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»Es war die Zeit, die er brauchte, ehe er antwortete.«
Es wurde Mittsommerabend und Norrtälje leerte sich. Boote mit aufgesetzten kleinen Birken verließen den Hafen und begaben sich mit den Feiernden hinaus durch die Bucht, begleitet von Ziehharmonikamusik. Wo nur einen Tag zuvor Hetze und Stress war, wirkte jetzt alles bedeutend ruhiger, auch wenn es immer noch sehr schwül und drückend in der Stadt war. Die Leute, die nur einen Tag zuvor gedrängelt und geflucht hatten, grüßten nun fröhlich und wünschten einander einen frohen Mittsommer. An der Busstation herrschte eine fieberhafte Aktivität, als Verwandte und Bekannte mit Taschen und Schlafsäcken umstiegen, um sich dann auf die Festlichkeiten in jeder Ecke der Gemeinde zu verteilen.
Wonner schlenderte die Strandpromenade im Societetspark entlang. Er setzte sich auf eine der Bänke und beobachtete das lebhafte Treiben unten bei den Sportbooten. Eine Gruppe junger Leute hatte schon das erste Bier geöffnet, saß mit nackten Oberkörpern in einem alten Holzboot und sang. Wonner dachte, dass dies sicher nicht das letzte Bier des Tages sein würde.
Er nahm sich die Zeitung vor, die er unter dem Arm trug, und las den Bericht über den Polizisten, der auf dem Weg zwischen Norrtälje und Stockholm überfallen worden war. Dann faltete er die Zeitung ruhig wieder zusammen, erhob sich, warf sie in den nächsten Abfallkorb und setzte sich wieder.
Das Boot mit den jungen Leuten legte ab und glitt durch das Hafenbecken. Einer der jungen Männer stand an der Reling und pinkelte ins Wasser.
Idioten, dachte Wonner. Ich habe es mit Idioten zu tun.
15
Ich kann ebenso gut arbeiten, dachte Malin Skogh. Dann habe ich nicht die Zeit, viel an Robert zu denken. Und an alles, was seit dem Mord an Lars Gustavsson passiert ist.
Sie hatte Olle Kärvs Artikel über den Fund an Bord der Sertem Explorer gelesen, und sie hatte am Tag vor dem Mittsommerabend mit Roberts Anwalt Tomas Fredriksson gesprochen.
»Du musst schon damit rechnen, dass Robert noch eine Weile im Gefängnis bleiben wird«, hatte er gesagt.
Viel mehr hatte sie nicht erfahren. Tomas Fredriksson war an die Schweigepflicht gebunden und durfte nichts über die Verhöre und die Haftverhandlungen sagen.
»Es tut mir leid, Malin«, hatte er geseufzt, »aber ich darf nicht erzählen, was Robert gesagt hat. Alles, was ich sagen kann, ist, dass es Umstände gibt, die für ihn belastend sind, aber er streitet den Mord ab. Und dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um ihn frei zu bekommen.«
»Wie geht es ihm?«, flüsterte Malin.
»Es ist hart, so lange im Gefängnis zu sitzen, das kannst du dir ja denken, aber er kommt trotzdem ganz gut zurecht. Er weiß, dass du an ihn glaubst, und das bedeutet ihm viel.«
Am Tage darauf hatte sie das Zubringerboot hinaus nach Norröra genommen, um zusammen mit ihren Freunden Elin und Erik Mittsommer zu feiern. Fatima Barsawi hatte das ganze Wochenende über Dienst und hatte sie gedrängt zu fahren, sie würden sich auf jeden Fall nicht sehen können.
Es wurde eine traditionelle Feier. Mittagessen mit Hering und Schnaps, ein Mittsommerkranz, Sackhüpfen. Kekse essen und Erdbeertorte. Baden. Gegrilltes Fleisch mit Rotwein. Gitarre und Calle Schewens Walzer. Noch mehr Wein.
Malin hatte mitgemacht, so gut es ging, hatte sich jedoch meist nach Hause gesehnt. Und an Robert gedacht. Nachts, als sie nicht schlafen konnte, war sie hinunter zur Brücke an der Badestelle gegangen, die Måsberg genannt wurde, und hatte dort eine Weile in der lauen Sommernacht gesessen. Hatte die dünne Mondsichel betrachtet, die Mückenschwärme verscheucht und gesehen, wie das Licht wie eine bleichrosa Hoffnung zurückkehrte.
Jetzt hatte sie gerade die fünfte Kundin an diesem Montag verabschiedet, die Haare auf dem Boden zusammengekehrt und eine schnelle Tasse Kaffee getrunken.
Ich kann ebenso gut arbeiten, stellte sie wieder fest, als eine Frau in den Salon kam, zusammen mit einem Jungen mit hellem struppigem Haar.
»Hallo, Åsa. Und hallo, Elias. Du bist doch sicher Elias.«
»Hm«, murmelte Elias und überlegte, ob er Malin die Hand geben sollte.
Bisher hatte ihm seine Mutter zuhause in der Küche die Haare geschnitten. Jetzt hatte er jedoch einen Haarschnitt bei einem richtigen Friseur zum Geburtstag geschenkt bekommen. Spannend, dachte er, als er auf den Stuhl kletterte.
»Ich habe einiges zu erledigen. Wir sehen uns dann später zuhause, Elias«, rief Åsa Mellberg, die schon auf dem Weg hinaus war.
»Wie soll ich dir denn die Haare schneiden?«, fragte Malin, und strich mit der Hand durch Elias blonden Wuschelkopf.
»Weiß ich nicht. Ein bisschen cooler. So ein bisschen struppig oben auf dem Kopf.«
»In Ordnung. Das kriegen wir hin«, lächelte Malin.
Man kann sich gut mit Elias unterhalten, dachte sie. Er spielte Hallenhockey, genau wie Malin, und Fußball im BKV Jungen-01. Er erzählte von dem Schnorchel, den er gestern zum ersten Mal an der Kärleksudden ausprobiert hatte, vom Hamster Gunnar, der sich in verschiedenen Ecken seines Käfigs Nahrung suchte, und dem Call-of-Duty-Spiel, das er haben wollte.
Und schließlich auch über sein Interesse für Mysterien und Geheimnisse.
»Am liebsten möchte ich Detektiv werden. Ich sammle Spuren und all so Sachen, die mystisch sind«, erzählte er weiter.
Er blickte Malin im Spiegel an.
»Weißt du, was mit dem Mann passiert ist, der im Hafen gestorben ist?«
Malin merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
»Nein, das weiß ich nicht. Nicht mehr als das, was in der Zeitung gestanden hat.«
»Ich bin ein paarmal dort gewesen und habe nach Spuren gesucht.«
»Tatsächlich?«
»Hm, aber ich möchte noch mehr wissen.«
»Hast du denn etwas gefunden?«
Elias schüttelte den Kopf.
»Nein, nichts Wichtiges.«
Malin dachte an ihre eigene »Spur«, das Stück Holz mit den russischen Buchstaben. Sie hatte es Fatima gezeigt, die gesagt hatte, dass es damit nichts Besonderes auf sich habe. Aber dass Malin vorsichtig sein müsse.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den Überfall auf dem Siloturm und an die dramatischen Ereignisse an Bord der Eckerö-Fähre dachte. Ja, sie musste vorsichtig sein, aber sie konnte auch nicht aufgeben. Sie musste Robert helfen.
»So, Elias, bist du zufrieden?«, fragte sie und hielt ihm hinten den Spiegel hin.
Elias strahlte, als er sich selbst und seine neue Frisur sah.
»Cool.«
Elias war Malins letzter Kunde an diesem Tag. Sie verließen zusammen den Salon und gingen bis hin zur Hantverkaregatan.
»Willst du in den Spielzeugladen?«, fragte sie.
»Vielleicht. Und dann wollte ich noch zu IT Works gehen, du weißt, zu dem Mann, der sich mit Computern beschäftigt.«
»Ronald Schneider?«
»Kennst du ihn?«
»Ein wenig. Er hilft uns, wenn das Buchungssystem auf unserem Computer nicht funktioniert. Er kennt sich bestens aus. Außerdem haben wir ein paarmal zusammen zu Mittag gegessen. Er ist nett.«
»Ich wollte ihn etwas fragen.«
»Über Computer?«
»Hm. Ich habe etwas gefunden, von dem ich nicht weiß, was es ist. Aber er weiß es sicher, er arbeitet ja mit so etwas.«
»Sicher. Er ist sehr nett und hilfsbereit. Wiedersehen, Elias.«
Malin sah ihn mit seinem Rucksack und dem krummen Stück Holz weggehen, das er bei der Apoteksbro aufgelesen hatte. Er blieb an dem Spielzeugladen stehen und ging dann weiter bis zum Schaufenster des Computerfachmanns.
Er erinnert mich an Robert, als er klein war, dachte sie.
Die Mittsommerhitze war von einem Gewitter weggefegt worden, das den Himmel in der Nacht zum Montag mit seinen Blitzen erleuchtet hatte. Jetzt war die Luft klarer und die Wärme erträglicher.
Schön, dachte Olle Kärv, der mit Fatima in einem Straßencafé Pizza aß. Er hatte sich auf das Treffen mit ihr gefreut. Einerseits deshalb, weil er sich erhoffte, etwas mehr über die seltsame Schmuggelaffäre und den ebenfalls sehr merkwürdigen Überfall auf Keith Holtha zu erfahren, andererseits, weil er hoffte, wieder mit diesem speziellen Lächeln bedacht zu werden.
»Hat denn Keith Holtha etwas mehr darüber sagen können, was passiert ist?«, fragte er.
Fatima saß einen Augenblick schweigend da, ehe sie antwortete.
»Das hier hast du nicht von mir erfahren«, sagte sie und wartete auf das bestätigende Nicken von Olle.
»Er ist immer noch benommen, aber ein Teil seiner Erinnerung ist wieder da. Es waren mehrere Personen, die sich mit ihren Fahrzeugen auf dem Parkplatz von Ledinge getroffen hatten. Er erinnert sich an Fragmente ihrer Unterhaltung.«
Olles Puls stieg an.
»Was haben sie gesagt?«
»Es ging um Transporte. Irgendetwas über Deutschland. An mehr erinnert er sich nicht.«
Schmuggel, dachte Olle. Es muss mit den Dingen zusammenhängen, die mit den Fähren und Lastschiffen ins Land kommen, welche die Polizei untersucht hat.
»Es sieht so aus, als gebe es einen Zusammenhang zwischen dem Überfall auf Holtha und dem, was im Hafen passiert ist«, sagte er.
»Das kann ich nicht bestätigen.«
»Das verstehe ich, aber ich muss da weitermachen«, sagte Olle, der es jetzt eilig hatte. Das musste er herausfinden. Möglichst heute noch.
Aber er wollte auch dieses Lächeln wiedersehen.
»Danke für das nette Mittagessen, Fatima. Du, ich meine, wir könnten uns vielleicht abends einmal treffen. Und wir könnten über etwas anderes reden als über die Arbeit.«
»Vielleicht«, antwortete Fatima.
Und lächelte.
Wonner beendete das Gespräch und legte das Handy weg. Die Lieferung war angekommen, Adam war zufrieden. Ein Teil der Ausrüstung war noch in Deutschland und wartete auf die Weiterbeförderung, der Rest war schon auf dem Weg zu seinem Bestimmungsort.
Aber auf dem Parkplatz von Ledinge war es ziemlich knapp gewesen. Die Idioten hatten einen Polizisten niedergeschlagen. Unverzeihlich, dachte er.
Jetzt hatte er den Auftrag bekommen, eine neue Lieferung in Empfang zu nehmen. Auch dieses Mal müssen es kleine Schiffe sein, aber wir laden irgendwo anders auf der Strecke um, dachte er.
Fatima Barsawi und ihre blonde Freundin stellten ein Problem dar, das sah er ein.
Ein paar Stunden später saß er in seinem Wagen in der Bangårdsgatan und wartete darauf, dass Fatima aus ihrer Haustür kommen würde. Er wollte sie und ihre Vorhaben beobachten.
Geduld, dachte er, als sie in ihren Sportsachen herauskam und begann, in Richtung Vegagatan zu joggen. Wonner ließ den Motor an und fuhr langsam los. Lauf du nur, Fatima Barsawi, dachte er. Ich bin doch der Erste.
16
Malin Skogh war müde, rastlos und leicht irritiert. Sie wanderte in der Wohnung herum und konnte sich nicht richtig damit abfinden, dass sie zuhause saß mit einer Tasse Tee und Joyce Carol Oates, mit ihren Gedanken aber ganz woanders war. Sie machte ihren Laptop an, öffnete Facebook und las, was einige ihrer alten Schulkameraden über Mittsommer gemacht hatten, was sie zu Mittag gegessen hatten, wessen Kind sich den Magen verdorben und sich im neuen Auto übergeben hatte.
Malin seufzte. Sie klickte »Mitteilungen« an und sah, dass sie eine Einladung von der Kunsthalle erhalten hatte. Es ging um eine Sonderführung durch die Ausstellung des Gräddö-Künstlers Sander Karlsson, eines alten Bekannten von ihr. Da ihr im Moment jede Art von ablenkung entgegen kam, beschloss sie spontan, an der Führung teilzunehmen.
Sie duschte. Dann schlüpfte sie in das schwarze Kleid mit ein wenig zu viel Rückenausschnitt, putzte sich die Zähne und trank ein eiskaltes Starobrno, während sie am Computer saß. Sie rief Fatima an und sprach ihre Pläne auf den Anrufbeantworter. Sie rief Erik und Elin an, die gerade bei einer Thai-Mahlzeit saßen und fernsahen. Sie musste alleine gehen.
Sie zog ihre Jeansjacke über das kleine Schwarze und rundete das Ganze mit einem dünnen Halstuch aus indischer Seide ab. Eine richtige Frau kommt selbst zurecht, hatte ihre Großmutter immer gesagt und ihr Moa-Martinson-Bücher und fünfhundert Kronen zu Weihnachten geschenkt.
Einen Kuss für dich, Großmutter, dachte Malin, und war froh, dass sich die Großmutter keine Gedanken wegen Robert machen musste. Dass sie sich überhaupt keine Gedanken mehr machen musste.
Malin ging in den Juniabend hinaus und dachte an Elias und seinen Computerfund, und dass es vielleicht ganz gut sei, sich noch einmal mit diesem kleinen Jungen zu unterhalten, der sich ein wenig in seiner eigenen Welt umzusehen schien. Und dann dachte sie an Ronald Schneider und dass sie mit ihm diesen Karteikram vom Karateclub kontrollieren müsse.
Malin ging mit leichten Schritten die Hantverkaregatan entlang und überquerte den Lilla Torget in Richtung Norrtäljes Kunsthalle.
Solche Art von Abenden pflegten die besten zu sein, unvorbereitet und allein, dachte sie, als sie einen bekannten Rücken in Richtung Kunsthalle abbiegen sah.
Sie erwarteten ihn. Auf alte Bauernweise ruderte er stehend, mit dem Gesicht zum Bug hin. Er parierte die Wellen, die von den Sportbooten kamen, welche den Havspiren als Ziel hatten. Es war erstaunlich ruhig bei der Einfahrt. Die Silos wurden größer und der Schatten des Schornsteins der S/S Norrtelje zeichnete sich gegen die noch hoch stehende Sonne ab.
Er fühlte sich ein wenig unwohl. Aber das war nichts Ungewöhnliches, wenn solche Veranstaltungen anstanden. Der Chef der Kunsthalle hatte schon seit dem letzten Frühjahr darauf gedrängt, dass er etwas tun solle. Das widerstrebte ihm. Er war am liebsten zuhause auf seinem Hof.
Beim Holz. Drehte seine Runden um die Werkstatt. Las. Wusch ab. Kümmerte sich um die Kinder, wenn Wilma Tagesdienst im Krankenhaus hatte.
»Des Holzes eingeborene Authentizität« untersuchen, wie der Rezensent geschrieben hatte. Genau, dachte Sander Karlsson und duckte sich unter der Norrtäljebrücke. Das Holz hatte seine Form. Dagegen konnte man nichts machen. Am allerwenigsten er selbst. Er folgte ihm. Oder besser, er nahm dessen ausgestreckte Hand und wurde weiter in den Gegenstand geführt, um »dessen einzigartige Historizität« zu entdecken, wie der Rezensent weiter ausgeführt hatte.
Sander Karlsson setzte sich und machte noch ein paar kräftige Ruderschläge, ehe er am Kai unterhalb der Kunsthalle anlegte. Er dachte an seinen Vater, der sich nie für Sanders Segeltouren interessiert hatte, außer dass er hören wollte, wie er angelegt hatte. »Seid ihr auf Grund gelaufen?«, hatte er gefragt, und das gefurchte, freundliche Gesicht sah neugierig aus.
»Ja, zweimal«, pflegte er zu sagen. Auch wenn es nicht stimmte. Aber dem Vater gelang es immer, die Wahrheit aus ihm herauszulocken.
Sander machte das Boot fest und ging die 35 Treppenstufen bis zur Kunsthalle hinauf.
»Jetzt kommt er.«
Ein vereinzelter Palästinenserschal war zwischen den Jacken und Röcken der gedämpft murmelnden Versammlung sichtbar.
Sie hatten auf ihn gewartet. Der Chef der Kunsthalle hatte schon eine kleine Einleitung in Sander Karlssons Kunst gegeben und empfing ihn nun mit offenen Armen. Sander war nass nach seiner Rudertour und wirkte sichtlich gerührt über den spontanen Applaus, der ihn empfing. Er bekam ein Glas Wein und wurde durch die Besuchermenge geführt. Einige kannte er flüchtig. Andere waren alte Bekannte. Das hier war ungefähr das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte.
Sich unter die Leute mischen. Reden. Das endete meist damit, dass er gewissermaßen durch die Leute sank und wie zu einer Struktur in der Wand wurde, bis er verschwinden und nach Haus fahren konnte. Er hatte inzwischen ein Dutzend Leute begrüßt, genauso viele Gespräche begonnen und abrupt beendet, als sich dieser fast außerirdische Tunnelblick wieder bei ihm bemerkbar machte.
Jetzt war er auf dem Weg in die Wand, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm fühlte.
»Hallo, Sander! Was für eine schöne Ausstellung.«
Malin Skogh stand lächelnd vor ihm. Das weiße Lächeln war durch die Beleuchtung der Kunsthalle leicht gefärbt, aber sie sah sowohl froh als auch erleichtert aus. Trotz allem, was passiert war.
»Hallo, Malin … es tut mir leid …«
»Ja, danke. Im Augenblick ist alles etwas durcheinander.«
Erst jetzt bemerkte Sander den Mann an ihrer Seite.
»Angenehm«, sagte Schneider und hob eine Augenbraue. »Deine Kunst erinnert mich an einen Künstler, dessen Namen ich im Moment vergessen habe. Aber genau wie ihm ist es dir gelungen, die eigentliche Seele der Natur in deinen Werken beizubehalten«, sagte Schneider und trank einen Schluck Wein.
»Danke«, erwiderte Sander und wurde rot.
»Als ich dich mit dem Ruderboot kommen sah, habe ich geglaubt, du würdest es mit reinbringen, um eine Art Vorstellung zu geben«, sagte Schneider und zog die Augenbraue noch ein wenig weiter nach oben.
Sander kam nicht umhin, sich über den Akzent des Mannes zu wundern. Amerikaner vielleicht. Er klang jedoch wie jemand, der wusste, wovon er redete.
»Sander arbeitet ganz und gar nicht auf solche Art und Weise.«
Der Chef der Kunsthalle Wachtenfelt mischte sich in die Unterhaltung und musterte den dunkel gekleideten Mann.
Schicke Jacke, dachte Fredrik von Wachtenfelt und stellte sich vor.
»Ronald Schneider«, antwortete der andere und fasste Malin leichter unter den Arm.
»Und das ist Fräulein Malin Skogh.«
Wachtenfelt brach in ein großes Gelächter aus, das auf Schneider und Malin ansteckend wirkte.
»Ja, sie hat mir die letzten acht Jahre die Haare geschnitten«, sagte Wachtenfelt, »schneidet sie sie Ihnen auch?«
Wachtenfelt wartete die Antwort nicht ab, sondern fasste Sander am Ellbogen und führte ihn an dem groß gewachsenen Kulturchef vorbei, der neben Sanders großer Skulptur »Der Stier« Hof hielt.
Malin sah zu Schneider auf und lächelte.
»Ronald, alle Achtung. Verstehst du so viel von Kunst?«
»Ach was. Aber Torsten Rehnqvist ist doch einer von euern Großen«, sagte Schneider und wandte sich Malin zu. »Und du? Monet oder Kandinsky? Rembrandt oder Malevitsch?«
»Nein. Ich bin mehr für Fotografie. Sarah Moon, Sally Mann.«
Schneider nickte. Sally Mann war ihm etwas zu realistisch, aber er sagte nichts, sondern holte Malin noch ein weiteres Glas Rotwein.
»Du erwähntest etwas über Probleme mit einem Register?«
Jetzt war Malin an der Reihe, rot zu werden. In einem schwachen
Augenblick hatte sie versprochen, eine gute Lösung für das Mitgliederregister des Karateclubs zu finden. Obwohl sie sich eigentlich nicht allzu sehr für Computerlösungen oder die Einrichtung von Registern interessierte, war sie es leid, dass immer irgendein Mann auftauchte und sich erbot, das etwas angeschlagene Programm in Ordnung zu bringen, das danach ein halbes Jahr hielt, um dann auszufallen und noch mehr durcheinanderzubringen, als vorher.
»Wie gut kennst du dich mit Registern aus?«, fragte sie Schneider.
»Register? Ich bin ein Register«, sagte Ronald Schneider und zog ein Zigarettenetui aus seiner Jackentasche.
»Smoke?«, fragte er und lächelte breit.
Malin sah ihn an und lachte.
»Warum nicht? Es ist wohl nie zu spät, um wieder anzufangen«, sagte sie und zog eine Zigarette aus dem kleinen silbernen Etui mit einem kleinen vergoldeten Raubvogel.
Adler, dachte Malin, ehe sie Schneider hinaus in den Juniabend folgte.
17
Als Olle Kärv nach dem Mittagessen wieder zurück in die Redaktion der Norrtelje Tidning kam, hatte er eine recht detailreiche, aber ziemlich überladene Geschichte im Kopf. Er begriff, dass er nun zusammenfassen musste, was er über diese kriminellen Machenschaften, die sich in Norrtälje abspielten, wusste. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, seine Aufzeichnungen durchzulesen, als der Nachrichtenredakteur zu ihm kam und sagte, dass er auf den Bericht über den Immobilienmakler warte, der wegen Steuerhinterziehung angeklagt war.
Olle antwortete, dass er ihn in einer Stunde fertig haben würde. Er schrieb schnell, und obwohl er nicht richtig zufrieden mit dem Artikel war, lieferte er ihn trotzdem ab und sagte, dass er jetzt an der anderen Sache arbeiten wolle.
»Wo du nicht richtig weißt, um was es sich eigentlich handelt?«
»Genau.«
Olle hatte schon über den toten Mann im Hafen geschrieben, über Robert Skogh und über mysteriöse Schiffe, und er hatte seinem Chef gesagt, dass noch mehr kommen würde. Jetzt begriff er, dass er so langsam Resultate vorweisen musste.
Er legte eine Liste über Fakten und Überlegungen an, er schrieb mit der Hand, strich durch, hatte zum Schluss eine Übersicht über plausible Vermutungen. Dann rief er Fatima an. Ob sie sich treffen könnten?
Sie hatte wenig Zeit, wenn er allerdings am folgenden Morgen um sieben mit ihr eine Runde joggen wollte, könnte er das gerne tun.
Er wusste, dass er nicht über ihre Energie und Ausdauer verfügte, sagte aber trotzdem zu. Es war halb drei. Schweden hatte begonnen, in die Ferien zu fahren, und Büros und Behörden machten früh Schluss. Viele waren schon weg. Aber er gab nicht auf, hatte Glück, erreichte Alvar Vantanen, der die M/S Melchior in den Hafen von Norrtälje gelotst hatte.
Ja, Vantanen hatte auch gedacht, dass mit dem Schiff etwas seltsam sei, und dann war der Kapitän übereilt aufgebrochen, so als ob er etwas zu verbergen hatte.
Darauf rief Olle das Zollamt in Stockholm an. Er kannte dort seit langem Inspektor Ingvar Lund. Der war allerdings im Urlaub. Olle wusste, dass er ein Sommerhaus auf Arholma hatte, und rief dort an.
Es wurde ein langes Gespräch. Lund wollte nicht genannt werden, aber er erzählte, dass Interpol vor neuen Schmuggelrouten von Russland in den Nahen Osten gewarnt hatte, und diesmal waren es andere Waren als üblich.
Via Schweden?
Nicht unmöglich.
Vielleicht sogar via Roslagen?
Vielleicht. Und in diesem Fall war das wohl eine Folge all der geschlossenen Küstenstationen und der Stellenkürzungen beim Zoll in Schweden, nicht zuletzt in Roslagen.
Olle bedankte sich, und Ingvar Lund wünschte ihm Erfolg. Olle merkte, dass der alte Zollbeamte nicht damit einverstanden war, was sich vor seinen Augen abspielte.
»Schreib etwas Gutes«, sagte er.
»Ich schicke dir ein Exemplar«, antwortete Olle.
Um zehn vor sechs klingelte der Wecker. Olle stellte sich unter die Dusche, drehte vorsichtig das warme Wasser zuerst auf lauwarm, dann auf eiskalt.
Die Norrtelje Tidning lag neben Dagens Nyheter an der Tür. Er trank Kaffee und las seinen eigenen Artikel über die Steuerhinterziehung. Na ja, nicht unbedingt das Beste, was er bislang geschrieben hatte.
Als er die Wohnung verließ und auf die Kungsgatan trat, rief er Fatima an. Er sagte, dass er in fünfzehn Minuten vor ihrer Haustür auf der Bangårdsgatan stehen würde. Dann begann er langsam in Richtung Zentrum zu joggen.
Sie trug einen blauen Trainingsanzug. Die Hosenbeine waren aufgekrempelt, und er sah, dass sie an den Beinen und am Hals braungebrannt war. Vielleicht war es auch ihre natürliche Hautfarbe, das wusste er nicht. Das Haar hatte sie hochgesteckt.
»In Richtung Hafen?«, fragte sie.
»Das kannst du bestimmen«, antwortete er.
Sie liefen langsam, joggten an der S/S Norrtelje vorbei, liefen weiter in Richtung Silo bis zu der Stelle, an der der tote Lars Gustavsson im Wasser gefunden worden war. Sie liefen schweigend nebeneinander her und bogen dann auf kleinere Wege hinaus nach Grind und Långgarn ein.
»Eine kurze Pause?«, keuchte Olle.
Sie blieben stehen, gingen dann am Rand der sumpfigen Strandwiese entlang. Fatima atmete ruhig. Olle versuchte, sein Keuchen zu unterdrücken, was ihm aber nicht gelang.
»Der Zoll glaubt, dass von Russland aus Schmuggel via Schweden in die übrige Welt betrieben wird«, sagte er. »Glaubst du, dass das stimmen kann?«
»Meinst du, ob ich es persönlich glaube oder ob es die Polizei glaubt?«
»Was auch immer, such es dir aus.«
»Okay, ich selbst glaube, dass das stimmen kann.«