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Punkt vier. Diesen praktizierten und praktizieren alle Staaten, die nicht strikt als Rechtsstaaten angesprochen werden können.
Punkt fünf: Dieser bedroht ganz Europa. In verschiedenen „westlichen“ Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich oder Österreich, wurden die Großbanken „nationalisiert“, sodaß dann tatsächlich ein Bankenmonopol des immer mächtiger werdenden Staates vorliegt.
Punkt sechs: Die Zentralisierung und Verstaatlichung des Transportwesens ist im Freien Europa längst abgeschlossen. Nur in den Vereinigten Staaten und in einigen anderen Überseeländern gibt es noch private Eisenbahngesellschaften und auch Fluglinien ohne staatliche Beteiligung. Dasselbe gilt für den Telegramm- und Telefonverkehr36) und sehr weitgehend auch für Rundfunk und Fernsehen. Niemandem fällt es mehr auf, daß wir es hier mit marxistischen Forderungen zu tun haben.
Punkt sieben: Die Nationalisierung eines sehr großen Sektors der Privatwirtschaft ist bei uns allenhalben eine vollendete Tatsache. Wir haben gesehen, wie auch „christliche“ Parteien nach den Zweiten Weltkrieg in Parlamenten für die Erweiterung der Staatsallmacht aus „sozialen Gründen“ und dank ihrer bodenlosen wirtschaftlichen Ignoranz gestimmt hatten. Damit haben wir auch im Westen so viele „volkseigene Betriebe“. Das gilt nicht nur für Frankreich und Österreich, sondern auch für Italien und – gewissermaßen – auch für Spanien.
Punkt acht hat allerdings dem nationalen Sozialismus mit seinem Arbeitsdienst37) besser gefallen als dem internationalen Sozialismus, denn der kommunistische Vollsozialismus ist schon an und für sich ein Arbeitszwangssystem für „Werktätige“. Doch „Arbeitsheere“ hatten wir auch in den Vereinigten Staaten während Roosevelts New Deal.
Punkt neun: Dieser muß im Lichte von Marxens Bauernhaß und seiner Phrase über den „Idiotismus des Landlebens“ verstanden werden. Der Bauer mit eigenem Haus und Feld ist ein „unkontrollierbares“ Wesen. In der Sowjetunion ist auch tatsächlich die „Agrarstadt“ (agrogorod) entstanden. Die Sozialisierung des Agrarsektors durch „Zusammenlegungen“ und Zwangskooperative begünstigt diese Entwicklung.
Punkt zehn: Bei uns finden wir schon allenthalben die Tendenz zur Ganztagsschule, denn die Mütter sollen für einen höheren Lebensstandard und für ihre weibliche „Selbstverwirklichung“ einem Beruf nachgehen. Solche Tendenzen gibt es auch in „bürgerlichen“38) Kreisen. Chruschtschjów hatte den Plan, ab 1980 neunzig Prozent der Sowjetkinder im Alter von sechs Jahren den Eltern wegzunehmen und sie staatlich erziehen zu lassen. (Schon wegen der niedrigen großrussischen Geburtenziffer ist dieser Plan längst fallengelassen worden, denn welches Elternpaar will schon für den Staat allein Kinder produzieren?) Wie man aber sieht, findet man hier im Manifest klassisch linke Pläne, die schon Morelly, Sade und Babeuf gepredigt hatten. Die Kinder gehören eben nicht den Eltern, sondern der Nation!39) Auch soll den Kindern weniger eine geistige und mehr eine praktische („für die materielle Produktion vorbereitende“) Erziehung gegeben werden. Daher auch der Kampf für die Gesamtschule40)) und gegen das (klassische) Gymnasium!
Freilich gibt uns das Manifest keineswegs die ganze marxistische Theorie, aber es zeigt sehr deutlich die Mentalität nicht nur der marxistischen, sondern auch der angeblich „nichtmarxistischen“ Linken. Tatsächlich ist das Hauptwerk des älteren Marx (und das zusätzliche von Engels) nicht viel anderes als eine Intellektualisierung und Rationalisierung des Manifests. Positivismus und Atheismus sind absolute Grundlagen seines Denkens, die auf Comte, Feuerbach und der Umkehrung der Philosophie Hegels beruhen. Als weitere Quellen müssen der französische Sozialismus einschließlich des verachteten Proudhon, der englische Sozialismus (Owen), gewisse Phasen von Ricardo und natürlich auch das ihm übermittelte Bild des Elends der britischen Arbeiterschaft erwähnt werden. Da aber das Vereinte Königreich das am meisten industrialisierte Land Europas war, nahm Marx an, daß alle anderen Länder durch genau denselben Prozeß durchgehen mußten. Das war aber nur sehr zum Teil der Fall. Ein Bücherwurm kann sich eben von der Realität herrlich weit entfernen. Stellen wir hier nur einmal fest, daß Karl Marx seinen Fuß nie in eine Fabrik gesetzt hatte. Von den Arbeitern sprach er stets mit der größten Verachtung, nannte sie „Knoten“ und „Straubinger“. Gerade hierin unterschied er sich, der oft ein Monokel41) trug, radikal von Proudhon.
In seinen Büchern bekommen wir ein volleres Bild seiner Ideen. Nur der erste Band von Das Kapital wurde während seines Lebens veröffentlicht. Die anderen zwei (in manchen Ausgaben drei) wurden von Engels und Kautsky aus dem Material, das Marx hinterlassen hatte, ediert, redigiert und veröffentlicht. Aus den Seiten dieses kritisch-analytischen Werkes kann man eine weitere Konkretisierung der Utopie Marxens eigentlich nicht entnehmen. Das kritische Element war bei Marx weit mehr entwickelt als seine planenden Gaben, denn für das Schöpferische braucht man die Liebe als treibende Kraft, und die fehlte bei Marx. Von allen seinen Theorien über die Übel, Fallen und Gefahren des ‚Kapitalismus‘ (an und für sich ein verfehlter Ausdruck, der mit „freier Marktwirtschaft“ ersetzt werden sollte) ist die Theorie der Konzentrierung und Monopolisierung die einzige, die heute noch ernst genommen werden muß – außer von den Altliberalen, die freilich immer einen Weltmarkt vor Augen haben. (Anders aber die Neuliberalen, die sich vor dem wirtschaftlichen „Kolossalismus“ fürchten.42)) Doch wie uns die Geschichte lehrt, ist die Konzentration ein Problem, das in einem freien Staat und in einer freien Gesellschaft mit Klugheit und nicht bloß mit Strafparagraphen unter Kontrolle gebracht werden kann. (Dafür ist Amerika nicht wirklich als Vorbild zu gebrauchen.) Die Konzentration, der Mammutismus und Kolossalismus sind jedoch wirtschaftliche Grundprinzipien des Sozialismus, der nichts anderes sein kann als ein Staatskapitalismus.43)
Keine andere Prophezeiung Marxens hat sich jedoch bewahrheitet. Marx war wirtschaftsgeschichtlich zu früh geboren und ähnelte daher einem jungen Romanschriftsteller, der Romane über das „Leben“ schreibt, obwohl er nur wieder andere junge Leute kennt. (Hier liegt ein literarisches Privileg des Alters vor: Der Greis mit guter Erinnerungsgabe kann über Kinder und junge Leute, junge Leute aber schwerlich über das hohe Alter schreiben. Sie können es lediglich zu „erraten“ versuchen!) Später in seinem Leben war Marx von der Wichtigkeit der Technik überzeugt, und sie figurierte auch in seinen Berechnungen, aber dieses Element war zu neu, um in den Projektionen gültig verwendet zu werden. (Auch wir wissen herzlich wenig über die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Endwirkungen der Computer und der Automation.) Marx war derartig in seinen Theorien eingesponnen, daß er eine ganze Reihe neuer Faktoren übersah, die von der Niederschrift des Manifests bis zu seinem Tod im Jahre 1883 aufgetreten waren. Zwischen seiner brennenden Intellektualität und seinem hassenden Fanatismus eingekeilt, hatte er pseudoreligiöse Visionen. So dichtete er der Geschichte einen unschuldig-paradiesischen Anfang an, gefolgt von einem „Sündenfall“. Dieser bestand in einer bösartigen, egoistischen Kristallisierung zu einer Klassengesellschaft mit Familie, Religion und Staat, belastet mit einem ausbeuterischen Produktionssystem, bis er, der wahre Prophet, mitsamt seinen Jüngern auf der geschichtlichen Bühne auftrat, um die neue Frohbotschaft der Erlösung mit neuen Heiligen Schriften zu predigen. Das Tausendjährige Reich, beginnend mit einer Diktatur des Proletariats, war nicht mehr weit und sollte uns in das verlorene Paradies der glücklichen Urzeit herrschaftsloser Horden in moderner Version zurückführen. Marx war jedoch zu schlau, um das Beispiel der Frühsozialisten nachzuahmen und uns ein präzises Bild dieser Herrlichkeit zu geben. Er verkündete bloß einen „wissenschaftlichen Sozialismus“, und daher war auch Lenin nach der Machtübernahme etwas verloren und beklagte sich über das Fehlen einer weiteren, genaueren Marschroute.
Es ist nicht leicht zu sagen, wen Marx mehr haßte, die Abweichler im sozialistischen Lager, Männer wie Proudhon, Bakunin, Lassalle, oder den gesichtslosen, großen Feind, die „kapitalistische Bourgeoisie“ mit „Schlössern, Equipagen und Millionen von Thalern“. In seinem Kampf gegen beide Seiten wurde er durch seinen farbenreichen Stil unterstützt, dem wir im Kapital auch zahlreiche brillante Seiten und Passagen verdanken. Der wirkliche Marx wird jedoch nur in seinen Gedichten und Briefen echt lebendig, besonders dann, wenn er Gift und Galle gegen seine früheren Freunde, Mitarbeiter und Sympathisanten speit. Tatsächlich wetteiferte er mit Engels in seinen judenfeindlichen Ausfällen gegen Lassalle, wobei er vor allem die physischen Charakteristiken seines erfolgreichen Konkurrenten aufs Korn nahm. Marx verfiel dann in einen Stil, der sich durch nichts von dem Julius Streichers im Stürmer unterschied. Er war überzeugt, daß ein jüdischer Stamm aus Negern bestand und nannte Lassalle deshalb einen „jüdischen Nigger“, doch auch Engels befleißigte sich nicht einer milderen Tonart.44)
Das ist alles nicht so wunderlich, denn in Wirklichkeit und ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung besteht zwischen der sozialistischen und jüdischen Mentalität ein innerer Gegensatz, der im Laufe der Zeit immer wieder zum Ausdruck kommt. Als kleine Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheit (mit der die Juden heilsgeschichtlich-mystisch verbunden bleiben) haben sie selbstverständlich einen Hang zum einseitig Kritischen, wie er bei jeder religiösen Minderheit zu finden ist. Den Glauben der großen Mehrheit in Frage stellend, betonen diese Minderheiten die Verneinung, was sie natürlich äußerst unpopulär macht, denn nichts geht dem Spießer mehr auf die Nerven als die Kritik, die nicht mit dem bloßen „Raunzen“ oder „Meckern“ zu verwechseln ist. Der echte Kritiker wirkt für ihn „destruktiv“. Wenn aber nun diese kritische Minderheit intellektuell und womöglich auch finanziell erfolgreich ist, wird der bisher schon innerlich unruhige Philister böse. Um das Unglück voll zu machen, kommt dazu die völlig natürliche persönliche Ambition der unter einem gesellschaftlichen Druck stehenden Minderheit.45) Schon ist auch der große Neid der “Überflügelten“ da. Diese Situation ist aber keineswegs einzigartig, denn wir haben so viele andere Parallelfälle: die reichen Reformierten in Frankreich, die Deutschen im alten Rußland, die Armenier und Griechen in der alten Türkei, die Christen im Nahen Osten, die Inder in Afrika, die Viets in Kambodscha und Laos, die Chinesen in Indonesien, die „Neuspanier“ in Mexiko,46) die Japaner und Turcos47) in Brasilien und selbst die Katholiken in den nördlichen Niederlanden.
Wenn auch in der Vergangenheit sehr viele Juden sich von den kritischen Aspekten des Sozialismus angezogen fühlten und wichtige Rollen im frühen Sozialismus gespielt hatten – die Namen Trotzkij, Kamenew, Zinowjew, Radek, Kún, Bernstein, Eisner, Blum, Bauer, Viktor und Friedrich Adler bezeugen es, – so stehen die Juden doch dem sozialistischen Konformismus, Antipersonalismus, dem ständigen Moralisieren und den intellektuellen Kontrollen feindselig gegenüber. Freilich lehnte im alten Rußland, nicht aber in Österreich–Ungarn, der Jude das Ancien Régime ab, eine Haltung, die die neuere jüdische Einwanderung (aus Osteuropa) in das linke Lager drängte. Das aber war bei der alteingesessenen Judenschaft Amerikas nicht der Fall.“48) Bezeichnenderweise ist im amerikanischen Neukonservatismus der Anteil der Juden auffallend groß. Und es muß hier auch gesagt werden, daß im alten, konservativen Lager Europas getaufte Juden ideengeschichtlich eine große Rolle gespielt haben – man denke da an Disraeli und F. J. Stahl, den „Ideologen“ des preußischen Konservatismus. Nicht vergessen darf man auch (ungetaufte) Juden in den Vereinigten Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs nebst gewissen katholischen Kreisen die einzige Gruppe bildeten, die lautstark vor der allzu engen Allianz mit der Sowjetunion warnte.49) Ganz davon abgesehen, hatte es in der sozialistischen Bewegung stets einen radikalen „Antisemitismus“ gegeben. Darüber gibt es reichliches Material.50)
Doch auch in Osteuropa, wo einst die Monarchie eine eher judenfeindliche Rechtsordnung vertrat, mußte es bald zu einem Bruch zwischen dem Marxismus und dem Judentum kommen. Die persönliche Feindschaft zwischen Trotzkij und Stalin hatte dafür den Boden bereitet. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte Stalin viel mehr Juden umgebracht als Hitler.51) Marx selbst hatte den Grund dafür gelegt, als er in einem der giftigsten antijüdischen Pamphlete aller Zeiten (auch Luther in dieser Beziehung übertreffend52)) schrieb: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis des Eigennutzes. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld… Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen.“
Doch dieser Essay schließt nach langen Schimpftiraden gegen das Christentum, das jüdischen Ursprungs ist, und gegen das Judentum, das im Christentum nistet, mit den Worten: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“53) Aber, wie soll das geschehen? Durch eine ‚Endlösung‘? Im Lichte dieser Tatsachen ist es amüsant, sich daran zu erinnern, daß ein christlich-demokratischer Postminister einer Bonner Koalitionsregierung eine Sondermarke mit dem Bildnis von Karl Marx herausgab – von Karl Marx, der unerhörtes Elend über die Menschheit gebracht hat. Warum dann aber nicht von einem seiner Epigonen in der Judenhetze, Julius Streicher?54)
8. DER MARXISMUS
Solange man Marx nur nennt, aber nicht liest, ist der Fortschritt des Sozialismus nicht aufzuhalten. (Herbert Eisenreich im Wiener Journal, März 1983.)
Der Marxismus ist aber nicht nur antijüdisch, er ist auch unproletarisch und höchst ‚bourgeois‘. Gerade deshalb appelliert er so stark an die im Grunde linke, kleinbürgerliche Mentalität kommerziellen Charakters. Waldemar Gurian hatte völlig recht als er schrieb, daß „der Bolschewismus die geheime und uneingestandene Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft ausspricht, wenn er in Gesellschaft und Wirtschaft absolute Elemente sieht. Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit war immer der Kriegsruf der Bourgeoisie. Die Entwicklung und der Sieg der bürgerlichen Gesellschaft haben zum Sieg dieser Ideen verholfen. Der Bolschewismus ist aber zugleich ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Verurteilung. Er zeigt, wohin die geheime Lebensauffassung dieser Gesellschaft führt – und dies mit eiserner Logik.“1) Und es war auch der amerikanische Romancier und Theaterschriftsteller Ben Hecht, der uns ermahnt hatte, nicht an das Klischeebild des Kommunisten als verdreckten, bluttriefenden Revoluzzer zu glauben. Für Hecht war der Kommunismus eine Bewegung, die völlig legitim aus der mittelständischen Demokratie kam. „Der Bolschewismus“, schrieb er, „ist die logische Folge der Demokratie, ein weiterer Schritt hinunter im Abstieg der Menschheit. Bis zum Erscheinen Lenins und Trotzkijs war die amerikanische Demokratie zweifelsohne die grauenhafteste Beleidigung, die auf die Intelligenz unserer Rasse durch die geistig Tieferstehenden geschleudert werden konnte. Doch der Bolschewismus ist noch einen Schritt weitergegangen. Sobald aber unsere niedrigsten Charaktere – die Mehrheit der Politiker, Intellektuellen und Schriftsteller – daraufkommen, daß der Bolschewismus nicht der Rote Terror ist mit der Bombe in der einen und dem Dolch in der anderen Hand, sondern eine gesellschaftliche Ordnung, die unsere noch an Schwäche und abnormaler Dummheit übertrifft, dann wird man jeden verhaften, der nicht ein Bolschewik ist.“2) Harold Laski, der verstorbene Ideologe der Labour Party und Professor an der London School of Economics, drückte sich einfacher aus. Er sah ganz einfach den Sozialismus als weiteres unausweichliches Evolutionsstadium der Demokratie, eine Ansicht, die zweifellos bei Freund und Feind sehr verbreitet ist.3)
Die Siege des Marxismus als Doktrin (wir denken jetzt nicht an die Siege der Roten Armee) haben zumeist nur unter den geistig Tiefstehenderen, den Ungebildeten, Halb- und Dreiviertelgebildeten stattgefunden. Diese Dokrin ist eine fausse idée claire: Sie wirkt besonders in einem Land mit krassen Vermögensunterschieden, wo Millionen von Armen einer Handvoll sehr Reicher gegenüberstehen. Dann liegt es doch „auf der Hand“, daß eine „Neuverteilung“ die Armen reicher machen würde oder noch besser, daß man die Produktionsmittel der „Allgemeinheit“ gibt. Das aber macht die Reichen nur arm, wirkt kulturzerstörend, vermindert zwar den Neid, gibt den Armen kaum ein Pflästerchen4) und schafft einen allmächtigen Staat. „Gleichheit“ gibt es nur in der Sklaverei und nicht in der Freiheit, und welch verschwindender Prozentsatz unserer Mitbürger hat eine auch nur blasse Ahnung von der Wirtschaft. Wer natürlich nichts von einer Wissenschaft versteht, kann darüber „leicht reden“!
Ein weiterer Faktor für diese erfolgreichen Vorstöße des Marxismus ist in der religiösen Krise unserer Zeit zu finden. E. F. W. Tomlinson sagte dazu: „Da die Menschen nicht ohne Philosophie leben können, und wenn sie die richtige von sich weisen, müssen sie sich eben mit dem Abschaum aller anderen begnügen. Der dialektische Materialismus ist ein Konvolut vom Abschaum der heruntergekommenen Metaphysik des 19. Jahrhunderts.“5) Wie wir aber schon andeuteten, besitzt der Marxismus auch pseudoreligiöse Aspekte aus dem Alten und dem Neuen Testament, die nicht nur Dogmen beinhalten, sondern auch an den Opfersinn des Menschen und an seine asketischen Neigungen Anforderungen stellen. Gerade dieser quasireligiöse und zum Teil auch eschatologische Charakter der marxistischen Orthodoxie verursacht bei den Sozialisten, die viel Wasser in ihren Wein gegossen haben, den „Sozialdemokraten“, nur zu oft schwere Gewissensbisse. Dabei aber dürfen wir nie vergessen, daß bei einer Mischung von Wasser und Wein es der Wein ist, der dem Trunk den Geschmack verleiht – und nicht das Wasser.
In England hatte Marx, der sehr wenig mit Engländern verkehrte, sondern viel eher in der Emigraille zuhause war, gewisse Kontakte mit Robert Owen, dem Gründervater des britischen Sozialismus. Im Alter von zwanzig Jahren war dieser begabte Mann, Sohn eines kleinen Kaufmanns, Direktor einer Textilfabrik geworden. Er machte sich jedoch bald unabhängig und gründete in Schottland eine Fabrik, die aber eher ein soziales als ein sozialistisches Experiment war. Dann kaufte Owen von Georg Rapp, Leiter einer kommunistischen deutschen Sekte, eine Siedlung im südlichen Indiana. Die „Rappites“ übersiedelten dann nach Pensylvanien, wo ein neues „New Harmony“ unter der Kontrolle Owens eröffnet wurde, aber auch dieses Experiment war ein Mißerfolg. 1829 kehrte Owen nach England zurück, und er, der ein Reformist gewesen war, wurde nun ein radikaler Sozialist. Er verlor viel von seinem Einfluß, weil er das Christentum angriff, doch ging er in die Geschichte ein, als er 1833 die erste britische Gewerkschaft gründete und dies, wiewohl sein Interesse eher einer modernisierten Zunftbewegung galt. Dann Jegte er die Grundlagen für ein ethisches System, eine Pseudoreligion mit Zentren in halb England in der Form von Halls of Science. Die Basis seiner Lehre war eine Milieu-Theorie: Der Mensch sei das Produkt seiner Umgebung. Das beeinflußte Marx, und diese Lehre ist heute zweifellos ein Dogma der Halbgebildeten. Vor seinem Tod aber machte Owen eine neue Kehrtwendung und wandte sich dem Spiritismus zu.
Marx gründete sechs Jahre nach Owens Tod, 1864, die Internationale Arbeitervereinigung, die „Erste Internationale“, deren Geschichte durch Marxens Kampf mit dem Anarchisten Bakunin zutiefst geprägt wurde. Bakunin, ehemaliger Offizier und Edelmann, war hingegen der Lehrer des großen Anarchisten, des Fürsten Kropotkin.6) Marxens Haß auf die Russen geht auf diese Auseinandersetzung mit Bakunin zurück, der 1872 von der Ersten Internationale ausgeschlossen wurde…, kein Wunder, denn Bakunin sah sehr genau, daß der Marxismus stracks zum allmächtigen, totalitären Staat führen würde.
Bakunin war ein abenteuerlicher Mann, und das war auch Ferdinand Lassalle. Dieser Sohn eines jüdischen Kaufmanns, Intellektueller ersten Ranges, Organisator der deutschen Arbeiter, öfters angeklagt wegen politischer Umtriebe, meistens freigesprochen, mutig, witzig, ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts und Theaterschriftsteller, wurde von Marx als auch von Engels leidenschaftlich gehaßt und zweifellos auch beneidet. Lange einer Gräfin Hatzfeld verbunden, deren Advokat er auch war, fiel er schließlich in einem Duell mit einem Rumänen in der Nähe von Genf. Das Herz und die Hand von Helene von Dönniges, Tochter eines bayrischen Diplomaten, waren die Ursache dieses Zweikampfs gewesen.
Lassalle war vielleicht kein Genie, doch hatte er einen guten Kopf und veröffentlichte mehrere politische und gesellschaftskritische Essays, wie auch ein Buch über Heraklit, das im Geiste der Philosophie Hegels geschrieben war. Lassalles Haltung war national und sozialistisch zugleich; er lehnte auch die Monarchie keineswegs ab und appellierte an Wilhelm I. von Preußen, eine „soziale Monarchie“ zu errichten. Bismarck, mit dem er einen engen Kontakt hatte, sagte in seiner Gedenkrede im preußischen Landtag, Lassalle sei durch und durch Monarchist gewesen, nur hätte er nicht gewußt, ob Preußen von der Dynastie Lassalle oder Hohenzollern hätte regiert werden sollen. Doch dieser brillante Mann war Marx ein Dorn im Auge. Hätte er länger gelebt (er starb im Alter von 39 Jahren), würde die deutsche Arbeiterbewegung eine ganz andere Entwicklung genommen haben, zwar auch eine „nationalsozialistische“, aber ganz und gar nicht im Sinne Hitlers. Als Lassalle 1864 im Zweikampf gefallen war, verlor Marx seinen stärksten Konkurrenten. Erst drei Jahre später wurde der erste Band von Das Kapital in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht.
Der alternde Marx war eine tragische, zugleich aber eine alles andere als erbauliche Figur. Das Fiasko der Pariser Commune erschütterte und verbitterte ihn. Freunde außer Engels hatte er keine. Er hatte eine tiefe Zuneigung zu seinen drei Töchtern, von denen zwei später durch Selbstmord endeten. Sein einziger legitimer Sohn, für den er aber nichts übrig hatte, starb mit acht Jahren, nicht zuletzt aus Geldmangel. Seine Frau, die ihn vergötterte, führte ein Höllendasein. Zudem verführte er die getreue Haushälterin, Lenchen Demuth, die ihm einen Sohn gebar, dessen Vaterschaft Engels übernahm, denn man konnte damals einer deutschen Arbeiterschaft nicht zumuten, einen Ehebrecher und Verführer von Hausangestellten als ihren Führer anzuerkennen.7) (Erst auf dem Totenbett gestand Engels den völlig aus den Wolken gefallenen Töchtern, daß ein ihnen so bekannter junger Mann ihr Halbbruder war.)8) Das idealisierte Familienleben Marxens ist heute als häusliches Jammertal demaskiert worden; die arme Jenny Marx, nêe baronne Westphalen (wie es tatsächlich auf ihrer Visitkarte zu lesen war) lebte in einem wahren Inferno der Armut, denn der gute Karl konnte sich nicht dazu aufraffen, für seine Familie einen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei aber war dieser Proletarierführer ein Snob, der sich teure Anzüge bauen ließ. Neueste Forschungen geben uns das Bild eines im Grunde eitlen, widerlichen, haßerfüllten Menschen. Jean Paul sagt uns in seinem Quintus Fixlein: „Jedem Jahrhundert sendet der Unendliche einen bösen Genius zu, der es versucht.“ Ähnlich äußerte sich auch Goethe.9) Zweifellos war Marx dieser Mann, dessen konkrete Prophezeiungen fast ausnahmslos nicht in Erfüllung gingen, der also logischerweise völlig diskreditiert sein müßte und nach dem kein Hahn mehr krähen sollte, der aber dennoch heute vielleicht lebendiger und „aktueller“ ist als vor hundert Jahren. Das hat seine guten Gründe, als da sind: die Dummheit (die größte Weltmacht), das kurze Gedächtnis der Menschen und die Begeisterungsfähigkeit für „klare aber falsche Ideen“. So glaubt auch heute noch der Mann auf der Straße, daß das „Sozialproblem“ seine Analogie in einer Gefängniszelle mit vier Arrestanten besitzt, darunter einem bärenstarken brutalen Kerl. Dieser nimmt mit roher Gewalt die Hälfte der Portionen seinen Zellengenossen weg und frißt sie selbst auf. Aber nur ein Idiot wird dieses Exempel auf die freie Wirtschaft in einem freien Land übertragen, denn das ist ein mindestens so großer Unsinn wie das „Recht auf Arbeit“. (Wie verwirklicht man das im Falle eines Schriftstellers, Schauspielers, Trapezkünstlers oder Augenarztes?) Doch der Marxismus kommt einem echten Bedürfnis nach: Er „erklärt“ dem Einfältigen die ihm ansonsten sinnlos erscheinende Weltgeschichte und füllt überdies ein ideologisches Vakuum aus, das von echt aufbauenden Ideen erfüllt werden sollte. Doch darüber später mehr.