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Doch weder die Französische Revolution noch die napoleonische Periode waren im übrigen Europa spurlos vorbeigegangen. Im Gegenteil: diese beiden Ereignisse blieben unvergessen, lösten allerlei Reaktionen, aber auch weitere „unterirdische“ Bewegungen aus. „Obenauf“ hatten wir die Romantik, eine christliche Erneuerung, und das erste Mal in der Geschichte ein systemisiertes konservatives Denken.2) Doch waren eben Dinge geschehen, die viele alte, festgefahrene Begriffe und Traditionen gebrochen hatten. Dabei war der Königsmord nichts Neues. Karl I. von England hatte schon dieses Schicksal erfahren und sein Sterben leitete die Britische Republik ein, das Commonwealth unter Cromwell, einem echten „Führer“ und hervorragenden Praktikanten des Genozids.3) Auch ein Papst als Gefangener Frankreichs war keine Neuheit. Fontainebleau war lediglich ein neues Avignon. Doch die Heirat der Tochter des regierenden Habsburgers mit einem korsischen Abenteurer, der, wenn er schlecht aufgelegt war, im Patois seiner Heimat fluchte, oder auch die Besteigung des schwedischen Königsthrones durch einen anderen Advokatensohn, diesmal aus Pau und nicht aus Ajaccio, waren ebenso Brüche mit der Vergangenheit wie die zahlreichen territorialen Veränderungen während der napoleonischen Kriege, wie auch in der Folge des Wiener Kongresses, der keineswegs ganz so „konservativ“ war, wie manche ihn darstellen wollten.
Die gesellschaftlichen Veränderungen waren nicht so schwerwiegend, und alte Traditionen und Haltungen, die man für verloren glaubte, lebten wieder auf – selbst in Frankreich. Napoleon hatte versucht, den Anschluß an das Alte zu finden und stets mit allen Mitteln danach getrachtet, Überläufer aus dem alten Adel zu bekommen. Gewisse Begriffe – Ehrbegriffe, äußere Modalitäten, Gebräuche – kamen wieder auf. Die „Modernität“ regierte noch lange nicht absolut. Man lese da einmal in den Memoiren des Grafen Caulaincourt nach, wie sich nahe bei Moshajsk auf dem Zuge nach Moskau ein „Zivilist“ dem französischen Lager näherte und einen Soldaten auf Wache nach seinen Eindrücken ausfragte. Von einem Offizier zur Rede gestellt, den der Unbekannte arrogant behandelte, dann als russischer Offizier (Uniform unter dem grauen Mantel!) erkannt und verhaftet, überstellte man ihn schließlich Napoleon. Es war dies ein Baron Wintzingerode, den Napoleon als theoretischen Untertan seines Bruders Jérôme, König von Westphalen, agnoszierte und deshalb als Verräter und Spion zu erschießen drohte. Er brüllte Wintzingerode an und wollte sich auf ihn stürzen, als dieser dem Kaiser kalt und unbewegt erklärte: „Sie werden nichts davon tun, Sire! Ich diene jetzt dem Kaiser Alexander!“ Die französischen Offiziere, entsetzt über die schlechten Manieren ihres Souveräns, rissen Napoleon zurück.4) Zwar wurde Wintzingerode ein Gefangener, dinierte aber mit den Offizieren, Napoleon hingegen trotzte allein in seinem Zelt. Die Fiktion, daß ein Krieg unter Gentlemen geführt wurde, war noch aufrechterhalten worden. Im Ersten Weltkrieg war dies nur noch an der Ostfront der Fall. Im Zweiten Weltkrieg war es damit völlig aus.
Schwerwiegender waren die Gebietsveränderungen. Der Reichsdeputationshauptschluß wurde beim Wiener Kongreß nicht zurückgenommen, zahlreiche kleine und kleinste deutsche Fürstentümer, Reichsstädte und alle Bistümer waren für immer von der Landkarte verschwunden. Die früheren österreichischen Niederlande wurden mit den Generalstaaten zu einem „Königreich der Niederlande“ zusammengelegt, was einen größeren Staat mit einer starken katholischen Mehrheit unter einer reformierten Dynastie ergab.5) Zwar hatten die Flamen und die „Holländer“ eine gemeinsame Literatursprache, doch besaßen diese beiden Völker seit 300 Jahren keine innere Bindung mehr. Sowohl die flämische Oberschichte wie auch die Wallonen sprachen französisch, und so erwies sich diese künstliche Amalgamierung bald als Mißgriff. Den Völkern konnten nicht mehr willkürliche Loyalitäten zugemutet werden. Man wollte Sachsen nicht den Preußen überlassen, dafür aber wurde Preußen mit dem Rheinland entlohnt, was dort auch keine übermäßige Begeisterung hervorrief und zugleich Preußen die Aufgabe zuschob, ein Bollwerk gegen die stetige französische Expansion zu werden. (Auch sollte Rußland etwas bekommen und dafür mußten beide, Preußen und Österreich, herhalten – das Resultat war wie 1945 ein russischer Westruck!) Da man aber Frankreich unter keinen Umständen demütigen wollte, ließ man das damals kaum französisierte Elsaß6) bei Frankreich und beanspruchte auch Lothringen nicht, das kurz vor der Revolution französisch geworden war. (Die lothringischen Grafen waren noch bis 1789 im Mainzer Grafenkollegium vertreten.) Auch hier, beim Kongreß, begegnete man wieder einem „Wunder“: Der Vertreter des besiegten Landes, der Ex-Bischof von Autun, Prinz Talleyrand de Perigord, (napoleonischer) Fürst von Benevent, (neapolitanischer) Herzog von Dino, suspendiert, exkommuniziert, zivil vermählt mit der Madame Grand, spielte dank seiner Intelligenz, seines Wissens und Humors auf dem Wiener Kongreß eine führende Rolle.7) Frankreich war am Ende all seiner Aggressionskriege größer als vor der Revolution. Immerhin, ein weiterer Weltkrieg wurde für hundert Jahre auf der Grundlage des Wiener Kongresses vermieden.
Freilich darf man die Irrtümer, die damals begangen wurden, auch nicht übersehen. Nicht nur die Einwohner von Köln, Mainz, Trier und Münster, die alle unter dem Krummstab gelebt hatten, waren auf einmal „Preußen“ und trugen damit den Namen eines nichtdeutschen, baltischen Volksstamms. Auch die Freiburger, echte Vorderösterreicher, wurden „Badener“ und die Venezianer, stolze Kinder der Res Publica Christianissima, Königin der Meere, waren nun wiederum Österreicher. Vor allem hart war das Schicksal der Polen, die geteilt blieben und überdies ihr Herzland nun für ein Jahrhundert unter russischer Herrschaft sahen. Der berühmte Père Gratry hatte sehr richtig gesagt, daß Europa seit den Teilungen Polens in der Todsünde lebe,8) und dieses Übel wurde noch dadurch ärger gemacht, daß man die preußische und österreichische Beute aus der dritten Teilung den Russen gab, die nunmehr 295 Kilometer von Wien und 305 Kilometer von Berlin ihre Grenzposten stehen hatten. (Vor den drei Teilungen lag die Grenze Polens 450 Kilometer westlich von Moskau!)
Eine herzlich schlechte Lösung war auch die Errichtung des Deutschen Bundes anstelle des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.9) Er war viel zu lose, um gegen fremde Eroberungspläne eine geeinte Front darzustellen. Auch waren nunmehr, da man die alten Reichsgrenzen berücksichtigen wollte, ein Teil des Königreiches Preußen (Ostpreußen, Westpreußen und Posen) und ein Großteil der Donaumonarchie (Galizien, die Bukowina, Ungarn mit Kroatien, Dalmatien, Venetien und die Lombardei) außerhalb des Bundes. Der König von Dänemark (als Herrscher von Holstein) gehörte genau so dem Bund an wie der König der Niederlande (als Souverän des nördlichen Limburg). Selbstverständlich waren auch Luxemburg und Liechtenstein in der evangelischen Paulskirche vertreten, die in Frankfurt am Main nicht unweit von der katholischen Kathedrale stand, in der früher die geheiligten (sacrae nicht sanctae) römisch-deutschen Kaiser gewählt wurden. Diese „Lösung“ war nicht rein national, denn es befanden sich innerhalb der Grenzen des Bundes Nichtdeutsche (Wenden, Tschechen, Mährer, Slowenen, Italiener), dafür aber auch Deutsche außerhalb des Bundes – in Schleswig, in Ost- und Westpreußen, in Posen, in Ungarn, im Elsaß und in Lothringen. Auch war der Bund leider so konstruiert, daß er den deutsch-preußischen Krieg des Jahres 1866 nicht verhindern konnte und natürlich ebensowenig die preußisch-italienische Allianz. Auch kam kein anderer deutscher Staat Österreich zur Hilfe, als es von Napoleon III. angegriffen wurde.
Keineswegs gelöst waren die Verhältnisse auf dem Balkan, wo die Griechen und die Serben sich besonders heftig gegen die türkische Herrschaft wehrten. Die Einverleibung des Königreichs Polen (Kongreßpolens) in Rußland, wie auch die russische Herrschaft über Finnland bargen genau so einen Sprengstoff in sich, wie die Personalunion zwischen Schweden und Norwegen. (Die norwegische Krone, die unter der jahrhundertelangen dänischen Herrschaft nichtexistent gewesen war, wurde nunmehr mit der schwedischen vereint.) Auch hier war es der russische Expansionsdrang, der Unheil gebracht hatte, denn Schweden erhielt die norwegische Krone als Entschädigung für Finnland. Und England hatte seine Position im Mittelmeer wieder ausgebaut: es behielt Malta (und gab es dem Orden nicht zurück), dazu kamen dann noch die Ionischen Inseln. Es dachte nicht daran, Gibraltar aufzugeben, und bekam im 19. Jahrhundert noch zusätzlich Zypern und Ägypten.
Die Französische Revolution schien liquidiert, doch der Schein trog. Der Jubelschrei des amerikanischen Staatsmannes, Gouverneur Morris: „Die Bourbonen sind wieder auf ihrem Thron: Europa ist frei!“,10) war nicht nur verfrüht, sondern auch auf lange Sicht gegenstandslos. Die Französische Revolution spielt in unserem Denken, Fühlen und in unseren Überzeugungen eine verhängnisvolle Rolle. Die niedrigen Leidenschaften, die damals entfacht wurden, glimmen weiter. Die beiden Niederlagen – die der Revolution und die ihres Produkts, Napoleons, – können mit einer Krebsoperation verglichen werden, die den Hauptherd entfernt, aber die schon in der Entwicklung befindlichen Metastasen außeracht läßt. Was dann nachfolgt, ist eine Zeit der Scheingesundheit, bis der Krebs sich wieder unheilvoll bemerkbar macht.
4. RECHTS UND LINKS IM 19. JAHRHUNDERT
Die Heilige Allianz – Österreich, Preußen, Rußland und auch Frankreich, während England bald abgesprungen war1) – versuchte, die „alte Ordnung“ aufrechtzuerhalten, doch die neue, unmittelbare Bedrohung dieser Ordnung kam zuerst einmal von der „Nationaldemokratie“. Später erst, als logische Weiterentwicklung der Demokratie, kam dann noch der Sozialismus dazu.2)
Die alte Ordnung, das ancien régime, das man mit gewissen Veränderungen wieder zu Ehren bringen wollte, hatte einen vertikalen Charakter. Von der alten Ordnung hatte Abel Bonnard gesagt, daß der König Vater in seinem Lande war, denn jeder Vater war ein König in seiner Familie.3) Nun aber mußte man sich mit dem Begriff der Gleichheit auseinandersetzen, der rein programmatisch-ideologisch war und mit der menschlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Wie wir schon früher feststellten, hatten überdies die Völker den steigenden Wunsch, „sich selbst“ zu regieren, erreichten aber bestenfalls die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, was im Frühstadium der Französischen Revolution vielleicht auch wirklich erreicht wurde. Hierbei soll aber gleich auch bemerkt werden, daß in der Aktualität und im Endeffekt es jedoch immer wieder eine Minderheit ist, die die große Menge befehligt, und zwar mit oder ohne ihre Einwilligung.
Nun, im Regiertwerden liegt aber ein Fatum der erbsündlichen Menschheit vor, und, wie wir schon andeuteten, ist die Demokratie mit der „Freikörperkultur“, der Technik, der Empfängnisverhütung, der schmerzlosen Geburt, dem Feminismus und der Einbalsamierung der verzweifelte und erfolglose Versuch, die Wirkung der großen Schwächung des ganzen Menschengeschlechtes aus der Welt zu schaffen.
Doch hat die Demokratie mit ihrem Gleichmachertum noch einen ganz anderen Aspekt. Im Menschen stecken zwei Urtriebe: der eine, der animalische, der unserer tierischen Natur entspringt, während der andere rein menschlich ist. Wir sprechen hier von den Trieben zur Nämlichkeit (Identität) und zur Vielfalt (Diversität). Ein Ein-Mark-Stück ist identisch und gleich jedem anderen Ein-Mark-Stück der gleichen Ausgabe. Zwei Fünfzig-Pfennig-Stücke aber sind einem Ein-Mark-Stück nur gleich, aber nicht identisch! Bewegungen, die Gleichheit fordern, sind denen, die Nämlichkeit fordern, zutiefst verwandt; sie fordern und inspirieren sich gegenseitig. Manchmal aber entzweit sie auch die Konkurrenz, die in Haß umschlagen kann.
Nun sind wir tatsächlich manchmal in der Stimmung, mit Menschen unseres Geschlechts, unserer Altersstufe, unserer Volkszugehörigkeit und Rasse, unserer Konfession, politischen Überzeugung, unseres Geschmacks, unserer Bildung und Umfangsformen zusammenzusein, also, einem Herdentrieb folgend, in einem „Wir“ eine angenehme, warme, spiegelhafte Selbstbestätigung zu finden. Doch dann wollen wir zuweilen, von einer romantischen Sehnsucht verlockt, mit Menschen zusammenkommen, die ganz anders sind als wir: Die Anziehungskraft des anderen Geschlechts liegt zum Teil auch jenseits von Eros und Sexus in diesem „konträren Magnetismus“. Dieser verleitet uns auch, auf Reisen zu gehen um fremde Menschen, andere Tiere und Pflanzen zu sehen, andere Bauten, ein anderes Klima kennenzulernen, Speisen zu essen, einer Musik zu lauschen, Sprachen zu hören, Sitten und Gebräuche zu beobachten, die uns „neu“ und ungewohnt sind. Das ist ein Trieb, der dem Tier fehlt. „Originalität“ ist nicht animalisch, das Wort in jedem Sinn genommen. Einem Hund kann man tagaus-tagein dasselbe Futter vorsetzen, der Mensch aber braucht Abwechslung. (Der Spießer, der Banause, der „Primitive“ braucht diese Abwechslung aber wahrscheinlich nicht oder in nur sehr geringem Ausmaß. Dem Ungewissen, dem Fremden steht er unsicher, wenn nicht gar feindlich gegenüber.) Die Worte Goethes: „Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“, sind ihm fremd. Er brüstet sich sogar damit, ein „völlig normaler Mensch“, ein „rechter Kerl“ (regular guy; ordinary, decent chap) zu sein,4) der zwar das Leben genießen möchte, aber keine außerordentlichen Ansprüche erhebt. Den sogenannten Individualisten (wie überhaupt jeden Andersgearteten) blickt er scheel an, wobei wir hier gleich bemerken wollen, daß wir die Ausdrücke „Individualist“ und „Individuum“ aus sprachlichen Gründen meiden wollen: Der Gegensatz zum Herdenmenschen ist nicht etwa der Herrenmensch, sondern der Personalist. Das Wort „Individuum“ bezieht sich auf den letzten „unzerteilbaren“ Teil eines Ganzen: Das Sandkorn im Sandhaufen ist ein „individuelles“ Sandkorn. Das Wort „Person“ hingegen kommt ursprünglich aus dem Etruskischen. Phersú, lateinisch Persona, war die Maske des Schauspielers auf der Bühne und deutete auf eine ganz bestimmte Rolle hin: dramatis personae waren die Personen des Dramas. Hier auf Erden, in dem großartigen „Spiel Gottes“5) sind auch wir dramatis personae mit eigenem, unauswechselbarem, einmaligem und auch unersetzlichem Schicksal und ebensolchen Aufgaben. Anders geht es natürlich (soweit wir dies sehen können) im Ameisen-oder Termitenhaufen zu. Freilich, auch dort gibt es Ungleichheiten, aber auch wiederum unabänderliche Gleichheiten und Auswechselbarkeiten innerhalb der Kategorien. Und setzen wir hier gleich hinzu, daß erst mit dem Christentum der Personalismus in unsere Kultur voll eintritt. Er war im Alten Testament vorgezeichnet, aber noch nicht zur Vollblüte gelangt. Erst mit dem Begriff des „himmlischen Vaterlandes“ und des „Ewigen Lebens“, das sich der Mensch hier in einer Prüfungszeit „baut“ und „einrichtet“, wird ein vollendeter Personalismus möglich, wenn ihn auch deterministische Theologien und Philosophien zu zerstören suchen.
Wie wir aber gesehen haben, kommen in der Französischen Revolution „horizontale“ anstelle von „vertikalen“ politischen und gesellschaftlichen Bindungen auf, die sich in dynamischen, von „Intellektuellen“ angeheizten Volksbewegungen explosiv steigern. Diese hysterisch-sadistischen Ausbrüche geschahen zum Teil im Namen der „Tugend“, der vertus républicaines, und der (strafenden) Gerechtigkeit, die sich vornehmlich gegen einen den „Aberglauben“ verbreitenden, unaufgeklärten Klerus und einen amoralischen, frivolen Adel richteten. Das drückte sich während der Revolution besonders in den fessades aus: Damen wurden auf der Straße von Banden aufgegriffen, festgehalten, ihnen die Röcke hochgezogen und sie dann mit Ruten geprügelt…,6) angeblich alles aus sittlicher Entrüstung. Wie man sieht, beteiligte sich auch das liebe Volk an den Gemütsverirrungen des Göttlichen Marquis.
Doch die psychologische Hauptcharakteristik der Französischen Revolution sind der Gleichheitswahn, der der Freiheit diametral entgegengesetzt ist, und der ethnische Nationalismus, der alles „Unfranzösische“ auszurotten suchte. Im Unterlinden-Museum in Colmar kann man einen zweisprachigen Aufruf an die Frauen des Elsaß bewundern, sich nach der „fränkischen“ und nicht nach der deutschen Mode zu kleiden. Mit anderen Worten: Das Identitäre, das Nämlichkeitsmoment, feierte nach langer Unterbrechung seine bösen Urstände; die Taboriten hatten schon vor 370 Jahren mordend ihr Unwesen getrieben,7) die englischen egalitären Sekten, die Levellers, Diggers, Fünftmonarchianer erst 140 Jahre später.8) Der schauerlichste Nachzügler der Französischen Revolution vor unserem Jahrhundert war allerdings Gracchus Babeuf mit seinen (von Mussolini besungenen) colonnes infernales.9) Was war sein Programm? Das hörte sich so an:
„Alle Schriften über die Offenbarung verbieten; die Kinder werden alle gemeinsam erzogen; kein Kind wird den Namen seines Vaters tragen; kein Franzose wird Frankreich verlassen dürfen; die Städte werden zerstört werden, die Schlösser dem Erdboden gleichgemacht und die Bücher verboten. Die Franzosen werden eine Einheitskleidung tragen; die Armeen werden von Zivilbehörden befehligt, die Toten aber gerichtlich abgeurteilt und nur im Falle einer begünstigten Beurteilung durch die Tribunale ordentlich begraben; keine Schrift darf ohne ausdrückliche Erlaubnis der Regierung veröffentlicht werden.“10)
Allerdings hatte Babeuf nicht nur in der Französischen Revolution, sondern auch in dem mysteriösen Morelly einen ideologischen Vorgänger, der einen Idealstaat nicht unähnlich dem Babeufs beschrieben hatte.11) Auch aus diesem Programm sieht man mit erschreckender Deutlichkeit, daß Freiheit und Gleichheit-Nämlichkeit im Ende unvereinbar sind. Die Natur kennt keine Gleichheiten-Nämlichkeiten: selbst eineiige Zwillinge sind nicht „identisch“. Geographische Gleichheit verlangt das gewaltsame Abtragen der Berge, um die Täler zu füllen, gleichmäßige Hecken brauchen die schmerzhafte Gartenschere, „nationale Einheit“ brutale Denationalisierungen, Vermögensgleichheit Enteignungen und so weiter. Wir stehen immer vor der Entscheidung „Freiheit oder Gleichheit?“ Daher ist die Synthese der (egalitären-identitären) Demokratie mit dem Nationalismus (oder auch Rassismus) wohl möglich, nicht aber – auf die Dauer – mit dem freiheitlichen Liberalismus. Hier steht man nur zu oft einer Täuschung gegenüber. Wie in der christlich-demokratischen Synthese die Demokratie das Christentum verschlingt (was Alexandre Vinet sehr deutlich erkannte), so kommt es schließlich in der liberalen Demokratie zum Erlöschen der Freiheit (wenn andererseits nicht zum Chaos). Auch Goethe sah dies als er in seinen Maximen (No. 953) schrieb: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans.“ Diese phantastische Scharlatanerie beherrscht allerdings die politische Szene der gesamten freien Welt.
In der Reaktion gegen die napoleonischen Eroberungskriege sahen wir aber nicht nur eine christlich-romantische Erneuerung und eine Systemisierung konservativen12) Denkens und Handelns, sondern auch eine vielleicht unerwartete Verschmelzung egalitärer und nationaler Ideen. Dies sollte eigentlich niemanden überrascht haben, denn es handelte sich um die Synthese von zwei Kollektivismen. Hier muß man gleich auch einmal auf die Doppelsinnigkeit des Wortes ‚Volk‘ in so vielen Sprachen hinweisen. Der Terminus ‘Volk‘ kann als (ethnisch-sprachliche) Nation, aber auch als Niedervolk ausgelegt werden. Also sind gerade heute, dank der kommunistischen Sprachregelung, die Ausdrücke für Volksdemokratie und Nationaldemokratie in den slawischen Sprachen identisch.13) Der Ausdruck ‚Volk‘ kann also eine Kampfbereitschaft gegen Monarchie, Adel und Klerus ausdrücken, die bei uns nicht einen nationalen, sondern einen übernationalen Charakter hatten. Anders natürlich als in Japan oder im alten China.14) Im Jahre 1910 waren von den souveränen europäischen Dynastien nur jene von Montenegro (Petrović-Njegoš) und Serbien (Karađorđević) echt einheimisch.15) Der Duke of Edinburgh, Prinzgemahl der jetzigen britischen Königin, war ursprünglich ein „griechischer“ Prinz, aber ohne einen Tropfen griechischen Bluts, denn sein Vater, Prinz Andreas von Griechenland, stammte aus dem dänischen, in Wirklichkeit aber deutschen Haus Sonderburg–Glücksburg–Augustenburg.16) Mit dem Hochadel stand es oft wie mit den Dynastien; viele Familien stammten aus dem Ausland, und Heiraten mit Ausländerinnen waren häufig. So hatte zum Beispiel Churchill eine amerikanische Mutter, teilweise indianischer Abstammung,17) die großen französischen Liberalen de Tocqueville und Montalembert waren englisch verschwägert; im deutschen und österreichischen Adel, wie auch im preußischen Offizierskorps waren sehr viele Familien französischer, italienischer oder slawischer Abstammung.18)
Die nationaldemokratischen Bewegungen, die nun allenthalben ins Kraut schossen, waren deshalb nicht nur egalitär, sondern auch xenophob. „Herrschaft“ hieß oft Fremdherrschaft, die für „das Volk“ schwer erträglich war. Man erinnere sich hier auch daran, daß fast alle republikanischen Bewegungen mit einer Haßkampagne vielleicht psychoanalytischer Natur gegen die „Ausländerin“, die „fremde“ Frau des Monarchen begannen. (Kollektiveifersucht der Frauen? Verdacht, daß der Monarch vielleicht unter dem Pantoffel der „Zugereisten“ stand?) Denken wir da nur an Henrietta-Maria, die katholische Gemahlin Karls I. von England, an Marie-Antoinette (l’Autrichienne), Gemahlin Ludwigs XVI., Kaiserin Alexandra von Russland (aus dem Hause Hessen), Kaiserin Zita von Österreich (Bourbon–Parma), Königin Ena von Spanien (Battenberg). In diese Kategorie gehört auch die Animosität gegen die Princesse de Réthy, Gemahlin Leopolds III., die als Flämin den Wallonen und als Bürgerliche den Kommunisten nicht zu Gesicht stand.19) (Ob die „Fremdheit“ des Herrschers oder Herrscherhauses negativ zu werten ist? Keineswegs. Hier ist größere Objektivität durch Distanz zu erwarten.)20)
Schon zwei Jahre nach der Beendigung des Wiener Kongresses fand auf der Wartburg das Burschenschaftsfest anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Reformation und des vierten Jahrestages der Völkerschlacht (bezeichnender Ausdruck) von Leipzig statt. Dieses Fest hatte einen deutlich nationaldemokratischen Charakter. Die alte schwarz-goldene Reichsfahne wurde mit dem Rot der Revolution bereichert und zu guter Letzt eine Bücherverbrennung veranstaltet, bei der auch die Werke von Kotzebue und von C. L. v. Haller den Flammen übergeben wurden. (Davon lernten dann die Nationalsozialisten!) In Berlin, Wien und Petersburg schlug man Alarm. Und nicht viel später wurde der Staatsrat und Lustspieldichter Kotzebue von einem nationaldemokratischen Terroristen, einem Studenten, erdolcht. Demokratie und Nationalismus arbeiteten in perfekter Gleichschaltung wie später dann Nationalismus und Sozialismus. Der echte Patriotismus mit der vaterländischen Freude an der Vielfalt wich dem Nationalismus, der in seiner Unduldsamkeit alles über einen Leisten schlagen wollte. Wir begegneten auch damals der Gestalt des „Turnvaters Jahn“, eines nationaldemokratisch gesinnten Priegnitzers, der die Massengymnastik erfunden und mit eigener Wortschöpfung „Turnen“ genannt hatte. Dieser brave Mann kam mit den siegreichen Alliierten nach Paris, wo er in einem altdeutschen Phantasiekostüm herumspazierte, mit verschränkten Armen und bösem Blick auf dem Gehsteig Passanten anrempelte und schließlich geschickt wie ein Affe auf den Arc de Triomphe hinaufkletterte, um dem Engel die Tuba aus der Hand zu schlagen, was ihm aber nicht gelang.22 Ihm verdanken wir auch den herrlichen Ausspruch, er sähe es lieber, daß seine Tochter eine öffentliche Dirne würde, als daß sie die französische Sprache erlernte. Unter der „reaktionären“ Regierung Friedrich Wilhelms III. wurde dieser schrullige, aber viel bewunderte und ideengeschichtlich nicht ungefährliche Kauz eingesperrt. Ein Vorläufer des Nationalsozialismus? Zweifellos.23
Die „Reaktion“ war natürlich da, aber reine Reaktionen werden leider selten von der Klugheit geleitet. Die geistig-politische Entwicklung Europas ging, wenn wir von der konservativen Romantik absehen, in die linke Richtung, weil in Europa ein gewaltiges Vakuum eingetreten war, in das die linken Ideen weiter einströmen konnten. Geben wir aber zuerst einmal ruhig zu, daß das Ancien Régime (wie seine besten Vertreter sehr gut wußten) nicht nur reformbedürftig gewesen war, sondern auch einfach nicht dort fortgesetzt werden konnte, wo es aufgehört hatte. Hier muß man sich noch einmal vor Augen halten, daß der königliche Absolutismus eine Degenerationserscheinung der traditionellen europäischen Staatsform gewesen war, und daß die Existenz einer beratenden und in manchen Domänen auch sogar entscheidenden Volksvertretung keineswegs einen Bruch, sondern einen Anschluß an die Vergangenheit bedeutete. Wäre die Revolution mit dem Jahr 1790, mit dem nationalen Verbrüderungsfest auf dem Champ de Mars, beendet worden, hätte auch die Geschichte Europas eine andere Wendung genommen. Vergessen wir nicht, daß der aufgeklärte Absolutismus in einer liberalen Richtung höchst reformfreudig gewesen war und die ständischen Vertretungen in anderen Ländern nur eine gewisse „Modernisierung“ notwendig gehabt hätten. Doch die Mischung von verfahrener Philosophie, religiöser Krise und aufgewühlten Leidenschaften brachte den zu schnell fahrenden Zug zum Entgleisen. Ohne Französische Revolution wäre der Regierungskurs Franz II. (Franz I.) auch ein ganz anderer geworden.24) (Ohne KPI hätte es auch keinen italienischen Faschismus und ohne KPD keinen Nationalsozialismus gegeben.)