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»Ein Mietwagen«, sagte sie nach einer Weile.
Es wehte ein leichter Wind und der Himmel war wolkenlos, als sie an Bord der Fähre M/S Eckerö gingen.
12
Als die M/S Eckerö rückwärts vom Kai in Grisslehamn ablegte, standen sie zusammen mit schwedischen Feriengästen und ausländischen Touristen auf dem oberen Achterdeck. Eine Schar Möwen umkreiste das Schiff und in dem hellen Licht leuchtete Albert Engströms Atelier weiß glänzend auf seinem Felsen.
Das Schiff drehte und hatte seine volle Fahrt noch nicht aufgenommen. Die Reisenden konnten in die waldbewachsene Insel Loskäret hineinsehen. Hoch oben auf einer Kiefer saß ein Seeadler. Malin stand an der Reling neben einem Deutsch sprechenden Paar. Sie zeigte auf den Adler und versuchte, etwas von einem »Adler« zu sagen. Sie glaubte zu wissen, dass der Vogel auf Deutsch so hieße.
Das Paar begann sofort mit Malin Deutsch zu sprechen, wodurch sie gezwungen war zu sagen, dass sie sie nicht verstand. Sie lachten, und der Deutsche fotografierte.
Dann gingen Malin und Fatima in die Caféteria. Sie holten sich zwei Tassen Kaffee und jede einen Zuckerkringel.
»Glaubst du, dass sie jetzt hier irgendwo sitzen?«, fragte Malin.
»Du meinst die Männer aus dem Volvo?«
»Ja, sie wissen vielleicht, wer wir sind, aber wir erkennen sie nicht.«
»Vielleicht, das werden wir bald wissen.«
»Wie denn?«
»Das merken wir sicher.«
Fatima betrachtete vorsichtig die Menschen im Raum, während sie sich mit Malin unterhielt. Fast alle Gäste befanden sich in Gesellschaft, es waren Familien mit Kindern, ältere Paare, junge Paare und einige Männer, die zusammensaßen. Zwei der Männer trugen Sportjacketts, zwei hatten Pullover an, zwei weitere waren mit hellen Sommerjacken und dunklen Hosen bekleidet.
»Ein paar schwedische Kerle«, flüsterte Fatima. »Außerdem zwei ausländische Herren, recht flott.«
»Die Flotten, sind das die aus dem Volvo? Was meinst du?«
»In diesem Fall ist es eigentlich etwas zu einfach. Ich werde mal losgehen und mir das Schiff ansehen. Bleib du hier sitzen und behalte die Männer im Auge.«
Fatima verließ den Tisch. Malin ließ ihre Blicke von Tisch zu Tisch wandern. Niemand schien sich um ihre Freundin zu kümmern.
Nach zwei Stunden kamen sie in Eckerö an. Sie eilten an Land und positionierten sich so, dass sie die Autos sehen konnten. Der schwarze Volvo erschien nach einer Weile, die Sonne fiel auf den Wagen, und Malin und Fatima konnten ganz kurz die Gesichter der beiden Männer etwas deutlicher erkennen. Keiner von beiden sah irgendeinem der Männer ähnlich, die in der Caféteria der Fähre gesessen hatten.
Sie verließen das Hafengelände und gingen am Strand entlang. Beide kannten sich von mehreren Sommerbesuchen her gut auf Eckerö aus.
»Es sieht nach Badewetter aus«, sagte Fatima.
»Wenn wir das spätere Schiff zurücknehmen, können wir noch baden und uns sonnen«, antwortete Malin.
Sie gingen auf dem Strandpfad über die Landspitze herum bis nach Käringsund und sahen bald den langen Sandstrand und all die planschenden Kleinkinder und sonnenanbetenden Touristen.
Malin trug einen zweiteiligen Badeanzug, ein etwas älteres Modell, Fatima einen hellblauen Bikini. Beide hatten schon etwas Sonnenbräune, beide waren schlank und durchtrainiert. Sie baten die Mutter eines Kleinkindes, ein Auge auf ihre Sachen zu haben, und liefen dann ins Wasser, tauchten, schwammen ein Stück weit hinaus, drehten um und kehrten zum Strand zurück.
Oberhalb des Strandstreifens befand sich ein kleines Kiefernwäldchen. Zwischen zwei Kiefern stand der schwarze Volvo. Die Männer standen versteckt hinter einigen Büschen, einer von ihnen hielt ein Fernrohr in der Hand. Sie unterhielten sich über die beiden jungen Frauen, die gerade aus dem Wasser kamen.
Malin und Fatima lagen noch eine Stunde am Strand, ehe sie sich wieder anzogen und einen Spaziergang durch die Gegend machten. Sie aßen in einem Lokal gebratenen Hering und Kartoffelbrei, tranken Leichtbier, blieben noch eine Weile sitzen und machten dann einen weiteren Spaziergang, ehe es Zeit wurde, zur Fähre zurückzukehren.
Wieder stellten sie sich ein Stück von der Rampe entfernt hin, auf der die Autos an Bord fuhren, und schrieben auf, was sie sahen: Automarke, Kennzeichen.
»Ich werde die ganze Liste von der Reederei anfordern«, sagte Fatima. »Aber es kann ja auch sein, dass irgendeines der Autos mitfährt, ohne dass die Nummer notiert wurde.«
Sie sahen drei Wagen mit baltischen Kennzeichen, eines mit einer polnischen Nummer und ein weiteres mit einer Nummer, die sie nicht zuordnen konnten.
»Von weither kommende Gäste«, sagte Fatima. »Und außerdem kommen sie auf einem ziemlich ungewöhnlichen Weg nach Schweden.«
Die Fähre legte ab und sie ergatterten einen kleinen Tisch an dem Fenster im Speisesaal, an dem die Leute vorbeiliefen. Ein Strom von Menschen kam vorbei, ohne auf die beiden Frauen hinter dem Restaurantfenster zu achten. Ein Mann jedoch sah sie, und drehte sein Gesicht zur Seite, als er vorbeiging.
Sie aßen noch einmal Fisch, gebackene Flunder mit Hummersoße, und tranken wieder Leichtbier. Nach einer Stunde verließen sie den Tisch. Inzwischen befand sich die Fähre mitten auf dem Åländischen Meer.
Fatima ging voran, Malin folgte ihr. Sie stiegen die Treppen hinunter und gingen durch mehrere Flure hindurch. In einem der unteren Stockwerke hatten die Besatzungsmitglieder ihre Kabinen. Auf einem Schild stand: Nur für Personal. Als Fatima die Tür aufschob, fragte Malin, ob sie hier durchgehen dürften.
»Das ist völlig in Ordnung, außerdem habe ich meine Vorbereitungen getroffen«, antwortete Fatima. »Und ich habe ja meinen Ausweis, wenn es nötig sein sollte.«
Sie trafen eine Frau in einer Kittelschürze. Fatima nickte, die Frau nickte zurück. Sie kamen an eine schmale Tür, die Fatima öffnete. Dahinter befand sich eine enge Wendeltreppe. Sie stiegen hinab, öffneten eine weitere Tür und blickten über das untere Autodeck.
»Wir trennen uns«, sagte Fatima. »Jede nimmt eine Reihe, und wir treffen uns am anderen Ende wieder.«
Sie schlichen zwischen den Autos entlang, erkannten einige wieder, schrieben neue Nummern auf, sahen durch die Scheiben und kontrollierten, was sich auf der Ladefläche der vereinzelten Lieferwagen befand. Fatima war als Erste mit ihrer Reihe fertig. Sie hockte sich hinter einen dunkelgrünen Transporter. Malin war noch auf dem Weg.
Nach ein paar Minuten richtete sich Fatima auf und hielt nach Malin Ausschau, konnte sie jedoch nicht entdecken. Dann ging sie hinüber zu der Autoreihe, die Malin abgegangen war und blickte bis ans Ende des Autodecks. Malin war nirgendwo zu sehen.
Rufen wollte sie nicht. Schnell lief sie zwischen den Wagen durch, blieb stehen, hockte sich hin, um unter die Wagen zu blicken, suchte weiter.
Da bemerkte sie Malin. Sie stand von zwei Männern bedrängt an einer Metallwand, wurde von dem einen festgehalten, der ihr die Arme auseinanderbog, und der andere stand daneben und hielt Malin den Mund zu.
Fatima ging langsam auf die Männer zu. Sie hob die Hände, so als ob sie aufgegeben hätte, als wolle sie verhandeln.
Der Mann, der Malin festhielt, sagte auf Russisch etwas zu seinem Kumpel. Fatima verstand ihn, aber das konnte der Mann nicht wissen. Fatima antwortete auf Schwedisch.
»Was wollt ihr?«, fragte sie und ging weiter auf die Männer zu. Einer von ihnen streckte ihr eine Handfläche mit einer Bewegung entgegen, die wahrscheinlich »Stopp« bedeuten sollte.
Fatima trat schräg zur Seite, wandte den Männern den Rücken so zu, als ob sie weggehen wollte, drehte sich dann jedoch plötzlich um, tat zwei schnelle Schritte nach vorn und trat mit dem rechten Bein zur Seite.
Sie zielte auf den Mann, der Malin festhielt, ihr harter Absatz traf ihn am Kinn. Sofort ließ er Malin los und fiel nach hinten. Der andere Mann trat einen Schritt auf Fatima zu, die sich schnell umdrehte und den Mann mit dem Fuß an der Brust traf.
Jetzt war der erste Mann wieder auf den Beinen. Beide gingen langsam auf Fatima zu. Sie wich ein wenig zurück.
Die Männer versuchten einen gemeinsamen Angriff. Fatima sprang zur Seite, aber einer der Männer traf ihr Bein und sie fiel hin. Sie sah, wie der zweite Mann seinen Fuß hochhob, um ihr ins Gesicht zu treten.
Der Mann kam jedoch nicht dazu. Er wurde von hinten von einem harten Schlag ins Genick getroffen, fiel hin und blieb liegen. Fatima blickte auf und sah Malin ins Gesicht.
Sie erhob sich schnell. Der Mann, der von Malin niedergeschlagen worden war, blieb liegen, der andere entfernte sich mit ein paar unsicheren Schritten von den Frauen.
»Gehen wir«, sagte Fatima.
Sie eilten zu der Wendeltreppe, die Männer blieben unten. Einer von ihnen sprach etwas auf Russisch, aber Fatima konnte nicht hören, was er sagte.
Um halb acht war die Fähre zurück in Grisslehamn. Malin und Fatima waren unter den Ersten, die an Land gingen.
13
Im selben Augenblick, als Fatima und Malin im Dienstzimmer von Kriminalkommissar Harry Lindgren Platz nahmen, verließ Kriminalinspektor Keith Holtha die Polizeiwache in Täby. Fatima hatte noch keinen Bericht geschrieben, weder über das, was Malin und ihr auf der Eckerö-Fähre zugestoßen war, noch über ihre Untersuchungen auf dem Autodeck. Sie wusste nicht, ob sie es tun sollte, da sich ja alles an ihrem freien Tag zugetragen hatte.
Nachdem sie an Land gegangen waren, hatte sie sofort Harry angerufen, der trotz der späten Stunde im Dienst war.
»Kommt her und erzählt, damit ich verstehe, worüber du sprichst«, hatte er gesagt, als Fatima ziemlich zusammenhanglos zu berichten versuchte, was sie und Malin erlebt hatten.
Sie hatten sich in Fatimas kleinen Golf gesetzt, und waren direkt zur Polizeiwache in Norrtälje gefahren. Ehe sie Harrys Aufforderung nachkamen, alles von Anfang an zu erzählen, holten sie sich jede eine Tasse Kaffee aus dem Automaten.
Keith Holtha wurde von einem Kollegen bis zur Bushaltestelle in Roslags Näsby mitgenommen. Als er sieben Minuten gewartet hatte, kam die Linie 676 an. Der Bus war nur halbvoll, und er bekam einen Fensterplatz auf der linken Seite. Der Bus fuhr die E18 in Richtung Norrtälje.
Keith Holtha wohnte in Riala. Warum, wusste er nicht, es war ein Ort, der ihm eigentlich nicht gefiel. Er war jedoch dort aufgewachsen, seine Eltern lebten dort, und er war irgendwie dort hängen geblieben. Trotzdem ist es unpraktisch, dachte er, während er tiefer in seinen Sitz hineinrutschte, den Kopf gegen die Lehne legte und versuchte, ein wenig zu schlafen. Das war der Vorteil beim Busfahren: etwas Ruhe. Meist nahm er das Auto zur Arbeit, da war er unabhängiger, aber gelegentlich meinte er, er müsse, wie andere Leute auch, den Bus nehmen.
Er stieg in Ledinge aus und nahm den Fußweg bis hin zum Parkplatz, der eingeklemmt zwischen einer ehemaligen Kiesgrube und dem Rialavägen lag. Der Parkplatz war von der E18 aus kaum zu sehen und die Wagen, die dort abgestellt wurden, waren oft Opfer von Zerstörungswut. Deshalb hatte Keith Holtha sein Auto auch ganz hinten am Wildsperrzaun abgestellt. Er bildete sich ein, dass es dort sicherer stand. Vorsichtshalber untersuchte er das Fahrzeug, ehe er einstieg. Hatte jemand versucht, die Türen aufzubrechen oder Benzin abzuzapfen?
»Verdammt noch mal!«
Der Hinterreifen an der Fahrerseite war platt. Genervt holte er den Wagenheber und den Reservereifen aus dem Kofferraum, hob den Wagen an und tröstete sich damit, dass es wenigstens warm war, während er den Reifen wechselte. Er schraubte den beschädigten Reifen ab und dachte an Mittsommer und daran, dass er fast das ganze Wochenende arbeiten würde.
»Ich muss mir endlich ein Leben schaffen mit einer Frau und einer Familie, ich bin ja bald über das Alter hinaus«, murmelte er.
Als er den Reservereifen aufgezogen und den Wagen wieder abgesenkt hatte, streckte er eine Weile den Rücken, um anschließend den beschädigten Reifen und den Wagenheber wieder zurück in den Kofferraum zu legen. Er hatte gerade den Kofferraumdeckel geschlossen und sich hingehockt, um die Schrauben nachzuziehen, als ein Wagen auf den Parkplatz einbog. Nicht nur einer, es kamen drei Autos, die sich nebeneinander hinstellten, mit der Vorderseite zur Straße. Keith Holtha reckte sich ein wenig und konnte durch die Scheiben seines Wagens erkennen, dass es sich um einen weißen Transporter und zwei kleinere Kombis handelte. Er bildete sich ein, dass es vielleicht irgendeine Bande sei, die auf die Parkplätze zu fahren pflegte, um dort abgestellte Wagen zu demolieren. Er entschloss sich, vom Hinterrad seines Wagens verborgen, die Ankömmlinge zu beobachten. Aufgrund des Straßenlärms, der besonders von den Lastwagen herrührte, die auf der Schnellstraße direkt über seinem Kopf vorbeidonnerten, konnte er nur Teile ihrer Unterhaltung verstehen, aber er merkte trotzdem recht schnell, dass es sich um etwas völlig anderes handeln musste, als um das Klauen von Autoreifen oder Benzin.
»Beeilt euch, die Hälfte der Kisten in jedes Auto … ihr nehmt ganz unterschiedliche Routen … miserabel, klar … an Malmö vorbei vor dem Wochenende … unnötiges Warten in Deutschland … die Kiste passt nicht unter den Boden … verdammt, sie muss passen … zu schlecht gepackt … alles muss versteckt sein.«
Keith Holtha kam die Durchsuchung in den Sinn, die er an Bord der M/S Sertem Explorer letzte Woche vorgenommen hatte. Sie hatten nicht gewusst, nach was sie suchen sollten, und sie hatten auch nichts von Wert gefunden. Aber der Gedanke, dass es einen Zusammenhang gab mit dem, was sich gerade circa 20 Meter von ihm entfernt abspielte, tauchte plötzlich auf. Sollte er eingreifen? Sich aufrichten und »Still gestanden! Polizei!« schreien wie in einem amerikanischen Film? Ihm fiel ein, dass er seine Dienstwaffe in seinem Spind auf der Arbeit eingeschlossen hatte. Er kroch etwas weiter an der Seite seines Wagens entlang und konnte noch die Satzfetzen »wir ziehen ab« und »pinkeln« hören, als einer der Männer um seinen Wagen herumkam, die Finger am Reißverschluss. Keith Holtha sah gerade noch, dass der Mann breitschultrig war, kurzgeschnittene Haare hatte, und dass er die Hände von seinem Hosenschlitz in die Jackentasche steckte, eine Pistole herausholte und zielte.
Ihre Blicke, die für einige Sekunden so voller Gedanken waren, dass sie versteinert wirkten, trafen sich. Dann bemerkte Keith, wie der andere an seiner Schulter vorbeiblickte.
Der erste Schlag traf Keith am Hinterkopf, ehe er noch richtig begriffen hatte, dass sich jemand hinter ihm befand.
Direkt danach, als für Keith alles schwarz geworden war, hielt ein blauer Bus an der Haltestelle oberhalb des Parkplatzes. Eine Frau in einem hellen Sommermantel stieg aus. Sie war Krankenschwester und arbeitete in der Notaufnahme des Danderyd-Krankenhauses. Sie nahm immer den Bus zur Arbeit und wieder zurück. Während sie den Gehweg hinunterging, verließen die drei Wagen den Parkplatz. Einer davon bog auf die Schnellstraße ein, während die anderen beiden in verschiedene Richtungen auf dem Rialavägen davonfuhren.
Als die Frau in dem hellen Sommermantel den Schlüssel in ihr Wagenschloss steckte, hörte sie einen Klagelaut vom hinteren Teil des Parkplatzes. Sie dachte, es handele sich um eine kleine Katze und ging hin, um nachzusehen. Während sie noch dachte, hier innerhalb des Wildsperrzaunes kann sie nicht bleiben, hier wird sie überfahren, erblickte sie Keith Holthas zusammengesunkene Gestalt.
Die Frau hatte zwölf Jahre in der Notaufnahme gearbeitet. Sie reagierte genauso geistesgegenwärtig, wie sie es getan hätte, wenn der Klagelaut von einer verirrten kleinen Katze gekommen wäre.
Fatima und Malin waren gerade bis zur Hälfte ihres Berichtes gelangt, als der Wachhabende in Harry Lindgrens Büro kam.
»Ein Rettungswagen ist unterwegs zum Parkplatz Ledinge. Dort liegt ein Mann. Nach Auskunft desjenigen, der den Notruf getätigt hat, ist er übel zugerichtet. Ich habe auch einen Wagen hingeschickt.«
»Tot oder lebendig?«, fragte Harry Lindgren.
»Weiß ich nicht.«
Olle Kärv konnte nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken und dachte darüber nach, dass es so schwer sein würde, es zu schaffen. Jetzt war er schon drei Jahre Kriminalreporter bei der Zeitung und hatte hauptsächlich über Anzeigen wegen Schlägereien vor Kneipen und gegen Männer, die ihre Frauen verprügelten, wenn sie sich samstagabends hatten volllaufen lassen, geschrieben. Er ging mindestens einmal in der Woche aufs Gericht und las die Urteile genau durch. Und er versuchte, alle Gerichtsverhandlungen zu besuchen, die vielleicht etwas ergeben könnten. Doch bislang hatte er noch nichts geschrieben, das ihm den sehnlichst erhofften Freifahrtschein für die Redaktion des Aftonbladets hätte einbringen können. Dort wollte er hin. Großstadtleben. Puls. Ganz Schweden, ja die ganze Welt als Arbeitsfeld. Da konnte er sicher sein, über Verbrechen von ganz anderen Dimensionen schreiben zu dürfen. Das war es, was er wollte. Dabei sein dürfen, herumschnüffeln, ein wenig eigene Untersuchungen vornehmen, vielleicht sogar ab und an der Polizei um eine Nasenlänge voraus sein, nicht immer nur den lächerlichen Mist bearbeiten, den sie von ihren Untersuchungen herausgaben.
Er konnte nicht schlafen, weil er sich einbildete, es sei etwas im Gange. Die Polizei führte Kontrollen durch. Aber warum? Sollte er einen Knüller landen können? Er durfte nur nichts verpassen. Er durfte nicht etwas direkt vor der Nase haben und es nicht merken. Wo sollte er anfangen?
Kurz nachdem er gedacht hatte, dass er am nächsten Tag Fatima Barsawi anrufen und sie fragen würde, ob sie nicht zusammen Pizza essen gehen könnten, schlief er ein.
14
Einige Tage vor dem Mittsommerfest bildete sich ein Hochdruckgebiet über den Britischen Inseln aus. Es verstärkte sich weiter auf seinem Weg über Dänemark und gelangte schon am Mittwoch mit Temperaturen über 30 Grad nach Schonen. Am Tag vor dem Mittsommerabend erreichte das Hochdruckgebiet sogar Uppland, an der Messstation in Svanberga wurden gegen Mittag ganze 31,2 Grad gemessen.
Kriminalkommissar Harry Lindgren fand das absolut grässlich.
Er saß in seinem Büro im Polizeigebäude, blätterte in den Tageszeitungen und verfluchte sich selbst dafür, dass er immer und immer wieder alles, was mit Feiern zu tun hatte, bis auf den allerletzten Moment aufschob. Weihnachten war es genauso. Harry Lindgren kaufte die Weihnachtsgeschenke am 23. Dezember und hatte Mühe alles zu schaffen, ehe die Geschäfte zumachten. Und jetzt müsste er sich, genauso wie letztes Weihnachten, mit tausend anderen auf dem Flygfyren drängen, um Essen für das Mittsommerfest einzukaufen. Sein Hemd würde durchgeschwitzt sein, bis er an der Reihe war, sein Geld in der staatlichen Verkaufsstelle für Alkoholika abzugeben. Wenn er mit allem fertig war, würde er vermutlich an einem Herzinfarkt sterben oder an Erschöpfung.
Dann erspare ich mir auf jeden Fall den Weihnachtseinkauf, dachte Harry.
Er schlug die Seite zwei der Norrtelje Tidning auf und konnte feststellen, dass die Zeitung von der Sache auf dem Parkplatz in Ledinge erfahren hatte. Die Information, die die Zeitung veröffentlichte, war jedoch genauso knapp wie die Information, die die Polizei selbst über den Vorfall erhalten hatte. »Polizist an der E18 niedergeschlagen – Täter spurlos verschwunden«. Das war eigentlich alles, was die Polizei wusste. Auf jeden Fall im Augenblick. Keith Holtha hatte dem Anschein nach ohne Grund von unbekannten Tätern einen Schlag auf den Kopf erhalten und war dann ohnmächtig geworden.
Die Autodiebe waren auch schon mal netter, dachte Harry.
Keith Holtha hatte zwar eine kräftige Beule am Hinterkopf, war aber mit einer kleineren Gehirnerschütterung davongekommen. Er lag noch im Norrtäljer Krankenhaus, würde jedoch vor dem Mittsommerwochenende entlassen werden. Keith selbst war keine große Hilfe gewesen. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen und eigentlich nur gesagt: »Es wurde mir einfach schwarz vor Augen«, als er gefragt wurde, was passiert sei.
Harry schüttelte den Kopf.
Zeit, ein wenig zu arbeiten, dachte er.
Harry stand von seinem Stuhl auf und holte die Mappe mit seinen Unterlagen. Er nahm ein paar Papiere aus der Mappe, sowie einen USB-Stick, den er in den Computer steckte. Er durchsuchte den Stick entsprechend dem Datum, bis er die Aufzeichnung von dem Verhör mit Robert Skogh vom Montag in der Österåker-Anstalt fand.
Während er das Programm startete, streckte er sich ein wenig. Er hörte seine eigene Stimme, die außerordentlich steif aufzählte, wer bei diesem Verhör anwesend war und aus welchem Grund. Er hörte die Stimme von Robert Skogh. Er hörte auch die Stimme von Robert Skoghs Anwalt. Ein Anwalt, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, obwohl er ihn sich selbst ein paar Sekunden zuvor hatte sagen hören.
Ich muss klar denken, dachte Harry. Der Mittsommerstress war plötzlich wieder da. Der Verkehr auf dem Stockholmsvägen und das Gedränge in den Schlangen.
Ich kann vielleicht Fatima bitten, in die Alkoholverkaufsstelle zu gehen, dachte er, während er den Blick hob und aus dem Fenster sah. Sie hat sicherlich nichts anderes vor.
Harry schüttelte den Gedanken ab, blickte wieder auf seinen Computer und hörte weiter die Tonaufnahmen ab. Irgendetwas hatte Robert Skogh gesagt, was Harry während des Verhörs nicht richtig verstanden hatte. Irgendetwas, was Robert gesagt hatte und worüber Harry während der Rückfahrt nach Norrtälje nachgedacht hatte, was er jedoch nicht richtig zu fassen bekommen hatte.
Ein Gefühl, dachte Harry. Ich taste mich in dieser Ermittlungssache vor und verlasse mich auf ein Gefühl.
Er war nun bei dem Abschnitt angekommen, wo über die Nacht, in der Lars Gustavsson im Hafen ermordet worden war, gesprochen wurde. Er hörte erneut seine eigene Stimme.
»Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«
Es folgten einige Sekunden Schweigen. Dann kam Robert Skoghs Antwort.
»Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«
Harry machte eine Pause und vergrub das Gesicht in den Händen. Er rieb sich die Augen und blinzelte, als er sie wieder öffnete. Er stand auf und ging in seinem Büro auf und ab, während er vor sich hin murmelte. Nach einer Weile setzte er sich wieder. Er spulte die Tonaufzeichnung einige Sekunden zurück und hörte sich denselben Abschnitt noch einmal an. Er sah auf die Uhr, als er seine Frage zum zweiten Mal hörte:
»Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«
Harry sah auf die Uhr. Er zählte die Sekunden, indem er den Sekundenzeiger auf der analogen Uhr verfolgte. Nach zehn Sekunden kam die Antwort.
»Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«
Das ist es, dachte Harry und stoppte die Tonaufzeichnung. Er erhob sich und begann wieder im Büro auf und ab zu gehen, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Dann setzte er sich schnell wieder und hörte die Tonaufnahmen weiter ab. Jetzt war er eifriger.
Nun war wieder er selber zu hören. Dieses Mal klang er aggressiver. Er war absichtlich laut, um Robert Skogh unter Druck zu setzen.
»Du sitzt im Schlamassel, Robert! Du hattest Blutflecken auf deiner Jacke! Dafür musst du eine Erklärung abgeben, sonst wirst du hier lange sitzen. Glaub mir. Du wirst verurteilt werden. Du hast keine Chance!«
Harry sah wieder auf seine Uhr. Er zählte fünfzehn Sekunden. Dann war Robert Skoghs Stimme zu hören.
»Ich kann nicht gestehen, was ich nicht getan habe.«
Harry stoppte die Tonaufzeichnung. Da haben wir es wieder, dachte er. Warum? Warum wartet man fünfzehn Sekunden lang, um zu antworten, dass man unschuldig ist? Müsste diese Antwort nicht sofort kommen? Müsste Robert Skogh nicht empört sein und seine Antwort hinausschreien? Warum wartet er mit seinen Antworten?
Harry Lindgren stand zum vierten Mal innerhalb weniger Minuten auf.
»Ich habe nicht richtig auf das reagiert, was Robert Skogh gesagt hat«, sagte er leise vor sich hin, während er gleichzeitig bemerkte, wie der Schweiß unter den Armen so langsam durch das Hemd zu sehen war.