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Fourier ist wirklich ein interessanter Fall, denn wir begegnen hier einem wahrhaft geistig Kranken, so Kranken, daß seine Exegese der Vergangenheit und seine Pläne für die Zukunft auch einen neurotischen Intellektuellen wie Marx begeistern mußten. Fourier „nahm an“, daß die Erde einmal einen zweiten Satelliten hatte, der Phoebe hieß und dann auf die Erde herabstürzte. Die Zerstörungen und Verwirrungen infolge dieser Naturkatastrophe bewirkten das Entstehen von 150 neuen Schlangenarten und 43 Rassen von Wanzen. Fourier bestand auch darauf, daß die Bewohner der Planeten und die solariens, die um die Sonne herum lebten, ein Körperorgan hatten, das die Menschen hier auf Erden nicht besaßen. Dieses Glied hatte die folgenden Eigenschaften: Schutz gegen das Umfallen, kraftvolle Verteidigung, herrlicher Schmuck, gigantische Kraft, beachtenswerte Geschicklichkeit und Hilfe bei allen anderen Bewegungen des Leibes. Seiner Beschreibung nach mußte dieses Organ ein Rüssel oder ein Schweif sein, und man kann sich vorstellen, welch wunderbare Karikaturen der solariens damals den Weg in die Zeitungen und Zeitschriften fanden.
Die Geschichte aber wurde in die folgen Phasen eingeteilt:
A) Die Vorgeschichte.
1) Menschenlos.
2) Paradiesisch.
3) Tatenlos.
B) Geteilte Betätigung.
4) Patriarchalismus oder Kleinfabrikation.
5) Barbarismus oder mittelindustriell.
6) Großindustriell („Zivilisation“).
C) Vereinte Industrie.
7) Garantismus oder Halbvereinigung.
8) Soziantismus oder einfache Vereinigung.
9) Harmonie oder Vollvereinigung.
In der „Harmonie“ (das Endziel) wird die Erde in 60 Reiche von ungefähr gleicher Größe aufgeteilt. Sie haben keine Armeen und führen nur wirtschaftliche und technische Aufgaben durch. Das Geschlechtsleben kennt keine Begrenzungen oder Bindungen. Täglich und nächtlich gibt es neue Partnerschaften.
Die wahre Einheit ist der Phalanster, in dem das intensivste Gesellschaftsleben stattfindet. Man schläft von zehn Uhr nachts bis drei Uhr früh, bis vier Uhr wäscht, kleidet und putzt man sich, um für die Morgenversammlung richtig vorbereitet zu sein. Dort wird dann die Nachtchronik vorgelesen, die einem berichtet, wer mit wem geschlafen hat. Damit wird auch die gesunde Neugier befriedigt. Eine halbe Stunde später wird die délite, das erste Frühstück, eingenommen, dem die Industrieparade nachfolgt. Um fünf Uhr früh geht man dann auf die Jagd und um sieben Uhr geht man fischen. Von acht bis neun wird erst richtig gefrühstückt, während um neun Uhr die Zeitungen verteilt und gelesen werden. Um zehn Uhr ist ein Gottesdienst angesetzt. Bis elf Uhr kann man den Fasanen zuschauen, während die Zeit nach elf Uhr für die Bibliothek und ein wenig Arbeit eingeräumt wird. Die Hauptmahlzeit ist um ein Uhr, worauf man sich zu den Glashäusern, den exotischen Pflanzen und den Fischteichen begibt. Wieder wird ein bißchen gearbeitet, aber nur ein bißchen, denn um sechs Uhr fängt ein Champagnergelage an, gefolgt von einem Besuch bei den Merino-Schafen. Um acht Uhr ist Börsenzeit, Abendessen um neun und dann tanzt man bis zehn. Dann, nach diesem erschöpfenden Tageswerk geht’s marsch ins Bett!
Kurioserweise war Fourier auf seine Art und Weise „gläubig“. Der gute Mann war überzeugt, daß der liebe Gott den Menschen mit Leidenschaften, aber nicht mit viel Vernunft ausgestattet hatte. Diese war zudem nur rein-menschlich. Daher sollte man den Leidenschaften nicht widerstehen, sondern sie lediglich klug ins Spiel bringen. Zum Unterschied von den späteren Sozialisten-Kommunisten war jedoch Fourier ein Epikuräer und kein Asket. Als guter Franzose legte er in seiner Utopie großen Wert auf eine erlesene Küche, die von „Gastrosophen“ geleitet werden sollte.
Natürlich sollte es in „Harmonie“ eine Einheitsschule (Gesamtschule) geben und außerdem für die Kinder zwei Verbände: die „Kleinen Banden“ zu zwei Drittel aus kleinen Mädchen und zu einem Drittel aus sanften Buben und daneben die „Kleinen Horden“ in umgekehrter Ratio. Letztere sollten „tatarische Kostüme“ tragen, die so bunt wären, daß schließlich die „Kleinen Horden“ wie Tulpenfelder aussähen. Die „Kleinen Horden“ hatten eine sehr noble Aufgabe: über die richtige Aussprache und Orthographie der Erwachsenen zu wachen! Die „Kleinen Banden“ aber sollten – da Kinder doch so gerne mit Schmutz spielen! – als Müllsammler figurieren. Die Adoleszenten hingegen, je nach dem Grad ihrer Geschlechtstriebe, sollten in Vestalinnen und Vestalen, in Damoiselles und Damoseaux eingeteilt werden.
Mit ihren Arbeitsarmeen (wiewohl sie nur an die zwei Stunden per diem im Einsatz waren) sollten gewaltige Projekte ausgeführt werden. Eine vordergründige Aufgabe war der Suez- und der Panama-Kanal, eine weitere die Fruchtbarmachung der Sahara. Außerdem sollte das nördliche Eismeer parfümiert werden. Durch Zuchtversuche sollte man die Schöpfung um einen „Antilöwen“ bereichern, ein herrliches, zahmes und „elastisches Haustier“, dreimal so groß wie die vorsozialistischen Löwen, auf dessen Rücken man von einer Ecke Frankreichs in die andere galoppieren konnte. „Wie herrlich, in einer Welt leben zu dürfen, in der es so wunderbare Dienstleistungen gibt“, schrieb Fourier dazu. Wir wollen dem Leser das Resumé von hunderten von Seiten ersparen, in denen sich der gute Fourier in paradiesischen Schaubildern erging. Man wäre dabei nur zu leicht versucht einzuwenden, daß sich der „utopische“ vom „wissenschaftlichen“ Sozialismus scharf unterschied, daß zwischen beiden ein Abgrund gähne, doch wäre eine solche Annahme höchst irrig.
Friedrich Engels in seinem Anti-Dühring pries Fourier in den höchsten Tönen, besonders aber für seine Haltung den Frauen gegenüber wie auch für die Geschicklichkeit, mit der er die „Dialektik“ handhabe. In dieser Beziehung verglich Engels Fourier mit Hegel, dessen Zeitgenossen. In den Revolutionsjahren 1848–1849 spielte Victor Considérant, Fouriers wichtigster Jünger, eine große Rolle als Helfer des Oberdemagogen Ledru-Rollin.13) Considérant war früher ein Student der sehr elitären École Polytechnique gewesen und wurde Chefredakteur von La Phalange nach dem Tode Fouriers. Er überredete einen reichen Engländer, einen Phalanster in Condé-sur-Vêgre in Zentralfrankreich zu finanzieren. Dieses Unternehmen brach aber genau so wie die Zeitschrift zusammen. Diese aber wurde durch La démocratie pacifique ersetzt. Doch Considérant schrieb auch fast so phantastische Bücher wie Fourier und dennoch wurde er 1848 und wiederum 1849 in die Assemblée Nationale gewählt, war also genügend verrückt, um auch populär zu sein und Stimmen zu bekommen. Er floh dann über Belgien in die Vereinigten Staaten, um in Texas einen weiteren Phalanster einzurichten, der „Réunion“ genannt wurde und sich bei San Antonio in Texas befand. Auch diesem Unternehmen war kein Erfolg beschieden. 1869 wurde ihm erlaubt, nach Frankreich zurückzukehren, wo er 1893 im Alter von 85 Jahren starb.
Doch erhielt der amerikanische Linksintellektualismus nicht aus Texas „fourieristische“ Impulse, sondern durch die sogenannten New England Transcendentalists, die wie George Ripley antirationalistische Neigungen hatten und sich als „Intuitivisten“ gebärdeten. Trotz ihrer ursprünglichen Mitgliedschaft in der unitarischen Kirche14) unterlagen sie „monastizistischen“ Idealen, und es ist deshalb gar nicht so paradox, daß aus dieser Bewegung der katholische Konvertit und spätere Pater Isaac Hecker hervorging, der zur Bekehrung Amerikas den Paulistenorden (Paulist Fathers) gründete. Auch er hatte in der Brook Farm bei Boston gearbeitet.
Im Jahre 1845 funktionierte George Ripley die Brook Farm in einen Phalanster um. Doch brannte dieser ab, und damit war das Ende dieser Experimente gekommen. Die Brook Farm spielte aber dennoch in der amerikanischen Geistesgeschichte eine äußerst wichtige Rolle und befruchtete geistig das linke Amerika bis auf unsere Tage. Emerson, Amos Bronson Alcott, Theodore Parker, William Henry Channing, Margaret Fuller und Elizabeth Palmer Peabody waren alle mit der Brook Farm in Verbindung gestanden. In einer früheren Periode auch Charles A. Dana, Russell Lowell und Horace Greeley. (Nicht zu vergessen sei Orestes A. Brownson, der aber in seiner Reaktion gegen den Geist der Brook Farm, genauso wie Hecker, „katholisierte“.) Albert Brisbane, der auch an der Brook Farm beteiligt war, gründete die „North American Phalanx“ in New Jersey – ebenso eine Niete wie ein nicht viel später gegründeter „Phalanster“ in Wisconsin.
Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Rußland hatte Fourier seine begeisterten Verehrer. Das sieht man schon bei der Lektüre von Dostojewskijs Die Dämonen (Bjessy). Selbst Alexander I. hatte Fourier gelesen und Bjelinskij war von ihm zutiefst beeindruckt.15) So auch Alexander Herzen, der sowohl in Saint-Simon als auch in Fourier Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus sah. Im „Ungarischen Faust“, dem dramatischen Schauspiel von Imre Madách, Az Ember Tragédiája („Die Tragödie des Menschen“), figurieren die Phalanster als Symbole des Sozialismus.16)
Doch auch Nikolaj Gawrilowitsch Tschernyschewskij, der Sohn eines Priesters, war in seinem Denken von Fourier geprägt worden. Sein programmatischer Roman Schto djélatj? („Was tun?“) steht geistesgeschichtlich am Anfang des russischen Bolschewismus.17) Zwar findet man in diesem Buch nur einen schlau maskierten Hinweis auf Considérants La destinée sociale, aber der Fourierismus ist trotzdem überall bemerkbar. Lenin war ein großer Bewunderer Tschernyschewskijs und nannte die wichtigste seiner Kurzschriften ebenfalls Schto djélatj?18) Ein anderer großer Fourierist war der Exilrusse und Edelmann Peter Lawrow, der in Frankreich lebte.
So sehen wir, wie schon am Anfang des Sozialismus der methodische Wahnsinn stand, wie ja jeder Egalitarismus, der wissentlich und willentlich die menschliche Ungleichheit ganz einfach nicht zur Kenntnis nimmt, psychopathische Züge trägt – was auch Sigmund Freud sehr klar sah.19) Und man sage uns da nicht, daß der „wissenschaftliche“ Sozialismus den Irrsinn des romantischen Sozialismus innerlich überwunden hatte! So kann man deutlich bei Engels lesen, daß der Mensch im Kommunismus alles wissen und alles tun wird. Aus Fähigkeiten wird eine Lust und keine Last.20) Ein Einzelfall? Auch Trotzkij stieß in dasselbe Horn und prophezeite: „Der menschliche Durchschnitt wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. – Über diesen Berggrat werden sich neue Gipfel erheben.“21) Antonio Labriola, der italienische Sozialistenführer, redete nicht anders: „Die Talente werden an jeder Straßenecke stehen und die Platos, Brunos und Galileis in Scharen herumlaufen.“22) Ungeheuerlich – und doch auch nicht so außerordentlich überraschend, wenn man bedenkt, daß man in der Regierungsform, die uns die Französische Revolution beschert hatte und mit der wir immerhin in einem Fünftel der Welt belastet sind, weder Wissen, noch Charakter, noch Erfahrung, noch Moral eine Rolle spielten, sondern lediglich eine egalitäre Arithmetik und als neuester Faktor zusätzlich der telegene Aspekt der Kandidaten. Wollte man diese Verfahrungsweise in der Familie, den Banken, den Armeen, den Schulen, Kirchen, Spitälern, Fabriken, Gefängnissen oder Hotels einführen, würde man sofort auf seinen Geisteszustand untersucht werden. Warum also sollte dieses System sich auf der politischen Ebene viel besser bewähren?
6. PROUDHON, DER KONSERVATIVE SOZIALIST
Der französische Fourierismus kam dank der Schriften und Ideen eines Mannes zum Erlöschen, der unglücklicherweise von Marx verdrängt wurde – von Pierre Joseph Proudhon. Wie Fourier in Besançon geboren, entstammte er den Unterschichten. Sein Vater arbeitete als Faßbinder in einer Bierbrauerei, er aber zuerst am Feld, hatte dann das Glück in einem (katholischen) collège aufgenommen zu werden, wo er Lateinisch, Griechisch und Hebräisch lernte. Er verlor aber bald seinen Glauben und wurde Sozialist. Doch auch in seinem Atheismus, der sich gegen Ende seines Lebens verflüchtigte, hatte er zum Unterschied von Marx eine echt humanistische, wenn nicht metaphysische Weltschau. Auch war er ein „Personalist“, ein „Distributist“ eher denn ein Kollektivist und stand auch der Demokratie äußerst kritisch gegenüber. Zwar fürchtete er die Riesenunternehmen, aber auch nicht weniger den zentralistischen Staat, und zwar beide als Feinde der Freiheit. Ein Konservativer wird in den Schriften Proudhons erstaunlich viel Rüstzeug für seine Ideologie finden, und hätte sich Proudhon in Kreisen der Rechten bewegt, würde er vielleicht seine linken Überzeugungen bald verloren haben. Henri de Lubac SJ schrieb ein ausgezeichnetes Buch Proudhon et le christianisme.1) Constantin Frantz, der große deutsche Konservative, konnte seine Bewunderung für Proudhon nicht verbergen und bedauerte, daß er einen „Französischen Radikalen“ zitieren müsse, denn Deutschland, das klassische Land der Denker, sei unfruchtbar geworden.2) Proudhon andererseits, war überzeugt, daß sein Frankreich ein „Land der Mittelmäßigkeit“ war.
Wir möchten hier nur einige Stellen aus den Schriften Proudhons zitieren, um zu zeigen, wie seine Anschauungen mit den sozialistisch-kommunistischen Thesen, die diktatorisch, zentralistisch und demokratisch waren, in Konflikt geraten mußten. Also hören wir:
„Die Februarrevolution (1848) hat das Klassenwahlrecht abgeschafft, aber damit ist der demokratische Puritanismus noch immer nicht zufriedengestellt. Einige wollen das Wahlrecht auch den Frauen und Kindern geben. Andere protestieren gegen die Entziehung des Wahlrechts bei den Bankrotteuren, entlassenen Verbrechern und Zuchthäuslern. Man muß sich wundern, daß sie nicht Pferden und Eseln das Stimmrecht geben wollten.“3)
„Die Demokratie ist die Staatsform ohne Grenzen.“4)
„Geld, Geld und wieder Geld – das ist der Lebensnerv der Demokratie.“5)
„Die Demokratie ist teurer als die Monarchie, sie ist mit der Freiheit unvereinbar.“6)
„Die Demokratie ist nichts als die Tyrannis der Mehrheit: sie ist die allerabscheulichste Tyrannei, denn sie ruht weder auf der Autorität eines Monarchen, noch auf dem Adel einer Rasse oder auf den Privilegien von Besitz oder Talent. Ihre Grundlage sind Zahlen und Ziffern und ihre Maske der Name des Volkes.“7)
„Die Demokratie ist die Aristokratie der Mittelmäßigkeit.“8)
„Die Autorität, die in der Monarchie das Prinzip des Regierens ist, wird in der Demokratie das Ziel der Regierung.“9)
„Das Volk wird dank seiner Minderwertigkeit und seines Elends stets die Stoßtruppe für Freiheit und Fortschritt sein – aber aufgrund seines Unwissens und der Primitivität seiner Instinkte, der Dringlichkeit seiner Bedürfnisse und der Ungeduld in seinen Wünschen wird es immer einfache Formen der Autorität suchen. Es kümmert sich keinesfalls um Rechtsgarantien, von denen es keine Ahnung hat…, es hat Vertrauen in einen Führer, dessen Ziele es zu kennen glaubt…, diesem Führer gibt es Autorität ohne Grenzen und eine unwiderstehliche Kraft… Das Volk glaubt nicht an Prinzipien, die allein es retten könnten: Es fehlt ihm völlig die Religion der Ideen.“10)
„Die Demokratie ist tatsächlich in ihrer Essenz militaristisch.“11)
„Jeder Staat hat dank seiner Natur die Tendenz, annexionistisch zu sein.“12)
„Wenn man sie allein läßt oder wenn sie nicht von einem Tribun geführt sind, werden die Massen nie etwas erreichen. Sie schauen immer in die Richtung der Vergangenheit. Sie haben keine Traditionen…, von der Politik verstehen sie nichts als die Intrigen, vom Regieren nur den Vergeud und die bloße Gewalt, von der Justiz nur die Anklagen, von der Freiheit lediglich die Schaffung von Idolen, die am nächsten Tag wieder gestürzt werden. Der Aufstieg der Demokratie stellt den Anfang einer Ära der Rückständigkeit dar, die Nation und Staat umbringen wird.“13)
„Nimm die Situation, in der du dich befindest, wie ein Mann an, und überzeuge dich ein für allemal, daß der der glücklichste Mensch ist, der am besten weiß, arm zu sein.“14)
„Meine Anschauungen über die Familie sind dieselben wie die des alten römischen Gesetzes. Der Familienvater ist für mich ein Souverän.“15)
„Wenn wir sagen: ‚das Volk’, dann verstehen wir darunter unweigerlich den am wenigsten fortschrittlichen Teil der Gesellschaft, den unwissendsten, den feigsten und den undankbarsten.“16)
„Wenn die Demokratie sich auf die Vernunft beruft, dann soll sie sich vor allem der Demopädie, der Erziehung des Volkes widmen.“17)
„Das zwanzigste Jahrhundert wird eine Periode der Föderationen einleiten oder die Menschheit wird ein tausendjähriges Fegefeuer erleiden müssen.“18)
Mit diesen und anderen Aussagen mußte Pierre Joseph Proudhon, der ein Autodidakt war, ein selbstloses Leben führte und von hohen Idealen, von der Liebe viel mehr als vom Haß bewegt wurde, mit einem anderen Denker in Konflikt geraten – mit Karl Marx. Beide waren Sozialisten, aber das Leitmotiv Proudhons (der nicht mit vollem Unrecht oft als Anarchist bezeichnet wurde) war eben doch ein christliches. Für seine Ideen brachte er die größten Opfer dar.
Sein Buch Système de contradictions économiques ou Philosophie de la misère (1846) war die Ursache seines Zusammenstoßes mit Marx. Der Bourgeois aus Trier attakkierte Proudhon in einem wüsten Pamphlet, La misère de la philosophie. Marx war ein rein intellektualistischer Revolutionär, der bereit war, über Leichen zu gehen, Proudhon ein sensitiver Revolutionär, dem die menschliche Persönlichkeit am Herzen lag. Wie Henri de Lubac hervorhob, kam er aus der Franche Comté, einem Teil Frankreichs, der lange unter spanischer Herrschaft stand und spezifisch spanischen Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Dort blühte auch ganz besonders die Liebe zur persönlichen Freiheit. Marx hingegen kam aus einem ganz anderen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Milieu.
7. KARL MARX
Wer aber war dieser Karl Marx nun wirklich, der seit mehr als drei Generationen so unendliches Elend über die Welt gebracht hat – durch seine Ideologie, deren Afterideologien und Gegenideologien? Man denke da nur an Kambodscha, wo unter marxistischen Vorzeichen ein Drittel der Bevölkerung ausgerottet wurde! Geboren wurde er 1818 in der Familie eines hochgebildeten, wohlhabenden jüdischen Advokaten in der alten Bischofsstadt Trier als Untertan des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. Als er sechs Jahre alt war, nahm sein Vater den evangelischen Glauben an: die verschiedenen Familienmitglieder wurden in Abständen von einem preußischen Armeekaplan getauft, da es in der Stadt keine lutheranische Kirche gab. Der junge Karl studierte zuerst im sogenannten Jesuitengymnasium1) und las mit seinem Vater die Werke von Voltaire. Die Familie lebte ganz und gar im Geiste der Aufklärung, nur die Mutter klammerte sich noch eine zeitlang an die Traditionen des Judentums.2) Marx setzte dann seine Studien auf den Universitäten von Berlin und Bonn fort und schrieb eine Dissertation für die Universität von Jena über Epikur, der ein früher Materialist war. Schon in Berlin wurde Marx von Hegel beeinflußt, dessen Dialektik er später „umstülpte“.
Von vielleicht größter Wichtigkeit für uns ist die seelische Entwicklung des Gründers des „wissenschaftlichen“ Sozialismus. Sein Verhältnis zur Mutter blieb getrübt, dem Vater, der früh starb, blieb er tief verbunden. (Engels legte ihm das Bild seines Vaters ins Grab.) Der Vater jedoch durchschaute seinen Sohn und klagte, daß Karl zwar einen brillanten Verstand, aber kein Herz habe. Als Marx ihm einmal in einem Brief gestand, daß er ein „zerrissener Mensch“ war, rügte ihn der Vater scharf und schrieb ihm, daß dies die Sprache von jungen Leuten wäre, die sich nicht damit abfinden könnten, kein Schloß, keine Equipagen und keine Million Thaler auf der Bank zu haben.3) Tatsächlich aber bekam Marx als Student von seinem Vater einen großen Monatswechsel, und es wurde bis heute nicht erhellt, für welche Zwecke er dieses Geld verwendet hatte. Zweifellos gehörte der junge Marx der deutschen Romantik an, und Ernst Kux hat sehr recht, wenn er schreibt, daß Marx ein Mann war, der zuerst fühlte und dann seine Gefühle „wissenschaftlich“ zu bestätigen suchte.
Der „junge Marx“, der sich heute bei der ‚Neuen Linken’ einer besonderen Beliebtheit erfreut, kannte tatsächlich Bettina von Arnim, war mit Arnold Ruge befreundet und war ein guter Bekannter von Heinrich Heine, der ihn bald unerträglich fand, einen docteur en révolution und einen „gottlosen Selbstgott“ nannte. Der junge Marx war auch ein Künstler, beziehungsweise ein verhinderter Künstler, der einmal plante, eine Theaterzeitschrift herauszugeben. Er dichtete auch und seine nicht besonders gelungene Lyrik ist ein äußerst wichtiger Schlüssel zu seinem Charakter. Als verhinderter Künstler wollte er aus Rache die Welt zerstören, die ihm nicht die gebührende Achtung entgegenbrachte. Kein Wunder, denn die Kunst ist Schöpfung, und ein Mann, dem man nicht erlaubt, schöpferisch zu wirken, ist restlos „frustriert“. Daher auch sein antitheistisches Wüten:
Hat ein Gott mir alles hingerissen,
Fortgewälzt in Schicksalsfluch und Joch,
Seine Welten – alles – alles missen!
Eins blieb. Die Rache blieb mir doch!4)
Oder auch die Zeilen:
An mir selber will ich stolz mich rächen
An das Wesen, das da oben thront…5)
Ferner:
Einen Thron will ich mir auferbauen
Kalt und riesig soll sein Gipfel sein.6)
Ein herostratisch-selbstbezogenes Gedicht endete hingegen mit den Worten: „Und wir, die Affen eines kalten Gottes.“
Sein Größenwahn drückte sich in seinen Versen über das Weltgericht aus:
Götterähnlich darf ich wandeln
Siegreich ziehn durch ihr Ruinenreich
Jedes Wort ist Blut und Handeln
Meine Brust dem Schöpferbusen gleich.7)
Und wenn man die Worte des Äschylus im Gefesselten Prometheus liest, in dem der Heros seinen ohnmächtigen Haß gegen „Vater Zeus“ ausdrückt, die von Marx in seiner Doktoratsthese als Zitat gebraucht wurden, dann sieht man vielleicht tiefer in seine gequälte Seele hinein.8) Wie sehr er aber Künstler sein wollte und nur ein Amateur war, ersieht man aus seiner utopischen Vision einer sozialistischen Gesellschaft, in der jedermann heute das und morgen jenes tun kann, in der Früh auf die Jagd gehen, Mittag fischen, am Abend etwas Viehzucht treiben, daneben auch nach der Mahlzeit sich als Kritiker betätigen ohne aber wirklich ein Jäger, ein Fischer, ein Schäfer oder auch ein Kritiker zu sein.9) Wie man deutlich sieht, ist Marx auch hier wieder von Fourier beeinflußt. Andererseits spielte er schon lange wie Nietzsche mit der Idee des Übermenschen, als der er sich fühlte. In dieser Beziehung steht er zugegebenermaßen der Neuen Linken näher als dem Leninismus. Doch seine künstlerischen Süchte und Sehnsüchte verließen ihn nie – wie auch Hitler, einen anderen „frustrierten“ Künstler. Marx blieb immer auch ein Ästhetiker. Doch war er kein Ethiker, denn wie kann man – in strikter Logik – ein Moralist und ein Determinist sein? Wenn eiserne, geschichtliche Gesetze alles vorschreiben und vorbestimmen, kann man doch kaum mehr über einen Menschen „urteilen“. Besonders im Alter beschäftigte ihn dieses Problem: er kam zu dem einfachen, aber nicht überraschenden Schluß: „Die Kommunisten predigen keine Moral.“10) Jede Moralität führt zu einer Ideologie (wie er die bourgeoise Weltanschauung nannte), und eine Ideologie führt nicht zu einer Tragödie, sondern zu einer Komödie. Jeder Philosoph, der ein ethisches System verkündet, ist kindisch genug um zu glauben, daß ein anderes oder ein wenig geändertes Gewissen den Gang der Dinge beeinflussen kann. Wie aber könnte das sein, wenn die Geschichte vorausbestimmt und in ihren Gesetzen unwandelbar ist? Mit diesen Ansichten aber enden wir wieder beim biologischanatomischen Determinismus des Marquis de Sade.
Ursprünglich wollte Marx eine akademische Laufbahn ergreifen und strebte eine Professur in Bonn an. Seine Freunde rieten ihm jedoch davon ab, doch wurde er mit 24 Jahren Chefredakteur der Rheinischen Zeitung in Köln. Ein Jahr darauf wurde diese Tageszeitung auf Anordnung der preußischen Regierung verboten, was aber Marx nicht davon abhielt, Jenny von Westphalen, die Tochter eines preußischen Offiziers, zu heiraten. Mit ihrem Vollbruder Edgar verband ihn eine enge, immerwährende Freundschaft, nicht aber mit ihrem Halbbruder Ferdinand von Westphalen, der königlich preußischer Innenminister wurde. Adelige Damen schwärmen bekanntlich nur zu oft für führende Sozialisten und spielten eine nicht geringe Rolle in linken Bewegungen. Dafür gibt es verschiedene psychologische Erklärungen. Auf jeden Fall bildeten in Marxens Leben die verwandtschaftlichen Beziehungen eine große Rolle. Von ihm besonders verehrt wurde ein Onkel durch Heirat, der Niederländer Philips in Zaltbommel. Es ist dies der Großvater des hochkapitalistischen Gründers des weltweiten Philips-Konzerns.11)