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Konzentriere dich, Elias, ein richtiger Detektiv darf nicht feige sein, dachte er. Dann ergriff er die Türklinke. Der Mann am Schreibtisch sah etwas erstaunt auf, als er Elias erblickte.
»Hallo«, sagte er und lächelte. »Ich heiße Ronald, wie heißt du denn?«
»Elias.«
Er holte Luft und fuhr fort: »Du kennst dich mit Computern aus, nicht?«
Ronald lächelte wieder und zwinkerte Elias zu.
»Ja, ziemlich gut. Weißt du, ich habe gleich ein Kundengespräch, aber ich kann vorher noch kurz mit dir sprechen. Ist dein Computer kaputt gegangen?«
»Nein, ich habe überhaupt keinen eigenen Computer. Ich meine Dinge, die man für einen Computer braucht. Verschiedene Teile. Kennst du dich da aus?«
»Meinst du Tastaturen oder Lesegeräte?«, fragte Ronald.
Er war vom Stuhl aufgestanden, war um den Schreibtisch herumgegangen und hatte sich mit gekreuzten Armen auf die Schreibtischkante gesetzt.
Er scheint in Ordnung zu sein, dachte Elias und überlegte, ob er Ronald seinen Fund zeigen sollte, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereinkam. Ronald trat auf sie zu, reichte ihr die Hand, während er Elias zunickte.
»Hallo, guten Tag. Ronald Schneider. Und Sie sind Kerstin Söderström, nehme ich an.«
Elias blieb noch einen Augenblick stehen, während die Frau Ronald gegenüber Platz nahm.
Als Ronald begann, über Server und Computersysteme zu sprechen, verschwand Elias vorsichtig rückwärts durch die Tür.
Er war schon auf dem Weg in Richtung Spielzeugladen, als er Ronald rufen hörte: »Wiedersehen, Elias. Komm doch ein anderes Mal wieder, dann können wir weiterreden.«
Donnerstagnachmittag. Bald Ende der Arbeitswoche.
Harry Lindgren nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte sich. Rattengift, dachte er und ließ seine Gedanken schweifen.
Das letzte Wochenende war schön gewesen. Am Sonntag hatte er zusammen mit seinen Enkeln Malte und Ruben auf einer Felsplatte unter der Svartnöbrücke gestanden und Heringe geangelt. Zwei Wildfänge, die es geschafft hatten, einen ganzen Eimer mit silberglitzernden Fischen zu füllen, ohne sich mehr als nötig in den Leinen zu verfangen. Glück gehabt, dachte er.
Morgens hatte er den Weg über Södra Bergen zur Polizeiwache genommen. An der Balustrade hinter der Bergstugan war er stehen geblieben und hatte über das Wasser der Norrtäljebucht geblickt bis hin zum Turm des Silos, der immer noch stand. Er hatte die Lachmöwen kreischen gehört, den Duft von Flieder eingeatmet und gedacht, dass es nicht viel besser sein könne, als es war.
Glück.
Jetzt saß er am Schreibtisch und dachte über das nach, was in den letzten Wochen passiert war.
Es gab einen Rentner, der ebenso spurlos wie unerklärlich verschwunden war. Jetzt rief die Familie jeden Tag an und forderte Aufklärung. Zu Recht.
Vor allem jedoch gab es den Mord an Lars Gustavsson, der in Harry Lindgrens Augen nicht geklärt war. Er war weit entfernt von der Überzeugung, dass Robert Skogh schuldig war, trotz des Blutes auf seiner Jacke. Das Frachtschiff, das Hals über Kopf abgefahren war, ließ darauf schließen, dass es bei dieser Geschichte noch mehr Verwicklungen gab.
Er wusste auch nicht, was er von dem Überfall halten sollte, den Robert Skoghs Schwester angezeigt hatte. Und was hatte sie eigentlich auf dem Turm des Silos zu suchen?
Harry Lindgren seufzte und rief Fatima Barsawi an.
»Wir müssen Skogh noch einmal vernehmen. Ich bin sicher, dass er mehr weiß, als er gesagt hat. Er kann wohl nicht so dumm sein, wie er wirkt. Und wir müssen auch noch einmal mit der Schwester sprechen.«
Malin Skogh sank nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Korbstuhl im Flur. Der Frühsommer war immer eine hektische Zeit im Salon »Hårklipparna«. Plötzlich wollten alle einen Termin haben, um sich für eine Konfirmation, eine Hochzeit, Abiturfeiern oder andere Festlichkeiten schön machen zu lassen. Schneiden, Waschen, Föhnen, Färben, Steckfrisuren, Dauerwellen und und und, es nahm kein Ende.
Ich darf nicht aufgeben, dachte sie. Ich muss weiterkommen.
Sie hatte mit Roberts Rechtsanwalt Tomas Fredriksson gesprochen, der sie darauf vorbereitet hatte, dass Robert wahrscheinlich verlegt würde. Es sieht nicht besonders gut aus, hatte er gesagt.
Als sie ihren Kopf in die Hände stützte, bemerkte sie das Holzstück, das seit der Joggingrunde mit Fatima auf dem Tisch gelegen hatte. Ich kann nicht einmal mehr aufräumen, dachte sie und hob es auf.
Sie drehte und wendete es und betrachtete die russischen Buchstaben. Merkwürdig, dachte sie. Die Besatzung des Frachters, der Mann, mit dem Fatima zusammengestoßen war, und jetzt diese Buchstaben.
Sie dachte daran, wie ihre Mutter sich mit Leonard Cohen zu trösten pflegte, wenn alles düster aussah.
Ann-Marie Skogh hatte eine schwere Zeit durchgemacht, nachdem ihr Mann Tommy sie verlassen hatte und zu einer anderen Frau nach Halmstad gezogen war. »Aber das Licht kommt immer zurück, Malin«, hatte Ann-Marie gesagt und immer wieder die beiden Zeilen von Cohens »Anthem« wiederholt: »There is a crack in everything, that`s how the light gets in«.
Sie hat Recht gehabt, dachte Malin. Als die Kinder erwachsen waren, hatte sich Ann-Marie von ihrer Stelle als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus beurlauben lassen und sich bei den Ärzten ohne Grenzen beworben. Jetzt befand sie sich auf Haiti und erzählte, wenn sie über Skype miteinander sprachen, dass sie glücklich sei, etwas Sinnvolles zu tun.
»That’s how the light gets in«, flüsterte Malin leise für sich selbst, zog die Joggingschuhe an und trat hinaus in den milden Frühsommerabend.
Sie ging die Hantverkaregatan hinunter zum Hafen, wich zwei Teenagern aus, die auf ihren Skateboards angerauscht kamen und merkte, wie ihr Puls anstieg, als sie sah, dass ein Frachtschiff am Kai ankerte. Aber es war nicht die Melchior, sondern nur eines der üblichen Lastschiffe. Sie lief eine Weile im Hafen herum, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, sah, wie sich ein Segelschiff in der Abendsonne näherte und eine Gruppe von Leuten, die im Park gegenüber Ball spielten.
Sie hatte das Stück Holz in die Tasche gesteckt und berührte es vorsichtig. Russische Buchstaben. Ich muss es Fatima zeigen, dachte sie.
Als sie zurück in die Stadt ging, hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie drehte sich um, aber es war nur eine dicke, außer Atem geratene Frau mit einem hechelnden Labrador. Hör auf, dir etwas einzubilden, dachte sie, als sie den Parkplatz am Hotel überquerte und weiter in Richtung Lilla Torget ging.
Sie wollte am Theater vorbeigehen, ohne richtig zu wissen warum, und sie wählte die Fußgängerbrücke. Als sie an der graugrünen Tür der Freimaurer vorbeikam, blieb sie stehen und betrachtete deren Symbol. Es gibt so viele Geheimnisse auf der Welt, dachte sie. So viel, was man nicht weiß und nicht versteht.
Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer linken Schulter und einen warmen Atem, der ihr ins Ohr flüsterte: »Ganz ruhig. Du kommst jetzt mit mir.«
10
In vielen Strafsachen gelangen die Ermittler irgendwann an einen Punkt, von dem aus sie und die Öffentlichkeit plötzlich in eine gänzlich neue Richtung schauen. Dinge, die zwar von Anfang an bekannt sind, aber eher am Rande wahrgenommen werden, rücken schlagartig in den Fokus und die Ermittlung nimmt neue Wege.
Man kann nicht voraussagen, wann das passiert. Es ist ein wenig so wie bei diesen verdammten Wildschweinen, wenn sie wie aus dem Nichts auftauchen und über die Straße donnern. Und es ist durchaus nicht angenehm, wenn zweihundert Kilo kompaktes Schwein auf die Motorhaube krachen.
Kriminalinspektor Keith Holtha nahm den Fuß vom Gaspedal und blickte in den Rückspiegel.
Hansson und Randin drängten sich auf dem Rücksitz zusammen. Das war durchaus keine optimale Situation, aber an diesem Abend war in der Täbygarage kein anderes Farhrzeug zu haben gewesen. Das Derby in Råsunda und eine Studentendemonstration auf dem Valhallavägen hatten es notwendig gemacht, den Kollegen auszuhelfen. Als Norrtälje mit seiner verspäteten Anfrage kam, mussten sie sich mit dem begnügen, was noch aufzutreiben war.
Das verflixte Schiff lag ja schon mindestens einen halben Tag im Hafen. Man musste nur noch über die Reling klettern und die Papiere kontrollieren.
Holtha war von Fatima Barsawi kurz über die Lage in Kenntnis gesetzt worden. Sie kannten einander von der Polizeihochschule. Er war an ihr interessiert gewesen. Sie hatte sich nur für das Thema interessiert, über das er einen Vortrag gehalten hatte: Strategien zum Umgang mit Demonstranten. Sie hatte mit einem gewissen Nachdruck behauptet, dass die Polizei in Göteborg das meiste falsch gemacht hatte. Er stimmte nicht zu, meinte jedoch, dass sie in einigen Punkten Recht hatte und – was teilweise auch durch die Forschung gestützt wurde – es tatsächlich von großer Bedeutung war, wie die Polizei die Demonstranten betrachtete: als »richtige Demonstranten« oder als Aktivisten.
Jetzt merkte er, dass sie ziemlich empört war, dass das Ganze so lange gedauert hatte. Sie selbst hatte das Schiff schon morgens gesehen. Aber dann hatte es gedauert, bis etwas unternommen wurde. Der Durchsuchungsbefehl kam erst, als die M/S Sertem Explorer schon abgelegt hatte. Jetzt mussten sie mit der Wasserschutzpolizei zusammenarbeiten.
Holtha kannte jeden Meter des Weges, jede Kurve zwischen Gillinge und Norrtälje. Das, was Zeit kostete, war die Wegstrecke hinaus nach Kapellskär, die Linkskurve in Richtung Rävsnäs, wo das Schiff an der Brücke angelegt hatte.
Holtha stieg aus und stellte fest, dass die Lokalzeitung schon zur Stelle war. Und dieses Mal war es wirklich nicht er gewesen, der geplaudert hatte.
»Willst du mit hinaus zum Fischfang fahren?« Holtha grinste und ahnte, dass dieser Journalist vermutlich eine ganze Menge wusste.
Unter gewissen Umständen blicken alle in dieselbe Richtung, dachte Keith Holtha zum wiederholten Male an diesem Abend.
»Hat diese – nennen wir es Hausdurchsuchung – irgendetwas mit dem Mord im Hafen zu tun?«
Die Frage wurde als reine Formalie gestellt. Nicht etwa, weil Kriminalreporter Olle Kärv eine ausführliche Antwort erwartete.
»Nein, wir wollen nur ausfahren und fischen«, grinste Hansson und ging auf die Brücke hinaus zu dem dort wartenden Schiff.
Sie umrundeten Tunholmen, erhöhten die Geschwindigkeit auf 30 Knoten und steuerten hinaus in Richtung Söderarmsleden.
Wonner war zufrieden. Die Durchsuchung hatte nichts ergeben. Die Polizei hatte ein bisschen Kleinkram mitgenommen, ein wenig herumgesucht und sich etwas zerstreut für das Logbuch interessiert.
Alles war in Ordnung.
Natürlich.
Das Schiff war auf dem Rückweg nach Sankt Petersburg, dann sollte es demontiert werden. Es hatte seinen Dienst getan, ebenso wie die Melchior den ihrigen getan hatte. Jetzt befanden sich die Reste auf dem Weg in das Stahlwerk von Magnitogorsk.
Wonner zupfte an seinen Augenbrauen und ermahnte sich, dass er das nächste Mal, wenn er wieder in Sankt Petersburg sein würde, die Isaakskathedrale besuchen musste.
»In dieser Situation ist es gut, dass sie alle in dieselbe Richtung blicken. Deshalb können wir die beiden letzten Lieferungen mit kleinen Schiffen holen«, sagte Wonner.
Er legte auf, tauschte die SIM-Karte in seinem Handy aus und tätigte noch zwei kurze Anrufe. Die zweite Sendung war gesichert und mit einem Lastwagen auf dem Weg nach Göteborg. Jetzt musste nur noch festgestellt werden, ob die Polizistin Barsawi und ihre blonde Freundin irgendetwas von entscheidender Bedeutung wussten.
Fatima Barsawi war wütend. Sie hatte Malin Skogh unten an der Freimaurerloge getroffen und ihr zugeraunt, sie solle mitkommen.
Jetzt saßen sie in Fatimas Einzimmerwohnung in der Bangårdsgatan. Fatima sah hinaus über den Mariagården und die Kirche. Die hitzige Debatte, die dem Bau von Norrtäljes neuem Gemeindehaus vorausgegangen war, war wie weggeweht. Es ging damals nicht nur darum, dass das neue Gebäude den Anblick der Kirche und die Aussicht über den Friedhof bis hinunter zum Hafen stören würde. Das neue Gemeindehaus sollte auch auf einem Platz errichtet werden, von dem man annahm, dass es sich dabei um eine alte Grabstätte handelte.
Jetzt stand es da. Und die meisten schienen zufrieden zu sein. Es war praktischer und ansprechender geworden, als die Kritiker angenommen hatten. Was mit diesen Knochenresten passiert war, hatten die meisten vergessen.
Fatima war empört.
»Jemand hat eine unverschämt lange Kaffeepause gemacht, sowohl auf der Polizeiwache als auch bei der Staatsanwaltschaft, und deshalb wurde aus dem Ganzen eine richtige Schlamperei«, sagte sie.
Die Melchior war immer noch ein Mysterium, und jetzt war noch ein Schiff im Hafen von Norrtälje gewesen und niemand wusste, was sich da vor ihren Augen abspielte.
Dass Malins Bruder in die Angelegenheit verwickelt war, war nicht leicht zu verdauen, dachte Fatima und überlegte, ob Malin etwas vor ihr verbarg. Ob sie etwas über die Schiffe wusste, das sie Fatima nicht erzählen wollte? Was hätte sie selbst getan, wenn es sich um ihren eigenen Bruder handelte? Wenn es Aslan wäre, der unter Mordverdacht in Untersuchungshaft säße?
Fatima schauderte und öffnete das Fenster, um den Sommerabend hereinzulassen. Draußen war es noch nicht dunkel. Unten in der Stadt spielte eine Jazzgruppe. Eine Frau sang: »All of me, why don’t you take all of me.«
Das Handy klingelte.
Der allgegenwärtige Olle Kärv rief an und fragte, ob sie ihm etwas über die Aktion auf dem Schiff sagen könne.
Aha, Harry hat ihm die kalte Schulter gezeigt, dachte Fatima und überlegte schnell, was Kärv wissen konnte. Er wusste natürlich, dass die Polizei den Schiffsverkehr aus Sankt Petersburg untersuchte. Wusste er auch, dass Robert Skogh mehr auf dem Kerbholz hatte als alte Besäufnisgeschichten von der Fahrt nach Paldiski?
Fatima hatte von Kriminalkommissar Harry Lindgren noch keinerlei Informationen über die Aktion erhalten. Sie kannte Harry aber gut genug, um zu wissen, dass er gerade ziemlich aufgebracht war, weil sie in diesem Fall so übereilt vorgegangen waren. Jetzt befanden sie sich wieder im Nachteil. Und es würde eine ganze Menge gedanklicher Arbeit erforderlich sein, um diesen Nachteil wieder aufzuholen.
»Denkt zum Teufel daran, dass wir es sind, die das Pferd reiten, und nicht das Pferd mit uns durchgeht«, hatte er bei der morgendlichen Besprechung gesagt.
Jetzt galt es, wieder die Zügel anzuziehen.
Jetzt war es notwendig, in eine andere Richtung zu ermitteln, dachte Fatima und entschloss sich, ehrlich zu Kärv zu sein.
»Wenn du die Durchsuchung der M/S Sertem Explorer meinst, dann habe ich überhaupt keine Informationen.«
Kärv war für ein paar Sekunden still.
»In zehn Minuten habe ich meine Deadline. Wir hatten vor, über dieses Feuerzeug mit den Initialen RS zu berichten, das man bei einem der Besatzungsmitglieder gefunden hat. Und über ein Handy mit einer Telefonnummer von einem gewissen Robert Skogh unter den geführten Gesprächen.«
Fatima strich sich schnell mit der Hand durchs Haar und sah zu Malin hin, die auf dem Sofa saß und sie fragend anblickte.
»Das musst du mit Harry Lindgren besprechen«, sagte Fatima ruhig, legte auf und ging in die Küche.
11
Sie tranken wie immer gegen zehn Uhr Kaffee. Fatima, der Kollege Bertilsson und ihr Chef Harry Lindgren. Bertilsson bekam einen Anruf auf seinem Handy und verließ den Raum. Fatima und Harry blieben sitzen. Sie füllten ihre Tassen nach, Harry sah auf die Uhr und sagte, dass er in einer Viertelstunde ein Gespräch aus Täby erwarte.
»Sie haben wenig Leute«, sagte er.
»Das scheint überall so zu sein«, antwortete Fatima.
»Ja, und du hast noch eine Menge Überstunden abzufeiern. Du musst jetzt einen Teil davon nehmen, sonst bekomme ich Probleme, und du ebenfalls.«
»Einen freien Tag, meinst du?«
»Ja, zum Beispiel. Und sieh zu, dass du ihn jetzt nimmst, wo niemand sonst von uns weg ist.«
»Wie wäre es mit Freitag?«
»Lieber nächste Woche Montag.«
»Gut, dann machen wir es so.«
Harry trank den letzten Schluck Kaffee aus und wollte gerade vom Tisch aufstehen, als Fatima ihn aufhielt.
»Noch etwas«, sagte sie.
Harry stellte die leere Kaffeetasse ab, blickte auf die Uhr und nickte seiner jungen Kollegin zu.
»Olle Kärv von der Norrtelje Tidning scheint einiges über den Fall zu wissen.«
Harry hörte zu, nickte wieder.
»Wie weit darf ich mich mit einem Reporter einlassen? Er könnte ja etwas haben, was auch wir wissen müssen.«
»Das ist eine heikle Frage«, antwortete Harry. »Wenn du diesem Burschen vertrauen kannst, dann solltest du wohl mit ihm reden.«
»Und Äpfel gegen Birnen tauschen?«
»Als ich vor ziemlich langer Zeit beim Dezernat für Gewaltverbrechen war, hatte ich eine sehr gute Zusammenarbeit mit einem Reporter von Sveriges Television. Wir haben einander vertraut, und wir haben hin und wieder Informationen ausgetauscht. Viele Polizisten tun das, manchmal haben wir ja dieselben Interessen. Wir wollen an Straftäter herankommen, die unschuldige Menschen gefährden.«
»Ich sehe das genauso, ich wollte mich nur vergewissern.«
»Ich habe jedoch nichts gesagt, das dürfte dir klar sein«, gemahnte Harry sie.
»Selbstverständlich.«
Fatima saß den restlichen Vormittag über an ihrem Schreibtisch. Sie schrieb Berichte, suchte im Internet nach Angaben über Schiffe auf der Ostsee und las ein wenig über russische Wirtschaftsverbrechen. Ehe es Zeit für eine Mittagspause war, überlegte sie, ob sie Olle Kärv anrufen sollte. Sie zögerte, schob die Entscheidung hinaus, aß im Aufenthaltsraum Köttbullar aus der Mikrowelle und trank die vierte Tasse Kaffee des Tages.
Viertel nach eins rief sie bei der Norrtelje Tidning an. Olle Kärv klang freudig überrascht.
»Wir sollten uns vielleicht einmal treffen«, sagte Fatima.
»Sag wann und wo«, antwortete Olle.
»Wie wäre es heute etwas später hier bei mir, du findest ja her. Sag am Empfang Bescheid, wenn du da bist. Sagen wir um drei?«
»Um drei. Bis dann.«
Sowohl für Fatima als auch für Olle stieg der Kaffeekonsum an diesem Tag. Denn sowohl Journalisten als auch Polizisten wissen, dass Kaffee nicht nur eine Arbeitspause verheißen kann, sondern oft auch wichtige Informationen.
»Ich hole uns beiden eine Tasse aus dem Aufenthaltsraum«, sagte Fatima, als Olle sich in ihrem Zimmer gesetzt hatte. »Mit oder ohne?«
»Mit allem«, antwortete Olle.
Als Fatima mit den Tassen zurückkam, steckte Olle gerade seinen Notizblock in die Innentasche.
»Danke für den Tipp mit dem Schiff«, sagte er.
»Danke für deinen Bericht, der war nicht ganz falsch«, antwortete Fatima.
»Wir sind auf derselben Spur, nicht wahr?«
»Ja, es sieht so aus. Und wir geben niemals unsere Quellen preis.«
»Nein, nie, das ist eine heilige Regel.«
»Und was hältst du von der Geschichte? Hat Robert Skogh etwas damit zu tun?«
»Vielleicht, in diesem Falle jedoch nur am Rande. Er war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort, so etwas passiert ja recht häufig.«
»Leider gibt es aber eine ganze Reihe belastender Tatsachen.«
»Die da wären?«
Fatima erzählte einiges von dem, was sie wusste, jedoch nicht alles. Auch Olle berichtete, ließ jedoch ebenfalls einiges aus. Beide sahen sich vor. Fatima wollte in der nächsten Zeit erst einmal die Norrtelje Tidning lesen, ehe sie sich weiter mit Olle Kärv unterhielt.
Bevor er ging, erzählte er noch etwas, das er gerade erfahren hatte. Aus einer sicheren Quelle, wie er sagte. Es ging um einen neuen Schmuggelweg aus den östlichen Ländern von der anderen Seite der Ostsee, via Grisslehamn.
Es kamen Waren mit der Fähre, manchmal auch in Autos mit baltischen Kennzeichen.
»Und was wird geschmuggelt?«
Olle wusste es nicht, er hatte nur gehört, dass es sich nicht um Rauschgift handele, eher um Alkohol oder Zigaretten. Einige Transporte waren vielleicht gerade in dieser Woche unterwegs.
»Willst du die Fähre beobachten?«
Nein, dazu hatte er keine Möglichkeit, er war ja als Kriminalreporter allein bei der Zeitung. Und jetzt gab es mehrere Gerichtsverfahren, zu denen er ebenfalls musste.
Fatima begleitete Olle hinunter zum Ausgang. Er lächelte, Fatima gefiel sein Lächeln, und sie lächelte ebenfalls.
An diesem Nachmittag rief sie Malin an. Sie müssten sich treffen, konnte Malin sich am Montag freinehmen?
»Was hältst du von einem Ausflug? Wir könnten tagsüber die Fähre von Grisslehamn aus nehmen, gut essen und gegen Abend wieder zurück sein.«
»Das klingt verlockend«, antwortete Malin. »Aber Montag ist schlecht, ich habe Kunden, die ich nicht umbuchen kann. Können wir nicht am Sonntag fahren?«
»Sonntags ist immer so viel Betrieb auf der Fähre.«
»Ja, aber es ist trotzdem nett.«
Sie verließen Norrtälje gegen acht Uhr in Fatimas altem Golf. Es war ein warmer Tag, am Himmel waren leichte Wolken zu sehen. Fatima sagte nichts von dem Treffen mit Olle Kärv. Bisweilen dachte sie an sein Lächeln. Darüber würde sie gerne mit ihrer Freundin sprechen.
Am Väddo-Kanal mussten sie warten. Die Schranken an der Brücke senkten sich vor ihnen, hinter Fatimas Wagen bildete sich eine lange Autoschlange. Das Brückentor wurde hochgeklappt und drei große Segelschiffe glitten vorbei. Eines davon hatte achtern eine deutsche Flagge, eines eine dänische und eine war blaugelb. Malin betrachtete die Schiffe. Fatima sah in den Rückspiegel.
»Dieser schwarze Volvo fährt schon seit Norrtälje hinter uns her«, sagte sie.
»Bist du sicher?«, antwortete Malin.
»Ja, ziemlich sicher. Es wird sich ja zeigen, wenn sich die Schlange auflöst.«
Hinter den drei großen Segelschiffen kamen noch ein paar Segelboote. Dann senkte sich das Brückentor. Fatima fuhr über die Brücke, vor der Volkshochschule bog sie plötzlich auf den Parkplatz ein. Die Autoschlange glitt vorbei, große und kleine Wagen in allen Farben, unter ihnen ein schwarzer Volvo mit getönten Scheiben.
»Das ist er«, sagte Fatima.
Nachdem die Schlange vorbei war, fuhr Fatima wieder auf die Straße hinaus. Sie hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Jemand überholte sie ziemlich riskant an der Kirche, und bei Edeby pressten sich zwei Wagen mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei.
»Die hatten mindestens hundert drauf«, sagte Fatima.
»Lässt du das durchgehen?«
»Heute bin ich privat, es muss schon Schlimmeres passieren, damit ich mir einen arbeitsfreien Sonntag verderben lasse.«
Sie näherten sich Grisslehamn. Fatima blickte öfters in den Rückspiegel. Sie wurden noch ein paarmal von Autos überholt, die offenbar eilig zur Fähre wollten.
»Jetzt ist der Volvo wieder hinter uns«, sagte Fatima, als sie an einem griechischen Restaurant vorbeifuhren.
»Bist du sicher, dass es dasselbe Auto ist?«
»Ja, ganz sicher. Er muss irgendwo rausgefahren sein, um uns vorbeizulassen.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir versuchen, möglichst viel über den Volvo in Erfahrung zu bringen.«
Sie fuhren den langen Berg an der Einfahrt nach Grisslehamn hinunter und waren schon am Fußballplatz und an der Wegkreuzung vorbeigefahren, als Fatima plötzlich die Abfahrt nach Kvarnsand nahm. Sie standen jetzt direkt neben der langsam vorbeirollenden Autoschlange. Sie fuhr langsam, zuerst kam ein grüner Saab, dann ein grauer Lieferwagen, ein weißer Renault und dann der schwarze Volvo.
Fatima sah das Kennzeichen und ohne den Blick von dem Volvo zu nehmen, reichte sie Malin einen Notizblock mit einem Kugelschreiber, während sie das Kennzeichen diktierte. Malin schrieb, und Fatima konnte kurz zwei Männergesichter hinter den getönten Scheiben des Volvo erkennen.
Schließlich parkten sie den Wagen ein Stück vom Kai entfernt, aber der schwarze Volvo war nirgends zu sehen. Fatima rief die Kollegen in Täby an und bat um Hilfe bei der Feststellung des Autokennzeichens.