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»Dann fuhren sie plötzlich ohne Lotsen weg, und das erfordert eine gute Erklärung, sonst fällt eine saftige Geldstrafe an.«
»Wann sind sie denn weggefahren?«
Vantanen wusste es nicht, sie waren jedoch recht sonderbar. Alle sprachen russisch, nur der Kapitän konnte ein paar Worte Englisch. Aber Vantanen hatte gehört, wie sich zwei von ihnen auf Schwedisch unterhalten hatten, und als er sie ansprach, taten sie so, als ob sie nichts verstünden.
»Sie kamen aus Sankt Petersburg, wohin sie jedoch nach dem überstürzten Aufbruch fahren wollten, wissen wir nicht.«
»Merkwürdig, oder?«
»Ja, etwas seltsam war das schon. Und dann übernahmen sie das Löschen der Ladung selbst, sie hatten eigene Leute, die die Lasten an Land brachten, Zement und Armierungseisen.«
Malin fragte, ob Vantanen an Bord gewesen sei, als das Schiff im Hafen lag.
»Nein, der Kapitän hatte es eilig. Manchmal wird man noch zu etwas eingeladen, hier jedoch hieß es nur: Danke und Auf Wiedersehen.«
Malin telefonierte weiter. Sie dachte, sie sollte sich einen Überblick über das Hafengelände verschaffen, und sie fand den Aufseher, der für den größten Silo verantwortlich war. Ob er sie wohl auf den Silo hinauflassen könne, wegen der Aussicht. Sie gab sich immer noch als Journalistin aus, die etwas über den Hafen schreiben wollte. Ja, das ginge wohl, ein Architekt wolle gegen zwei auf den Silo hinauf, sie könne ja mitgehen.
Der Architekt war ein rothaariger Mann in den Sechzigern. Er hatte eigene Schlüssel für die alten Getreidelager im Hafen, da sein Büro mit den Entwürfen für die geplanten Umbauten in der Gegend zu tun hatte. Jetzt wollte er in dem höchsten Silo ein paar Fotos machen.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf und stiegen im sechsten Stock aus. Der Architekt erklärte Malin, wie er sich die Wohnungen auf den erstaunlich geräumigen Flächen vorstellte. Die Wände, das Dach und die Stützflächen waren aus grauem Beton, dazwischen verliefen starke Rohre, durch die das Getreide geschüttet worden war. Malin sah sich um und der Architekt begann zu fotografieren. Er würde wohl noch eine Weile bleiben.
»Ich gehe ein Stockwerk höher«, sagte Malin.
»Sei vorsichtig«, sagte der Architekt.
Malin wählte die enge Spiraltreppe, die sich neben dem Fahrstuhl nach oben ringelte. Sie stieg hinauf, blieb ab und an stehen, ging weiter und war bald oben an der Dachluke. Sie schob sie auf und kletterte auf das flache Dach hinaus. Unter ihr lagen die Stadt Norrtälje, der Fluss, die Bucht. Sie konnte in die Hinterhöfe sehen und in die Gassen. Die Menschen waren winzig, die Autos klein wie Spielzeuge.
Sie griff an das Geländer. Es war fest und sie lehnte sich darüber. Sechzig Meter unter ihr lag der Kai, wo Lars Gustavsson umgebracht worden war. Was immer er mitbekommen haben mag, es musste sich in unmittelbarer Umgebung des Tatorts befunden haben.
Da hörte sie ein Geräusch von der Dachluke her und dachte, dass es der Architekt sei, der heraufkam. Der Ärmel, der zuerst durch die Lukenöffnung sichtbar wurde, war jedoch nicht der Ärmel des Architekten. Der Kopf, der folgte, gehörte zu dem jungen Mann mit den kurzen Haaren und der kräftigen Statur. Er war schnell oben auf dem Dach und machte ein paar Schritte auf Malin zu. Sie lief am Rand entlang, umfasste mit beiden Händen das Eisengitter und schwang sich hinüber.
Ein junger Mann und eine ebenso junge Frau spazierten unten am Kai entlang, direkt unterhalb des Silos. Keiner von den beiden sah in diesem Augenblick nach oben. Ein Lastwagen hielt, der Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Auch er blickte nicht zum Silo hinauf.
Wenn sie nach oben geblickt hätten, hätten sie dort eine hastige Bewegung bemerkt. Aber da sie nichts Ungewöhnliches hörten, blickten sie stattdessen hinaus über den Hafen.
Das Lüftungsrohr war etwas rostig; es war mit Eisenklammern an der Betonwand befestigt. Auf der Außenseite des Rohrs befand sich eine Reihe Steigeisen, die ein Stück herausragten. Malin schwang sich über die Brüstung. Sie hielt sich fest, schwankte hin und her, drehte sich, ließ los und konnte unten die Stadt sehen, das Wasser, den Kai. Für einen kurzen Augenblick befand sie sich in freiem Fall.
Sie streckte den rechten Arm aus, schob die Schulter so weit wie möglich vor, spreizte die Finger, schlug gegen eine der Eisenstangen der Treppe, riss sich den Arm auf. Aber sie konnte sich an der nächsten Eisenstange festhalten, ihr Körper drückte sich gegen das Rohr, sie konnte sich jetzt auch mit der anderen Hand festhalten.
Als sie auf das zehn Meter weiter unten hervorstehende kleine Dach hinunterkletterte, warf sie einen Blick nach oben und sah den Kurzhaarigen. Er beugte sich vor, folgte ihr jedoch nicht.
Der Architekt befand sich noch im sechsten Stock, als Malin dorthin zurückkehrte. Er sagte, dass der Fahrstuhl gerade vorbeigefahren sei und er geglaubt hatte, sie sei es.
»Nein, das war jemand anders«, antwortete sie.
»Im Augenblick scheinen sich ja viele für dieses Gebäude zu interessieren«, meinte der Architekt. Sie holten den Fahrstuhl herauf, warteten schweigend und fuhren zusammen hinunter. Als Malin hinaus auf die Straße trat, rief sie Fatima an.
7
Auf dem Türschild stand Kurt Karlsson und ein weiterer Name, aber der Mann in der Wohnung am Simpbylevägen war allgemein als Wonner bekannt. Seine Haare waren genauso dunkel wie der Anzug, den er trug. Und fast noch dunkler war seine Augenfarbe. Es funktionierte ausgezeichnet, wenn er sein Lächeln aufsetzte und sich in kultivierten Kreisen aufhielt. Besonders Frauen waren von seinem Aussehen und seinem Charme beeindruckt.
Jetzt warf er einen Blick auf seine Uhr und ging hinaus.
Fatima befand sich auf dem Heimweg von ihrer morgendlichen Trainingsrunde in Richtung Långgarn. Sie begann allmählich müde zu werden, während ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinablief, hielt jedoch das Tempo bei. Aus diesem Grunde konnte sie nur knapp ausweichen, als ein Mann mit langen Schritten auf den Simpbylevägen hinaustrat. In dem Augenblick, in dem sie auswich, hörte sie ihn etwas sagen, was wie ein freundliches »asta rochno« klang.
Als Fatima gerade unter die Dusche steigen wollte, klingelte das Telefon. Es war Malin: »Wir müssen uns treffen.«
Es dauerte drei Tage, ehe das Treffen zwischen den beiden Freundinnen zustande kam. Wenn Fatima frei hatte, musste Malin arbeiten und umgekehrt. Jetzt saßen sie an einem Ecktisch in einem Café in Finsta. Aus irgendeinem Grund hatten sie es für besser befunden, sich irgendwo außerhalb von Norrtälje zu treffen. Fatima begann damit, sich zu entschuldigen.
»In der letzten Woche gab es furchtbar viel zu tun, von dem Augenblick an, als wir Lars im Hafenbecken gefunden haben. Während der letzten Tage sind alle, die vom regulären Dienst abgezogen werden konnten, für die Suche nach einem verschwundenen Rentner eingeteilt worden. Trotzdem haben wir bis jetzt nur sein Auto und eine Thermoskanne gefunden, die ihm vermutlich auch gehört.«
»Wo hat die denn gelegen?«, fragte Malin, die nach jedem Strohhalm griff. Dann erzählte sie selbst ausführlich, was ihr auf dem Dach des Silos zugestoßen war, und sie sprachen lange über den Abend im Theater.
»Was passiert denn nun?«, fragte Malin. Sie sah Fatima an und dachte: Bin ich denn die Einzige auf der Welt, die Robert immer noch für unschuldig hält? Sowohl sie als auch Fatima waren im Gerichtsgebäude gewesen, als die Verhandlung wegen der Untersuchungshaft stattfand. Fatima als begleitende Polizistin und sie selbst als Angehörige. Malin erfuhr nicht, was besprochen wurde, da der Staatsanwalt darauf bestand, dass die Verhandlung hinter verschlossenen Türen stattfand. Sie wusste nur, dass Robert auf Grund überzeugender Indizien unter Mordverdacht stand. Es war unfassbar.
Sie saß immer noch da und betrachtete Fatima. Versuchte, die Stärke ihrer freundschaftlichen Verbundenheit auszuloten und stellte die Frage: »Ich weiß, dass er unschuldig ist, was weiß die Polizei, was weißt du?«
»Das wird schwierig werden«, sagte Fatima.
Malin zischte: »Was heißt denn schwierig! Glaubst du, dass er unschuldig ist, oder nicht?«
Fatima wollte nicht antworten, sie wollte nichts erzählen. Sie versuchte zuversichtlich auszusehen, als sie Malin ansah. Aber sie merkte, dass das nicht reichte. Malin war ihre beste Freundin und ihre Stütze gewesen, immer wenn sie jemanden gebraucht hatte. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Sollte sie sich da hinter ihrem Beruf verstecken, sollte sie Sachen sagen wie »Schweigepflicht während der Voruntersuchung«, sollte sie sagen, dass sie ihre Stelle verlieren könnte? Nein, dachte sie, es gibt etwas, das über alles andere geht, etwas, das die Menschen dazu bringen kann, allen Ängsten, Gesetzen, Verordnungen oder was auch immer zu trotzen, denn sie wissen, dass das Wichtigste schlicht und einfach die reine Menschlichkeit ist. Ohne diese und ohne mutige Menschen, die gewagt hatten, sich vorhandenen Systemen entgegenzustellen, wäre es ihrer Familie niemals gelungen, nach Schweden zu gelangen. Fatima wusste, dass jetzt die Reihe an ihr war. Die Zeit war gekommen, etwas für einen anderen zu tun.
So erzählte sie dann, dass sowohl der Hafenmeister als auch der Lotse angehört worden waren und dass die Polizei versuchte, mit internationaler Hilfe die Besatzung der Melchior zu erreichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
»Du erzählst besser niemandem etwas, und im Hinblick darauf, was dir zugestoßen ist, wäre es eigentlich sicherer für dich, so wenig wie möglich zu wissen«, sagte Fatima. Dann erzählte sie von dem Volvo, der neben dem Transporter aufgetaucht war, als sie mit Robert in das Gerichtsgebäude fuhren. Robert war zusammengezuckt und hatte gesagt: »Der schon wieder«. Und als Fatima gefragt hatte, was er meine, hatte er gesagt, dass der Mann im Auto jemandem ähnele, der neben der Badeanstalt gestanden und hinauf zum Polizeirevier geblickt habe an diesem ersten Tag, als er und Fatima während der ersten Verhöre eine Kaffeepause eingelegt hatten. Als sich Fatima nach dem Volvo umsah, war er schon vorbei, und sie konnte nur noch einen dunklen Haarschopf über einer dunklen Jacke erkennen. Erst als Fatima dies Malin erzählte, fiel ihr der Mann wieder ein, den sie auf dem Simpbylevägen fast umgerannt hatte.
»Er war dunkel angezogen«, sagte Fatima. »Und weißt du was? Er sagte zu mir, ich solle aufpassen, aber er hat es auf Russisch gesagt.«
»Aber warum habt ihr Robert verhaftet, wenn ihr glaubt, dass es um etwas anderes geht?«
Fatima betrachtete ihre Freundin und überlegte, wie viel sie wohl vertrüge.
»Robert arbeitet in einem Lager in Görla. Wir wissen beide, dass er intelligent ist, ein bisschen faul vielleicht, aber wirklich nicht dumm. Warum arbeitet er dann in einem Lager, verstaut Reserveteile in verschiedenen Regalen? Vielleicht ist es nur so, dass er das tut, während er darüber nachdenkt, was er aus seinem Leben machen soll. Oder aber er arbeitet dort, weil es vielleicht jemand anderem nützt. Vielleicht hat ihn irgendjemand in der Hand, vielleicht ist er in irgendetwas verwickelt, was noch nicht einmal du weißt. Wir wissen, dass Lars Gustavsson ermordet wurde. Er hatte Schnittwunden an Händen und Unterarmen und Quetschungen am Hinterkopf. Und wir wissen, dass das Blut an Roberts Jacke von Lars Gustavsson stammt.«
Malin traute ihren Ohren nicht.
»Aber warum ist er dann selbst zur Polizei gegangen?«
Fatima blickte Malin tief in die Augen. »Erinnerst du dich, dass Robert und seine Kumpel im letzten Herbst die Fähre von Kapellskär nach Paldiski genommen haben, und das etwas passiert ist? Robert hatte sich von den anderen getrennt und war über Nacht verschwunden.«
»Er war doch nur blau«, sagte Malin.
»Ich will nicht sagen, dass es so war, aber dass es so gewesen sein könnte. Robert ist vielleicht zur Polizei gegangen, weil er genug hatte. Vielleicht dachte er, dass er auf diese Weise allem aus dem Weg gehen könne. Er weiß vielleicht etwas, was er nicht zu erzählen wagt, oder aber er ist, genau wie du sagst, vollkommen unschuldig.«
»Wenn er seit dem Herbst in irgendetwas verwickelt gewesen wäre, hätte ich das gemerkt. Sich betrinken, weggetreten sein und alles vergessen, das ist typisch Robert, nichts anderes.«
Fatimas Ehrlichkeit war schwer zu ertragen. Aber Malin sah auch, was es bedeutete, dass Fatima ihr Dinge erzählte, die eigentlich vertraulich waren. Ehe sie sich trennten, hatten sie sich für den nächsten Tag zum Laufen verabredet. Malin hatte einen Wunsch, wohin es gehen solle.
»In den Sika-Wald.«
Als sie am nächsten Morgen in die Gegend kamen, in der die Thermoskanne gefunden worden war, verringerten sie das Tempo und joggten ganz langsam, während sie den Boden vor sich absuchten. Malin fand, dass es angenehm sei, etwas langsamer zu laufen. Fatima hatte eine bessere Kondition als sie.
»Super, dass du auch während der Arbeitszeit trainieren kannst«, sagte Malin, aber Fatima war schon vorgelaufen und konnte sie nicht mehr hören.
Malin rutschte an einer Stelle weg, an der der Weg völlig uneben war. Das müssen die Autos der Suchtrupps gewesen sein, dachte sie und hob ein graublaues Stück Holz mit einem Nagel darin auf.
Da hatten die Suchtrupps ja Glück, dass sie keinen Platten bekommen haben, dachte sie. Gleichzeitig merkte sie, dass sie in der linken Seite Seitenstechen bekam.
Sie hielt das Stück Holz mit der Linken fest und ließ den Nagel zwischen Zeige- und Mittelfinger rausstehen. Zurück in der Stadt verabschiedete sie sich von Fatima, ohne weiter an das Stück Holz zu denken.
»Bis demnächst!«
»Sei vorsichtig.«
Das Seitenstechen hatte nachgelassen, aber das Stück Holz hielt Malin noch in der Hand.
Während sie erschöpft auf einen Stuhl im Flur sank, legte sie es auf den kleinen Tisch unter dem Spiegel. Sie bemerkte nicht, dass ein paar Buchstaben darauf standen: htobka. Es sah aus, als ob sie an ein Wortende gehörten, der Anfang war weggebrochen.
8
Der Mann, der Wonner genannt wurde, wachte von einem Geräusch auf, das er nur zu gut kannte, das er aber durchaus nicht schätzte.
Der Wecker klingelte.
Er drückte den Wecker stumm und schaute auf die Zeitangabe. Sie zeigte Viertel vor zwei morgens. Es war Donnerstag, und es begann draußen gerade hell zu werden.
Wonner gähnte und saß eine Weile ganz still auf der Bettkante. Hauptsächlich, um sich selbst Zeit zum Aufwachen zu geben. Nach ein paar Minuten stand er auf und streckte sich.
Zeit, um in Gang zu kommen, dachte er.
Eine dreiviertel Stunde später saß er am Küchentisch im Simbylevägen, frisch geduscht und gekämmt, eine Tasse starken schwarzen Kaffee vor sich. Er trank vorsichtig von dem heißen Getränk und fingerte gleichzeitig mit der anderen Hand an dem Laptop herum, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er trank noch einen Schluck, bevor er den Internetbrowser öffnete und eine Adresse eingab:
www.marinetraffic.com
Eine Homepage, von der er nicht genau wusste, wer dahinter stand, die sich jedoch als sehr nützlich erwiesen hatte. Sie zeigte den Schiffsverkehr in der ganzen Welt an.
Er zoomte auf einer Karte die Ostsee heran. Er wartete und trank unterdessen noch einen Schluck Kaffee. Bald tauchte eine Menge Schiffe auf der Karte vor ihm auf. Dort gab es Passagierfähren, Frachtschiffe und Tanker. Die ganze Ostsee war voll mit Schiffen.
Was für ein Gewimmel, dachte er. Wenn die Leute wüssten, wie viel über die Weltmeere hin und her transportiert wird.
Wonner zoomte noch einmal. Jetzt erschien nur das Åländische Meer. Noch mehr Schiffe tauchten auf. Er hielt die Maus über die kleinen Schiffsicons, um zu sehen, um welche Schiffe es sich handelte und wohin sie unterwegs waren.
Wonner fand das, was er suchte, auf halbem Wege zwischen Åland und Söderarm. Sertem Explorer. Mit 14,6 Knoten auf dem Weg in Richtung schwedische Küste. Bestimmung: Norrtälje.
Wonner stand auf, ging ins Wohnzimmer und blickte aus dem Fenster. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Er hatte dieses Gefühl schon seit mehreren Tagen und wurde die Ahnung nicht los, dass ihm jemand auf den Fersen war.
Wonners Augen verengten sich.
Wir dürfen keine Risiken eingehen, dachte er. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. In den letzten Wochen ist allzu viel passiert, Dinge, die meinen Auftraggeber misstrauisch werden lassen könnten. Was soll ich zu meiner Verteidigung vorbringen? Dass ich Idioten beschäftige? Idioten, die zuerst töten und dann denken?
Wonner seufzte. Er schloss die Webseite, ehe er den Laptop zuklappte. Dann griff er nach seinem Handy und wählte eine Nummer. Nach zwei Signalen wurde abgenommen. Die Stimme am Telefon sprach Russisch.
»Ja?«
»Ich bin es«, sagte Wonner. »Ist alles klar für die Lieferung?«
»Keine Probleme«, antwortete die Stimme.
Der Empfang wurde für einen Augenblick unterbrochen. Wonner hörte, wie es knisterte. Dann war die Stimme wieder da.
»Ist alles vorbereitet?«
Wonner sah auf seine Armbanduhr.
»Ja, sie kommen«, sagte er.
Entlang der Südseite der Furusundrinne, zwischen Kapellskär und Söderarm, liegt eine Inselkette. Sie beginnt mit Plomman in der Nähe von Kapellskär. Eine sagenhaft schöne Insel mit Sandstränden, an der die Bootsbesatzungen und besonders auch die lokale Bevölkerung anzulegen pflegen, um den allzu heißen Sommertagen auf dem Festland zu entkommen. Die Fahrrinne geht dann weiter an der westlichen und der östlichen Lerschäre vorbei, ehe auf der rechten Seite eine Inselgruppe auftaucht, die Viggskären genannt wird. Eigentlich handelt es sich um eine Riesenansammlung von Inseln, bei denen sich niemand die Mühe gemacht hat, ihnen einen Namen zu geben.
Ziemlich anspruchslose Inseln. Auf einer der Inseln gibt es einen öffentlichen Abtritt, den aber selten jemand benutzt.
Dafür gibt es zwei Gründe.
Der erste Grund ist das Meer. Es ist wichtig festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kommt, falls man die Absicht hat, bei den Viggskären anzulegen. Bei nordöstlichem Wind schlagen dort hohe Wellen vom Meer aus auf, und dann kann es gefährlich sein, mit kleinen Schiffen zu diesen Inseln hinauszufahren. Es gibt viele Untiefen. Und das Meer ist tückisch.
Das Zweite, an das man denken muss, ist der Schiffsverkehr. Die großen Fähren oder Schiffe, die zwischen Stockholm, Norrtälje oder Kapellskär hin und her fahren, werfen große Wellen auf, was dazu führen kann, dass kleinere Boote – oder auch etwas größere – zerschlagen werden können, wenn sie an den Stränden der Viggskären auf der Nordseite vertäut liegen. Das Ganze pflegt damit zu beginnen, dass sich das Wasser immer stärker bewegt, aus den kleinen Buchten herausgezogen wird, um dann anzusteigen. Die Bewegung schaukelt sich dann immer höher. Die Ankerleinen spannen sich, die Boote beginnen zu schwanken. Dann kommen die Wellen.
Es passiert leicht, dass man davon überrascht wird.
Und wenn man überrascht wird, dann ist es in der Regel zu spät.
All das wusste Erik Jansson aus Östernäs auf Rådmansö sehr genau, als er früh bei Sonnenaufgang sein geschütztes Nachtlager auf der Leeseite einer Schäre verließ und um die nördliche, etwas exponierter liegende Seite der Insel segelte. Die Netze sollten geleert werden.
Und Barsch ist gut, dachte Erik Jansson, als er den Außenbordmotor abstellte. Über seinen schmalen Augenschlitzen befanden sich ein paar buschige Augenbrauen, die vermutlich schon während der Pubertät zusammengewachsen waren.
Erik Jansson hatte gerade etwas aus dem Augenwinkel heraus bemerkt. Etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das ihn dazu veranlasste, nach oben zu sehen, statt hinunter auf den Meeresboden.
Direkt im Norden sah er Köttkobben, eine Insel, auf der er als kleiner Junge Brassen mit Pfeil und Bogen geschossen hatte. Im Osten sah er, wie schon viele Male zuvor, den Leuchtturm von Söderarm. Er bedeutete Sicherheit auf den Fahrrinnen. Ein immer zuverlässiger Wächter über den Schärengarten und seine Bevölkerung.
Bei Nygrund, auf der rechten Seite des Köttkobben, glitt in der Morgendämmerung ein rostiges Schiff ruhig vorbei.
Erik Jansson schielte zum Schiff hin. Plötzlich bemerkte er ein kleineres Boot, das langsam hinter dem Köttkobben hervorkam, einige hundert Meter entfernt von dem Schiff. Das Boot kannte er nicht.
Alles weitere geschah im Verlauf weniger Minuten.
Jansson sah, wie das Frachtschiff seine Fahrt verlangsamte. Er fragte sich warum. Kurz darauf beobachtete er, wie das kleine Ruderboot am Heck des Schiffes anlegte. Wieder fragte er sich nach dem Grund. Noch ein wenig später fuhr das kleine Boot auf demselben Weg zurück, auf dem es gekommen war und verschwand hinter dem Köttkobben.
Jansson kratzte sich am Hinterkopf.
Das war ja seltsam, dachte er.
Und dann begann er, die Netze heraufzuziehen.
Vier Stunden später glitt die Sertem Explorer in den Hafen von Norrtälje hinein. Im Societetspark führten Frühaufsteher ihre Hunde aus. Einige von ihnen gingen die Hafenpromenade entlang. Ein Mann joggte auf dem Rasen in Richtung Landungsbrücke.
Wonner kümmerte sich nicht um sie.
Er stand in dem Wäldchen oberhalb vom Societetspark versteckt und suchte den Hafen ab, beobachtete jedoch nicht das Schiff, das begann, im Hafen anzulegen. Wonner interessierte sich für etwas anderes. Er suchte nach etwas, das nicht so war, wie es sein sollte.
Zuerst blickte er in Richtung S/S Norrtelje. Dann ließ er den Blick langsam über den Kai an den Liegeplätzen vorbeischweifen. Er hielt plötzlich inne, als er einen Mann sah, der am Fuße des größten Silos stand und sich vorbeugte. Wonner senkte den Blick und überlegte eine Weile, dann hob er den Blick wieder und suchte den Hafenbereich weiter ab.
Plötzlich erblickte er das, wonach er suchte. Eine Abweichung. Er sah etwas, was sich normalerweise nicht dort befand.
Es war eine Frau.
Wonner spürte ein warmes Gefühl der Zufriedenheit. Er hatte Recht gehabt. Sein Bauchgefühl war richtig gewesen. Die Frau stand dort, um die Sertem Explorer zu beobachten, das war offensichtlich. Sie stand dort und wartete auf das Schiff, da sie offenbar irgendetwas wusste oder erwartete.
Wonner sah plötzlich außerordentlich ernst aus. Das zufriedene Gefühl war verschwunden. Sein Gesicht sah aus wie versteinert.
»Dieses Mal«, sagte er leise zu sich selbst, »dieses Mal kannst du schnüffeln, so viel du willst, Fatima Barsawi.«
9
IT Works
Unternehmensberater Ronald GW Schneider
Problemlösungen – Sicherheit – technische Übersetzungen
Elias Mellberg hatte das Schild öfters gesehen, wenn er auf dem Weg zum Spielzeugladen war, um Computerspiele anzusehen und zusammen mit seinem Klassenkameraden William Olsson in der Secondhand-Kiste zu wühlen.
Er war sein Star-Wars-Legospiel leid geworden, auch wenn ihm der Jedi Shuttle, der im Bücherregal stand, immer noch gefiel. Aber Computerspiele waren cooler. Ganz klar. Am liebsten würde er das letzte Call-of-Duty-Spiel haben, aber seine Eltern hatten abgelehnt. Keine Kriegsspiele. Punkt, aus.
Jetzt war er unterwegs zum Spielzeugladen, um trotzdem einen Blick darauf zu werfen und sich zudem das neue Shogun-Spiel anzuschauen. Im Rucksack hatte er das komische kleine Gerät, das er im Hafen gefunden hatte.
Er blieb vor dem Schild von »IT Works« stehen. Es befand sich an der Tür eines Ladens mit einem Fenster zur Straße hin. Manchmal saß jemand dort drinnen und arbeitete, manchmal war es dunkel und leer in dem Geschäft.
Jetzt saß ein Mann am Schreibtisch. Ein Krawattenmann, dachte Elias, als er das helle Hemd und die rote, gemusterte Krawatte sah. Er kannte bisher keine Krawattenmänner. Weder sein Vater noch die Freunde seines Vaters oder Palle im Freizeitheim trugen Krawatten. Aber dieser da sah recht freundlich aus. Ganz okay eigentlich.
Er stand draußen und fühlte, wie ihm das Herz bis in den Hals schlug.