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Wunder
Theorie – Auslegung – Didaktik
Kurt Erlemann
Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: © Adobe Stock / Josef Rapek
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: pagina GmbH, Tübingen
utb-Nr. 5657
ISBN 978-3-8385-5657-4 (Print)
ISBN 978-3-8463-5657-9 (ePub)
Wunder und Wundertexte gehören zu den umstrittensten und zugleich faszinierendsten Genres der Bibel. In ihnen wird der Glaube an den Schöpfergott Israels sichtbar und spürbar. Ohne Wundertexte wäre dieser Glaube seiner Spitze beraubt. Die Evangelisten zeichnen Jesus als charismatischen Wundertäter. Schon seit den Anfängen der Kirche waren seine Wunder und die der Apostel Gegenstand intellektueller Kritik. Seit dem Zeitalter des Rationalismus wird die Glaubwürdigkeit der Bibel vorzugsweise an der Wunderfrage festgemacht. Bis heute dauert die Kontroverse um ein sachgemäßes Verständnis der biblischen Wundertexte an. Trotz aller Umstrittenheit sind sie noch immer ein fester Bestandteil der Lehrpläne für den Evangelischen Religionsunterricht.
Der UTB-Band ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit den biblischen Wundertexten und dem Phänomen des Wunderbaren in Forschung und Lehre. Das Buch vereinigt Impulse der Wunderforschung, exegetische Fragestellungen sowie Aspekte der Wunderhermeneutik und -didaktik. Das Buch ist Fach- und Lehrbuch zugleich: Erstens, es bietet einen leichten Einstieg in Grundbegrifflichkeiten. Zweitens, es beleuchtet eingehend historische Aspekte der Wunderfrage. Drittens, es bietet einen Überblick über Wunderdeutung und -forschung seit den Anfängen bis heute und spinnt die Fäden weiter. Viertens, es erschließt zahlreiche theologische Aspekte der Wundertexte. Fünftens, es setzt die Wundertheorie in Musterexegesen praktisch um und sechstens, es bietet Impulse für eine moderne Wunderdidaktik anhand praktischer Unterrichtsskizzen. Grafiken, Tabellen, Beispieltexte und ein Serviceteil runden das Konzept des Buches ab.
Mein ausdrücklicher Dank gilt den Menschen, welche die Entstehung des Buches begleiteten und bereicherten: Gunther vom Stein und Simon Dietz trugen wertvolle didaktisch-methodische Impulse bei. Sophia Diddens leistete akribische Korrekturarbeit. Daniel Schmitz und Thomas Wagner hielten mir einmal mehr den Rücken frei. Gunter Narr und seinem Team danke ich für die Realisierung des Buches auf Verlagsseite. Vor allem aber danke ich meiner Frau Steffi Springer für ihre große Geduld und liebevolle Unterstützung zu jeder Zeit! Gewidmet ist das Buch meiner langjährigen Mitarbeiterin Astrid Padberg als Dankeschön für die jederzeit wunderbare und professionelle Zusammenarbeit über die Jahrzehnte!
Kurt Erlemann, Neviges, Pfingsten 2021
1 Einführung
Wunder und Wundertexte sind faszinierende, aber auch umstrittene Genres der Bibel. Zu fragen ist nach ihrer historischen Wahrheit, ihrer Relevanz und ihrer Vermittelbarkeit: Ist von wunderhaften Ereignissen zur Zeit Jesu und der Apostel auszugehen? Wie lassen sich Wundertexte adäquat verstehen? Hat der Wunderglaube noch theologische Relevanz oder ist er Teil eines überholten Weltbildes? Das Buch wendet die Ergebnisse der Wunderforschung auf exegetische, hermeneutische und didaktische Fragestellungen an.
1.1 Die Intention des Buches
Das Buch lehnt sich in Format und Zuschnitt an den 2020 erschienenen UTB-Band Gleichnisse. Theorie – Auslegung – Didaktik (utb 5494) an. Die inhaltliche Vorlage ist mein populärwissenschaftlich angelegter Band Kaum zu glauben. Wunder im Neuen Testament (2016). Das vorliegende Buch spinnt den dort entwickelten Faden weiter, diskutiert ihn mit anderen wundertheoretischen Ansätzen und baut ihn im Sinne eines Lehrbuches aus. Besonderes Augenmerk gilt dem Verhältnis zwischen Wundertaten und Wundertexten, deren Bedeutung und Funktion, der historischen Wunderfrage und dem Wahrheitsanspruch der Texte. Dieser wird mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriff der Aufklärung ins Verhältnis gesetzt. Leitend ist die Grundüberzeugung, dass der Wunderglaube theologisch unverzichtbar ist. Der Glaube an den Schöpfergott, der selbst aus dem Tod neues Leben schaffen kann und den Menschen Erlösung von Leiden und Vergänglichkeit zugesagt hat, ist ohne den Gedanken an seine Wunderkraft stumpf.
1.2 Erste Fragen und Antworten
1.2.1 Hat Jesus Wunder getan?
Das historische Geschehen hinter den Wundertexten liegt im Dunkeln. Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern Glaubenszeugnisse. Gleichwohl ist die Annahme einer Wundertätigkeit Jesu plausibel: Sie erklärt stimmig die daraus entstandene Wirkungsgeschichte inklusive Christus- und Wunderglauben, Jüngerschaft und Kirche. Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reduktion historisch ‚wahrscheinlicher‘ Wundertaten auf rational erklärbare Heilungen und Exorzismen ist kein Lösungsweg für diese Frage und wird dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 2.4; 3.6.2).
1.2.2 Was ist die ‚Wahrheit‘ der Wundertexte?
Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch fromme Märchen oder Mythen; ihr Wahrheitsgehalt liegt dazwischen. Er erschließt sich aus der heilvollen Wirkung der Wunder und aus der Vielzahl an Sinnebenen, welche die Texte transportieren. Ein Wunder, so lässt sich vorab sagen, ist ein umfassendes, die physische, psychische, soziale und religiös-moralische Dimension des Menschseins betreffendes, Geschehen, welches auf übernatürliche, göttliche Weise menschliche Not heilvoll verändert. In der Symphonie der Sinnebenen und der theologischen Aspekte liegt die bleibende Wahrheit und Relevanz der Wundertexte.
1.2.3 Kann man noch an Wunder glauben?
„Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich glaube an Letzteres.“1
Intensive Wundererfahrungen sind der Anfangszeit des Christentums vorbehalten. Die Zeit seither ist wunderarm. Berichten über heutige wunderhafte Vorgänge begegnen wir verständlicherweise mit großem Vorbehalt. Das liegt nicht nur an unserer naturwissenschaftlich-rationalen Prägung, sondern auch daran, dass sich wunderhafte Ereignisse ‚wunderbar‘ vermarkten lassen und der Begriff Wunder inflationär und in profanisierter Weise verwendet wird. Gleichwohl lassen sich sporadisch wunderhafte Ereignisse konstatieren oder zumindest als Wunder deuten (Lourdes, Wunder von Lengede u.a.). – Wundererfahrungen setzen eine Offenheit für wunderhaftes Geschehen voraus. Das ist nur jenseits nüchtern-analytischer Weltdeutung, etwa in einer religiös-mystischen Optik auf die Wirklichkeit, möglich. Die in den Wundertexten angelegte Wunderlogik zeigt konkret, was Wundererfahrungen möglich macht: ein intensives Zusammenspiel bzw. Einswerden von Hoffnung, Glauben und Gebet einerseits und liebend-barmherziger Zuwendung des göttlichen Wundertäters andererseits (→ 1.5; 3.6.2f.).
1.2.4 Wozu sind Wundertexte gut?
Wunder und Wundertexte sind aus mehreren Gründen theologisch unverzichtbar: Erstens, sie transportieren den Glauben an den allmächtigen Schöpfergott, der sich fürsorglich um die Welt und das Leben darin kümmert und selbst aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann. Zweitens, an den Wundern macht sich die eschatologische Hoffnung auf umfassende Erlösung von Leiden, Angst und Vergänglichkeit fest. Drittens, die Wundertexte wirken bis heute als Hoffnungs-, Ermutigungs- und Befreiungstexte. Sie zeigen, dass natürliche, soziale und religiös-moralische Grenzen durch Gottes heilvolle Schöpfermacht aufgebrochen werden können. Sie weiten damit den Horizont dessen, was möglich erscheint, und setzen Handlungsimpulse frei, um die Welt schon jetzt heilvoll zu verändern.
1.2.5 Welche Themen sind mitzudenken?
Tangiert ist mit der Wunderthematik die Frage des Verhältnisses von Theologie und Glauben einerseits und Naturwissenschaft und Vernunft andererseits. Mithin geht es um die Frage des ntl. Weltbilds im Vergleich zum heutigen. Zu betrachten sind weiterhin das antike Medizinwesen, die Außenwahrnehmung Jesu, sein Verhältnis zu anderen Wundertätern sowie die Wunderforschung mit ihren Leitfragen und Ansätzen. Die Frage der Vermittlung von Wundertexten, sprich: Wunderhermeneutik und Wunderdidaktik, runden das Fragetableau ab.
1.3 Vorgehensweise
Das Buch startet mit einführenden Thesen, einer ersten Annäherung an das Phänomen Wunder, einem Überblick über Wundergattungen und der Klärung wichtiger Begriffe (Kapitel 1). Kapitel 2 behandelt historische Fragestellungen (Welt- und Menschenbild, antike Heilkunst, Außenwahrnehmung Jesu, Genese des Wunderglaubens, Wirkung der Wunder Jesu). Kapitel 3 führt in die Wunderforschung von den Anfängen bis heute ein, stellt weiterführende Überlegungen an und bietet eine daraus resultierende Wunderdefinition. Kapitel 4 entfaltet den Inhalt der Wundertexte (Sinnebenen, theologische Aspekte) und entwickelt einzelne Wunderprofile. Kapitel 5 konkretisiert die wundertheoretischen Überlegungen dieses Buches anhand von acht Musterexegesen. Kapitel 6 enthält Überlegungen zur Wunderhermeneutik und -didaktik sowie acht zu den Musterexegesen passende Unterrichtsentwürfe. – Der Serviceteil bietet ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar, ein Schlagwort- und Textstellenregister, eine Übersicht über die ntl. Wundertexte sowie Literaturangaben.
1.4 Einführende Thesen
Kurze Thesen bündeln vorab die wichtigsten Erkenntnisse des Buches; das eigentliche Wunderkonzept wird in → 3.6 und → Kapitel 4 entfaltet.
These 1: Wundererzählungen bieten authentische Jesuserinnerung
Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch reine Mythen oder Märchen. Sie erheben den Anspruch, historisches Geschehen wiederzugeben und Jesu Bedeutung zutreffend zu umschreiben. Sie sind authentische Wiedergabe historischer Begegnungen und Erfahrungen mit Jesus von Nazareth (→ 2.4; 3.5.6).
These 2: Jesu Wunder begründen plausibel den Christusglauben
Historisch plausible Ursache für den ntl. Christusglauben sind wunderhafte Erfahrungen von Bewahrung und Befreiung aus aussichtslosen Situationen. Vor- und nachösterliche Begegnungen erzeugten bei vielen Menschen die Gewissheit, Jesus sei der Messias Israels, der in göttlicher Vollmacht die alten prophetischen Verheißungen erfüllt. Ihm waren alle denkbaren Wundertaten zuzutrauen! Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht sagen (→ 2.4).
These 3: Wunder sind nicht Relikte eines überholten Weltbildes
Im mythisch geprägten Weltbild der ntl. Zeit hatten göttliche Eingriffe ins Weltgeschehen einen festen Platz. Im modernen Weltbild gelten sie als rational nicht erklärbar und damit als unglaubwürdig. Doch gab es rationale Wunderkritik von Anfang an, mythisches Denken gibt es auch heute noch. Damals wie heute gibt es unterschiedliche, einander ergänzende Optiken auf dieselbe Wirklichkeit, die einen Wunderglauben entweder zulassen oder nicht (→ 3.6.2d).
These 4: Wunder folgen einer eigenen, rationalen Wunderlogik
Wunder sind rational nicht erklärbar, sie sind aber nicht irrational1. Sie folgen vielmehr eigenen, rational beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten. Die Wunderlogik lautet: Wunder sind das Ergebnis intensiven Einswerdens von Glauben, Hoffnung und Gebet einerseits und barmherzig-liebevoller Zuwendung des Wundertäters andererseits. Wo dies zustande kommt, werden Wunder möglich (→ 3.6.3).
These 5: Wunder sind spirituell erfahrbare, weiche Fakten
Wunder sind weiche Fakten, die sich wissenschaftlich-rationaler Beweisbarkeit entziehen. Im Bereich spiritueller Erfahrung haben Wunder eine eigene Evidenz. Die Bewertung von Ereignissen als Wunder ist dementsprechend eine Frage subjektiver Deutung und Überzeugung (→ 1.7.9; 3.6.2c).
These 6: Wundertexte provozieren bewusst menschliche ratio
Die Wundererzählungen provozieren den Konflikt mit menschlicher ratio. Sie konfrontieren mit dem (angeblich) Unmöglichen, weiten das Spektrum des Möglichen aus und zeigen, wie das Unmögliche möglich werden kann. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen nehmen den Wundern das Wunderhafte. Nur der Verzicht darauf lässt das Faszinierende des Wunders bestehen (→ 1.5.4; 3.6.2).
These 7: Wundertexte führen ins Zentrum des biblischen Gottesglaubens
Die Konfrontation mit dem Unmöglichen ist zugleich die Konfrontation mit dem biblischen Gottesglauben. Dieser manifestiert sich quer durch die Bibel in göttlichen Wundertaten. Gott sprengt weltliche Grenzen, um seinen heilvollen Plan durchzusetzen. Der Glaube an Gottes Allmacht zieht den Wunderglauben nach sich. Biblische Theologie ist ohne Wunder und Wundertexte unvollständig. – Jesus ist Träger der göttlichen Schöpfermacht; die Wundertexte setzen diese christologische Überzeugung narrativ in Szene. Ohne die Wundertexte verlöre die Botschaft Jesu ihre leiblich-physische Dimension (→ 3.6.1).
These 8: Wundererzählungen enthalten mehrere Sinnebenen
Wundertexte enthalten mehrere Sinnebenen, welche die umfassende Zuwendung Gottes zu den Notleidenden markieren. Zu ihnen zählen die physisch-leibliche, spirituelle, (tiefen-)psychische, sozialkritische, mythisch-kosmische, diakonisch-missionarische, kommunikative und die theologische Ebene. Die Sinnebenen ergänzen einander zu einem umfassenden Textverständnis. Eine Reduktion auf einzelne Sinnebenen wird den Texten nicht gerecht (→ 4.1).
These 9: Wundererzählungen sind theologisch vielschichtig
Wundertexte sind auch theologisch vielschichtig. Sie berühren Themenfelder wie Theo-logie, Christologie, Pneumatologie, Kosmologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Ethik, Soteriologie, Eschatologie sowie Einzelthemen wie Glaube, Nachfolge, Vergebung, Reich Gottes und die Theodizeefrage (→ 4.2; 4.3).
These 10: Wundertexte lassen sich textpragmatisch gruppieren
Die Wundertexte lassen vier Reaktionstypen und Grundeinsichten erkennen: Staunen (Der Wundertäter hilft!), Erkenntnis (Der Wundertäter hat göttliche Vollmacht!), Glaube und Nachfolge (Der Wundertäter verändert das Leben!) sowie Widerstand und Ablehnung (Der Wundertäter darf das!). Diesen Reaktionen und Grundeinsichten lassen sich vier Grundfunktionen zuordnen: Inszenierung göttlicher Fürsorge, Klärung göttlicher Identität, Konstitution von Gemeinschaft und Polarisierung im Sinne endzeitlicher krísis. Dies lässt eine heuristische Einteilung in Fürsorge-, Erkenntnis-, Missions- und Konfliktwundertexte zu (→ 3.6.5).
These 11: Wundererzählungen führen zu den basics gelingenden Lebens
Wunder befreien von dem, was das Leben einengt, und stellen die Grundlagen des Lebens wieder her. Die Texte zeigen, was menschliche Not beendet: spontanes, beherztes Eingreifen, gegebenenfalls unter Durchbrechung etablierter Ordnungen, kurz: engagiertes, tatkräftiges Erbarmen. Wo Gleichgültigkeit, Trägheit und Eigensinn überwunden werden, wird neues Leben möglich (→ 3.6.3).
These 12: Wundererzählungen sind wirkkräftige Befreiungsgeschichten
Die Durchbrechung natürlicher, sozialer und religiös-moralischer Ordnungen befreit von den Grenzen des Alltags. Die Wundertexte weisen auf Gott hin, der das Weltgeschehen heilvoll unterbrechen und aufsprengen kann. Die Wundertaten Jesu signalisieren die globale Befreiung aus Leid und Vergänglichkeit. Die Wundertexte setzen Hoffnung auf umfassende Erlösung in die Welt und ermutigen dazu, die Grenzen des Faktischen zu sprengen und die Welt heilvoll zu verändern. Die Wundertexte inspirieren dazu, die Erwartungen an das Leben maximal nach oben hin zu korrigieren. In alledem liegt ihre dauerhafte Relevanz (→ 3.6.1).
1.5 Was sind eigentlich Wunder?
Der Abschnitt liefert eine erste Annäherung an den Wunderbegriff. Die Wunderdefinition dieses Buches wird unter → 3.6.6 vorgestellt.
Wunder erregen Staunen, denn sie zeigen, was alles möglich ist, und sie wirken heilvoll. Wunder sind wissenschaftlich-rational nicht beweisbare, unverfügbare weiche Fakten. Die Feststellung von Wundern ist Sache subjektiver Deutung. Zu unterscheiden sind ein profan-ästhetischer, ein kontingent-liberativer und ein biblisch-konfessorischer Wunderbegriff. Die semantisch orientierte Definition des Religionswissenschaftlers Ulrich Nanko fängt die Bandbreite des Begriffs ein:
„Das dt. Wort ‚Wunder‘ bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von einem ‚Unerwarteten‘ bis zu der ‚Norm-Überschreitung‘. Die Reaktion auf dieses Ereignis kann einerseits zu Staunen und Bewunderung, andererseits zu Schrecken, Furcht und Angst führen.“1
1.5.1 Biblische Wunderterminologie
Die gr. Sprache kennt unterschiedliche Termini für wunderhafte Vorgänge:
a) Thauma: Der Terminus bezeichnet eine staunenswerte Sehenswürdigkeit oder eine spektakuläre Wundertat. Der Begriff findet im NT keine Verwendung.
b) Areté meint ursprünglich Tugend, kann aber auch besondere Tüchtigkeit oder eine Heldentat umschreiben. Auch dieser Begriff fehlt im NT.
c) Thaumásion beschreibt etwas Staunenswertes oder Wunderbares. Der Terminus ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Mt 21,15).
d) Parádoxon: Etymologisch zielt der Begriff auf etwas, das gegen die Erfahrung steht, und benennt ein unerwartetes, unglaublich scheinendes Ereignis. Auch dieses Nomen ist ein ntl. Hapaxlegomenon (Lk 5,26).
e) Dýnamis: Das Nomen dýnamis bezeichnet eine besondere Kraft- oder Machttat, genauer die göttliche Kraft, die ein Wunder bewirkt (vgl. Mk 6,2; Mt 11,20f.).
f) Semeíon: Der Terminus kennzeichnet vorzugsweise im JohEv Wundertaten als Zeichen, die auf Gottes Handeln hinweisen (vgl. Mk 8,12; Joh 2,11; 20,30).
g) Téras: Das Nomen umschreibt eine außergewöhnliche Erscheinung bzw. ein göttliches (Vor-)Zeichen. Es umschreibt besonders in der Apg in Kombination mit semeíon die Vielfalt wunderhafter Taten und Ereignisse.1
h) Érgon: Das Nomen gehört mit téras und semeíon zu den ntl. Hauptbegriffen der Wundertaten und deutet diese als göttliche Werke (vgl. Mt 11,2; Joh 9,3).
Fazit: Es gibt keine einheitliche ntl. Wunderterminologie; Wunder sind nicht Gegenstand eines theoretischen Diskurses, sondern von Erzählungen.2 Eine Durchbrechung von Naturgesetzen ist mit keinem Begriff impliziert. Das Wort adýnaton ist kein ntl. Wunderterminus; für Gott gibt es aus biblischer Sicht nichts Unmögliches.3
1.5.2 ‚Weiche Fakten‘
Die rationalistische Wunderdeutung deutete im 18. und 19. Jh. die Wunder Jesu als erklärbare harte Fakten und nahm ihnen damit das Wunderhafte; der wissenschaftlich-rationale Wahrheitsbegriff wird ihnen jedoch nicht gerecht. Als weiche Fakten folgen die Wunder einer eigenen, rational beschreibbaren Logik. Sie erschließen sich am ehesten einer religiös-mystischen Weltsicht (→ 1.7.9; 3.2.2; 3.6.2f.).
a) Wissenschaftlich unerklärbare Vorgänge
Für die wissenschaftliche Vernunft sind Wunder eine unmögliche Möglichkeit und daher als Falschbehauptung, Märchen, Mythos, Sinnestäuschung oder Unwahrheit zu werten. Die rationale Erklärung macht die Wundertexte zwar glaubwürdig, nimmt ihnen aber das Wunderhafte bzw. führt zu ihrer Ent-Wunderung.
Beispiele: Die unerklärliche Gesundung von eigentlich unheilbarer Krankheit gilt als ‚Spontanheilung‘.1 Die Etikettierung macht deutlich, dass der Vorgang medizinisch nicht erklärbar ist. – Krankheitsbilder, für die es (bislang noch) keine erklärbare Ursache gibt, gelten als ‚idiopathisch‘ (wörtlich: ohne erkennbare Ursache, selbstständig), was ebenfalls Rätselhaftigkeit andeutet.
b) Ereignisse mit eigener Kausalität
Wunder sprengen mit ihrer unverfügbaren Kontingenz die Logik naturwissenschaftlich-rationaler Kausalität. Die religiös-mystische Logik und Kausalität der Wunder besagt, dass nachhaltiger Glaube, intensives Gebet und konzentrierte Hoffnung im Zusammenspiel mit göttlicher, liebend-barmherziger Zuwendung Wunder bewirken können. Mystisch daran ist, dass menschliche Verfasstheit und Gestimmtheit mit göttlicher Verfasstheit und Gestimmtheit eins werden.
Beispiele: Blutflüssige Frau (Mk 5,25–34parr.), blinder Bartimäus (Mk 10,46–52parr.) und Lazarus (Joh 11) sind Beispiele für die beschriebene Wunderlogik. Laut Mk 2,5; 5,34; 10,52 u.a. ist der Glaube die wunderwirkende Kraft. – Mt 17,20 spricht selbst unscheinbarem Glauben Wunderkraft zu. – Ein modernes Beispiel ist das ‚Wunder von Lengede‘ 1963: Die Rettung von elf Kumpels aus einem überfluteten Stollen lässt sich als Zusammenwirken intensiver Gebete, nachhaltiger Rettungsbemühungen und einem göttlichen Wunder werten.
Wunder können aber auch spontan geschehen. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Wundern ist die Offenheit für eine religiös-mystische Weltsicht; dem nüchtern-analytischen Blick bleiben Wunder verborgen (→ 3.6.2d).
c) Wunder oder doch eher Zufall?
„Wenn alle Lose einer Lotterie verkauft sind, wird ein Hauptgewinner dabei sein. Für denjenigen, den es trifft, wird es ein Leben lang ein Wunder bleiben […]. Aber die Tatsache, dass es einen Gewinner gibt, ist bei einer fairen Lotterie kein Wunder.“1
Die Feststellung eines Wunders hängt von der persönlichen Wahrnehmung ab. Was in nüchtern-analytischer Optik eine Verkettung glücklicher Umstände, ein Zufall, ist, ist in religiös-mystischer Optik eine heilvolle, wunderhafte Fügung.
Beispiel: Das zitierte ‚Wunder von Lengede‘ ist als Wunder und als glücklicher Zufall zugleich bewertbar. Ob man ein göttliches, rettendes Eingreifen annimmt oder einen Riesenzufall: In beiden Fällen kommt die Unverfügbarkeit des Geschehens zum Ausdruck. Wie es letztlich zu deuten ist, ist objektiv nicht zu entscheiden; für die Betroffenen ist es jedoch ein Fakt – so oder so.
1.5.3 Profan-ästhetischer Wunderbegriff
Dieser weite Wunderbegriff bezieht sich auf staunenswerte Phänomene im nicht-religiösen, allgemein kulturellen Kontext. Ungewöhnlich beeindruckende Naturphänomene, Kunstwerke und technische Errungenschaften, aber auch ‚Wunderkinder‘, die ‚sieben Weltwunder‘ oder die Mondlandung erregen Staunen. Auch rational erklärbare, wiederkehrende Ereignisse, wie z.B. die Geburt eines Kindes, die ‚große Liebe‘, das neu aufblühende Leben im Frühjahr oder eine reiche Ernte, lassen sich als ‚Wunder‘ deuten. Der gr. Terminus thaumásion (Staunenswertes) trifft diesen Wunderbegriff. Die Wirkung profan-ästhetischer Wunder besteht in Staunen, Verwunderung und in der Bereicherung des Weltbildes. Eine religiöse Deutung kann, muss aber nicht erfolgen.1