutionär, die des verweltlichten „Nachprotestantismus“ aber evolutionär sind. Nicht so ganz zufällig war Charles Darwin ein Engländer, und dem Engländer ist heute jeder Bruch mit der Vergangenheit, jeder Absolutismus, jeder Extremismus, jede Kompromißlosigkeit ganz und gar zuwider. Man erinnere sich an die Worte Herzens, die er in einem Brief an einen englischen Adressaten schrieb : „Rußland wird nie juste milieu, Rußland wird nie protestantisch werden!“12)
Diese Erschütterung der ganzen spanischen Gesellschaft (die doch ähnlich der russischen einen sehr demotischen Charakter trägt) darf nicht unterschätzt werden. Dazu kam allerdings noch ein Element, das auch in Italien und Portugal eine nicht geringe Rolle spielte: das Gefühl dem Norden an ‚Modernität‘ und Fortschrittlichkeit unterlegen zu sein. Dort hatte die technische Zivilisation im Rahmen einer ‚Leistungsgesellschaft‘ eine große Disziplin und Konformität produziert, dadurch auch Reichtum gebracht, der auf den Süden beschämend wirkte. Das Resultat war ein Minderwertigkeitskomplex, der durch die Anwesenheit von Touristen (die natürlicherweise13) von Norden nach Süden zogen) noch virulenter gestaltet wurde. Dazu versagte der Parlamentarismus völlig; wenn man es dem Norden – und besonders den Engländern – gleichtun wollte, war das Resultat zugleich tragisch und lächerlich.
Sicherlich funktionierte im Süden die demokratische Republik ebensowenig wie die konstitutionelle Monarchie, denn die Parteien waren und sind auch heute noch im Süden streng ideologisch ausgerichtet und nicht gerade ins and outs wie zum Beispiel in England und in den Vereinigten Staaten. Mit ideologischen Parteien und dem fanatischen Party Spirit konnte zwar eine absolute Monarchie, nicht aber eine Republik und schon gar nicht eine demokratische Republik bestehen. Soviel ahnten auch die Amerikaner, wie ja selbst George Washington in seiner Farewell Address14) dies sehr genau feststellte, denn ein starker Monarch genügt als einigendes Band. Die Ideologisierung im katholischen Bereich kommt aber wiederum vom katholischen Intellektualismus, den schon Luther mit seinem starken Fideismus und seiner Abneigung gegen die Scholastik angeprangert hatte. Deshalb hat im ‚protestantischen‘ Raum die Intellektualität (wie auch die Kunst) nicht den Stellenwert wie in der Welt der alten Kirche. Der britische oder gar der amerikanische Professor hat nicht denselben Status wie sein Kollege in Frankreich, in Mitteleuropa, Südeuropa oder im Osten, wobei hier bemerkt werden muß, daß die deutschen Lande phänotypisch viel eher zum Orbis Catholicus als zum Mundus Reformatus gehören.15)
Portugal war zu dieser Zeit auch nicht viel besser daran als Spanien, denn was die Karlistenkriege für Spanien, waren die Miguelistenkriege für Portugal; auch dort war ein männlicher Erbe, der gegen eine liberale Königin und ihren Anhang Krieg führte – Dom Miguel gegen Maria da Glôria. Auch in Portugal unterlag der konservative Prätendent, und bis zum Ende des Königreichs (1910) regierte dort nicht das Haus Bragança (obwohl es sich so nannte), sondern wie in England, Belgien und Bulgarien das Haus Sachsen-Coburg. Die Nachfolger Dom Miguels lebten zumeist in Österreich,16) doch inzwischen sind die portugiesischen Sachsen-Coburgs ausgestorben, sodaß der jetzige Prätendent von Dom Miguel abstammt.17)
Portugal war trotz seines immerhin noch ausgedehnten Kolonialreichs – Angola, Moçambique, Guinea, São Tomé, Macau, die Kapverdischen Inseln und das halbe Timor – wirtschaftlich und politisch so schwach, daß es praktisch eine Kolonie seines „ältesten Verbündeten“, also Großbritanniens, wurde. Die gewaltige finanzielle und militärische Überlegenheit des Nordens lastete auch auf Portugal schwer. In Spanien kam es nach der Niederlage durch die Amerikaner im Jahre 1898 zu einem intellektuell-literarischen Erwachen: Die „Generation von 98‘“ umfaßte Leute wie Unamuno, Pio Baroja, die beiden Brüder José und Eduardo Ortega y Gasset. Man empfand dort sein Land als „problematisch“ – España como problema; José Ortega schrieb nicht viel später auch sein España invertebrada. Doch Ähnliches ereignete sich auch in Portugal. Dort hatte ein britisches Ultimatum, als Folge des kolonialen Vorstoßes eines portugiesischen Forschungsreisenden in Afrika (Serpa Pinto), einen psychologischen nationalen Notstand hervorgerufen. Auf die Spitze getrieben wurde diese Krise durch eine britische Flottendemonstration an der Tejo-Mündung. Man darf da nicht vergessen, daß Portugal im 16. Jahrhundert das größte Kolonialreich der Welt von Brasilien bis Macau besessen und praktisch alle Ozeane regiert hatte, während England zu dieser Zeit noch ein rechter Seeräuberstaat war.18) Der große portugiesische Dichter Tarquinio Anthero de Quental verübte bald daraufhin Selbstmord und schrieb zum Abschied:
„Ein englischer Staatsmann des letzten Jahrhunderts, der zweifellos auch ein kluger Beobachter und Philosoph gewesen war, Horace Walpole, hatte gesagt, daß für jene, die fühlen, das Leben eine Tragödie, für die aber, die denken, eine Komödie ist. Gut, wenn wir Portugiesen, die fühlen, tragisch zugrunde gehen müssen, so ist das ein edles Schicksal verglichen mit dem, das in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft England beschieden sein wird, das elend und komödienhaft untergehen wird.“19)
Man muß allerdings bezweifeln, daß die Engländer berechnende Intellektualisten sind, aber Anthero de Quental hatte da etwas gesagt, was im Süden Europas sehr allgemein empfunden wurde.
Die Geschichte Portugals bis zum Sturz der Monarchie ist eine Spanien ähnliche: Revolten und Revolutionen, politische Morde, schwerste Finanzkrisen, alles getragen von der portugiesischen saudade, einer Mischung von Traurigkeit und unerklärlichem Heimweh. Portugal ist allerdings auch ein Land wuchtigster Schicksalsschläge, wie die spanische Herrschaft von 1580 bis 1640, die die Holländer weidlich ausnützten,20) das fürchterliche Erdbeben von 1755, dem nicht nur das alte Lissabon zum Opfer fiel, sondern das auch eine tiefe Glaubenskrise hervorrief und das Régime des kirchenfeindlichen Marquis Pombal psychologisch erst möglich machte. Er war der große „aufgeklärte“ Verfolger der Jesuiten, die er einsperren ließ und die in nassen Gefängnissen elend zugrunde gingen. Auch die Zerstörung der jesuitischen Reducciones in Paraguay (von Brasilien aus) war sein Werk. Am Anfang des 19. Jahrhunderts kamen die Kriege zwischen den Briten unter Wellington und den Franzosen dazu, die von Spanien unter Napoleons Bruder Joseph ins Land eingedrungen waren. Wie auch anderswo zeichneten sich die französischen Truppen als tüchtige Plünderer aus. Auch Gotteshäuser verschonten sie nicht. Dann kamen die Kriege zwischen den Miguelisten und den Liberalen, schließlich die große Stagnation, die zu einer völligen Vernachlässigung der Kolonien führte. 1908 kam der Doppelmord an König und Kronprinz in der besten demo-linken Tradition, worauf der zweite Sohn des Königs, Manoel, ein halbes Kind, bis 1910 regierte. Es war dies die erste Gründung einer Republik am ganzen Erdball seit 1870. Doch wie überall folgte dem Ende der Monarchie eine endlose Kette von Pronunciamentos, Staatsbankrotten, Aufständen in einem nun vollends chaotischen Land. Die „europäischen“ Ideen wirkten sich in diesem einfachen, fleißigen, etwas melancholischen und skeptischen Volk ebenso fatal aus wie in Spanien.
19. DER „FORTSCHRITTLICHE“ NORDEN
Der Norden Europas, dem phänotypisch auch die Niederlande, wenn nicht gar Belgien zuzuzählen sind, ging indessen durch eine Periode relativen Wohlstands und einer gewissen Blüte. Zwar waren die skandinavischen Länder nicht annähernd so reich wie nach dem Ersten oder gar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Niederlande zehrten einigermaßen von ihrem Kolonialreich, wenn auch keineswegs in dem Ausmaß, wie es der Laie annimmt. Und wer die Ziffern über den belgischen Kongo kennt – die Einnahmen, die Ausgaben, die Investitionen, die Dividenden – wird sehen, daß dieser afrikanische Besitz für Belgien viel eher eine Belastung als eine Quelle von Profiten war. Doch über den „Kolonialismus“ wollen wir noch später reden.
Während Dänemark in den Jahren 1814 bis 1940 durch zwei Kriege um Schleswig–Holstein erschüttert wurde, hatte Norwegen nur eine kleine Revolte (gegen das Haus Bernadotte und die Personalunion mit Schweden), und Schweden selbst keinen einzigen Krieg bis auf den heutigen Tag. Doch wenn auch das rein geistige Leben im hohen Norden keine sonderlichen Blüten trieb und weder überragende Philosophen noch Theologen hervorbrachte, so hatten doch die Dänen den höchst genialen Søren Kierkegaard, der in seinem eigenen Land kaum einen Widerhall fand und tatsächlich nur im Ausland, vorwiegend von katholischen Interpreten, gründlich studiert wurde.1) Skandinavien produzierte einen großen Komponisten, Grieg, und das benachbarte Finnland einen anderen – Sibelius. Norwegen dazu einen großen Maler: Munch. Anders aber war es um die Literatur bestellt, denn da haben wir eine ganze Reihe von Männern und Frauen, die sich im goldenen Buch der Dichtung verewigt haben: Bjørnson, Ibsen, Lie, Hamsun, Strindberg, Lagerlöf, Jacobsen, Jørgensen, Undset, Stolpe, Stenius.2) Im Vergleich zur Literatur in der italienischen Sprache (man bedenke, daß Norwegen, Dänemark und Schweden zusammen nur an die 16 Millionen Einwohner zählen) war das eine beachtenswerte Leistung. Umsomehr gab man sich aber dem materiellen Fortschritt hin: Die Demokratie, der Liberalismus und moderne Sozialideen florierten im hohen Norden wie auch in den Niederlanden. Dort hatte der Komfort im Rahmen einer hochbürgerlichen Kultur (mit sehr starkem Konfessions-und Klassenempfinden) eine wahre Spitze erreicht. In Belgien zeigten sich allerdings schon beträchtliche Spannungen zwischen dem französischen und dem flämischen Element.
Als sich Belgien 1830 von den Niederlanden losriß, war ein „Diktat“ des Wiener Kongresses zerbrochen. Seit der Reformation und der Teilung der Niederlande in eine überwiegend kalvinische Republik und in spanische, später österreichische Niederlande hatten sich der Norden und der Süden auseinandergelebt. Bei den „Generalstaaten“ blieben aber noch sehr viele Katholiken, die gewohnt waren als Niedervolk unter kalvinischer Herrschaft, als Bürger dritter Klasse, im Schatten zu leben.3) Das konnte nach 1815 den Flamen und Wallonen nicht zugemutet werden, die schon vor der französischen Invasion gegen die kirchenreformatorischen Verfügungen Josephs II. heftig reagiert hatten. Was nun die Flamen und Wallonen im Aufstand von 1830 einte, war natürlicherweise der katholische Glauben – und selbstverständlich gab ihnen auch der Umstand, daß sie im „Vereinten Königreich“ damals als Katholiken die große Mehrheit bildeten – an die 70 Prozent der Bevölkerung – zusätzlichen Mut. Zudem war im 19. Jahrhundert „Belgien“ volkreicher als der ‚Norden‘.
Doch sprach auch die Oberschichte der Flamen französisch viel eher denn niederländisch. Es muß aber auch im gleichen Atem zugegeben werden, daß das Französische im Norden sehr verbreitet war und noch vor hundert Jahren die Gesellschaft in Limburg und Nord-Brabant häufig unter sich französisch konversierte.4) Nun aber entstand in dem neuen Staat, der auf dem Boden der alten habsburgischen Niederlande stand und „Belgien“ (nach einem alten keltischen Volksstamm) genannt wurde und über den ein zum katholischen Glauben übergetretener König regierte, allmählich eine Spannung zwischen den beiden Volksgruppen – eine Spannung, die sowohl einen nationalen wie auch einen soziologischen Hintergrund hatte. Die Flamen wollten zunehmend, ihre Sprache nicht als „Niedersprache“, sondern dem Französischen ebenbürtig behandelt sehen. In der flämischen Gesellschaft wurde diese Forderung anfänglich nicht ernst genommen: Erst allmählich änderte sich auch in den Oberschichten diese Haltung.5) Die Emanzipationsbewegung der Flamen hatte zum Teil aber auch einen religiösen Charakter. Am Papier waren die Flamen genau so katholische Christen wie die Wallonen, aber letztere (nicht zuletzt dank des Einflusses des benachbarten Frankreichs) standen im Schnitt weiter links als die Flamen, waren viel öfter liberal oder gar sozialistisch. Auch der Einfluß der Freimaurerei war bei ihnen größer. So kam es auch dazu, daß fast alle Betriebe in Belgien (und nicht auch zuletzt im belgischen Kongo) entweder „katholisch“ waren oder den frères, den „Brüdern“, gehörten. Freilich war diese Zweiteilung der sprachlichen nicht analog: So war zwar die Universität von Brüssel eine Institution der Freimaurer, während die Löwens rein katholisch war – aber doch sehr lange ausgesprochen französisch, dann „gemischt“ und schließlich sprachlich radikal geteilt. Da die flämische Geburtenziffer (als die „katholischere“) auch größer als die französische war, kamen die Flamen langsam aus ihrem „Minderheitsstadium“ und deshalb auch aus ihren Minderwertigkeitsgefühlen heraus und konnten es sich somit gestatten, recht aggressiv zu werden. Nur war dies ein sehr langsamer Prozeß, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs keineswegs abgeschlossen war. Oft sahen schon damals viele Flamen eher in den Deutschen Eroberern als in den Wallonen ihre Brüder. Die Loyalitäten zerrissen oft die Familien.6) Das Zeitalter der Ziffern, der Wahlen, der Volksvertretungen und des Nationalismus hatte überall seine fatale Wirkung.
In den Niederlanden sah man etwas nicht ganz Unähnliches. Die große Mehrheit bekannte sich als Niederländer (manche von ihnen auch als Holländer)7), doch gab es stets eine sehr kleine Minderheit, die sich Dietsche, also „Deutsche“ nannte, denn vor dem Ausscheiden der Generalstaaten aus dem Heiligen Römischen Reich waren die Niederländer unzweifelhaft ‚Deutsche‘. Darum heißen auch die Niederländer auf Englisch Dutch, und im amerikanischen Slang werden auch heute noch die Deutschen als the Dutch bezeichnet.8) Ein Erasmus von Rotterdam oder ein Papst Hadrian VI. aus Utrecht wurden überall als Deutsche betrachtet. Diese Ursprünge und Gefühle wurden von der deutschen Besatzung in den beiden Weltkriegen weidlich ausgenützt, doch wer mit ihr kollaborierte, hatte oft bitter zu büßen. Tatsächlich bekamen aber durch die deutschen Okkupanten die Flamen (in Ghent) ihre erste Universität, die ihnen nach dem Ersten Weltkrieg zunächst wieder einmal weggenommen wurde.
Zwar waren katholische Parteien in beiden „Niederlanden“ gut organisiert und sehr aktiv, späterhin sogar an einer Mehrzahl von Regierungskoalitionen beteiligt, aber ein eher engherziger Liberalismus beherrschte lange die Szene. Im „Königreich der Niederlande“ gab es sogar zwei kalvinische Parteien.9) Die konfessionellen wie auch die konfessionell-säkularen Gegensätze waren hier viel schärfer als im Deutschen Reich, nicht zuletzt weil auch die ‚niederdeutschen‘ Katholiken besonders kämpferisch sind, und ihre Gegner entweder in einem sektiererischen Liberalismus oder im Kalvinismus (also nicht im Luthertum) zu suchen waren. Die Niederlande sind bis auf den heutigen Tag voll verbissener Gegensätze und dies, obwohl gerade in dieser Region die katholische Kirche in eine (wohl zu erwartende) Krise geriet, und eine enge Zusammenarbeit aller christlicher Konfessionen auf politischem Gebiet jetzt eher die Regel denn die Ausnahme ist.
Außenpolitisch versuchten die beiden Länder, sich aus den großen Spannungen, wenn auch vergeblich, herauszuhalten. Die belgischen Neutralitätskompakte (1831 und 1839), von den Großmächten – Rußland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen – unterschrieben, schützten Belgien nicht vor einer Invasion. (Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Belgien seine Neutralität aus eigenem Antrieb aufgegeben.) Die inneren Wunden, die der Erste Weltkrieg in Belgien schlug, waren in der Zwischenkriegszeit kaum verharscht, als der Zweite Weltkrieg sie wieder aufriß.
Kulturell war die Leistung der beiden Niederlande im 19. und 20. Jahrhundert nicht überragend. Literarisch waren die Flamen vielleicht aktiver als ihre nördlichen Nachbarn. In der Malerei brachte zwar Belgien Ensor hervor,10) die nördlichen Niederländer aber van Gogh. Der französischen Malerei, der russischen oder nordischen Literatur hatten diese Länder, einst wahrhaft führend, nun nichts mehr gleichzusetzen. Dieser Vulkan scheint – zumindestens zeitweilig – ausgebrannt zu sein. (Ähnliches läßt sich schließlich auch von Italien sagen.) Nur einige wenige Namen kommen da einem in Erinnerung: Multatuli, Timmermans, Huizinga, Guido und Caesar Gezelle, wobei wir allerdings hier keine französisch schreibenden Flamen noch Wallonen erwähnt haben.